Nie wieder Port-au-Prince

Haiti Fünf Jahre nach dem Erdbeben kommt der Wiederaufbau voran. Trotzdem entladen sich Enttäuschung und Wut in politischen Unruhen
Ausgabe 05/2015
Demonstration gegen die Regierung von Präsident Michel Martelly: Haitis Hauptstadt am 11. Januar
Demonstration gegen die Regierung von Präsident Michel Martelly: Haitis Hauptstadt am 11. Januar

Foto: Hector Retamal/AFP/Getty Images

Unterhalb von Village Solidarité dröhnen Bagger und der Staub, den sie beim Bau der neuen Straße aufwirbeln, hüllt die Bäume in gespenstisches Grau. In ihrem Haus auf dem Hügel, hoch über Lärm und Dreck, umfasst Miliana Delvard mit beiden Händen ihre Teetasse, während sie von der Katastrophe erzählt, die Haiti vor fünf Jahren heimsuchte. Sie war mit ihren vier Kindern in ihrer Wohnung in Port-au-Prince, als das Erdbeben vom 12. Januar 2010 die Hauptstadt als Schutthaufen zurückließ. „Das Haus fing an zu zittern, und ich wusste nicht, was los war. Da sah ich die Nachbarn hinausrennen, also liefen wir los. Man konnte nichts sehen außer Staub und Rauch. Die Schreie klingen mir heute noch in den Ohren.“ Miliana, 56 Jahre alt, leidet seit dem Inferno unter Bluthochdruck und ist seither nur noch ein einziges Mal nach Port-au-Prince zurückgekehrt. „Nie wieder dorthin, ich habe zu viel Angst. Wenn ich etwas brauche, gehe ich lieber woanders hin.“ Noch immer fürchtet sich ihr 16-jähriger Sohn vor lauten Geräuschen. Die Vorstellung, dass die Kinder zum Wohnen oder Arbeiten in die Stadt müssten, treibt Miliana Tränen in die Augen.

Lamothe muss gehen

Die Siedlung Village Solidarité, in der die Familie heute lebt, hat die Organisation Christian Aid zusammen mit dem haitianischen Hilfswerk GARR errichtet. In Milianas Gefriertruhe lagern tütenweise Eis und Lollis. Mit deren Verkauf verdient sie im Schnitt zehn Dollar pro Woche. Im abschüssigen Garten hinter dem Haus züchtet sie Papayas, Bananen und Auberginen.

Weiter unten am Hügel teilt sich Gabriella Pierre ein Drei-Zimmer-Häuschen mit ihrem Mann und vier Kindern. Die jüngere Schwester kam beim Erdbeben ums Leben, ebenso eine Tante, die gerade aus Frankreich zu Besuch war. Auch Gabriella hat Port-au-Prince den Rücken gekehrt. Schon vor dem Beben habe es in der Stadt ständig Vergewaltigungen und Überfälle gegeben. Es sei jetzt noch schlimmer geworden. Von Village Solidarité schwärmt sie: „Das ist mein Königreich. Wir haben nichts oder nicht viel, aber es ist schön hier.“

In Port-au-Prince sind die Folgen des Bebens, das fast 300.000 Menschen nicht überlebten und mehr als 1,5 Millionen zu Obdachlosen machte, noch unübersehbar. Schuttberge und Ruinen säumen den Champs de Mars, auf dem früher der Nationalpalast stand. Jeeps der Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen sind so allgegenwärtig wie die leuchtend bunten, zusammengeflickten Tap-Tap-Busse, die sich auf den steilen Straßen an den Schuhputzern und fliegenden Zigaretten- und Rum-Händlerinnen vorbeischieben. Es gibt untrügliche Anzeichen von Erholung. Die Betonhüllen neuer Ministerien wachsen in hölzernen Baugerüsten in die Höhe, an den Stellen, wo die alten eingestürzt waren. Ein Mariott-Hotel ist fast fertig, und Souvenir-Händler halten Ausschau nach Touristen.

Den Wiederaufbau flankiert eine für Haiti nicht ungewöhnliche politische Krise. Zum Jahresende gab es Straßenproteste gegen die Regierung von Präsident Michel Martelly und wegen der bis heute verweigerten Parlamentswahlen, die eigentlich schon 2011 fällig waren. Die Proteste eskalierten, UN-Friedenstruppen griffen zu den Waffen, die Stimmung blieb angespannt. Mitte Januar zündeten rund 1.500 Regierungsgegner in Port-au-Prince Autoreifen an und warfen Brandsätze auf die Bereitschaftspolizei, die mit Tränengas und Wasserwerfern zurückschlug.

Dieser Sturm des Aufbegehrens führte zur Demission von Ministerpräsident Laurent Lamothe, der sich zu Unrecht demontiert fühlte. Während seiner zweieinhalb Jahre im Amt habe das Land „einen tiefgreifenden, dynamischen Wandel zum Wohle seiner Menschen“ durchlaufen. Nicht alle teilen diese Ansicht. Auf einer Schulmauer hat die Wut für ein knappes Manifest gesorgt. „Lamothe ist weg, Martelly ist der Nächste!“

Arroganz und Ignoranz

Was in absehbarer Zeit passieren werde, sei nicht vorherzusehen, meint Pierre Esperance, Geschäftsführer des National Human Rights Defense Network. Wegen der noch immer gestundeten Wahlen dürfte Präsident Martelly per Dekret weiterregieren. „Damit könnte die Lage vollends außer Kontrolle geraten. Denn die Bilanz dieses Staatschef lautet: Arroganz, Korruption, Straflosigkeit und fehlender Respekt vor den Bürgern und demokratischen Institutionen. Das bringt die Leute auf.“ Freilich liege die Schuld nicht allein bei Martelly. „Wären die westlichen Organisationen nach dem Inferno weniger überheblich aufgetreten – hätten sie stattdessen mehr auf die Einheimischen gehört, wäre Haiti in einem besseren Zustand. Wenn westliche Ausländer in Dritte-Welt-Staaten kommen, denken sie immer, sie wüssten alles besser. Auch wenn du ein Experte für humanitäre Hilfe bist, bist du es nicht gleich überall. Jedes Land hat seine eigene Realität.“

Ex-Premier Lamothe argumentiert, der Wiederaufbau Haitis nach der „Apokalypse“ eines Erdbebens, „das uns buchstäblich um 50 Jahre zurückgeworfen hat“, sei für die Regierung Martelly eine kaum zu bewältigende Aufgabe gewesen. Weder habe es beim Amtsantritt des Präsidenten im Mai 2011 Geld für eine gezielte Katastrophenhilfe gegeben noch konnte sich Martelly auf Rückhalt im Parlament und in der politischen Klasse verlassen. Angesichts all dessen habe die Exekutive bemerkenswert gearbeitet: „Die meisten der anderthalb Millionen Menschen, die zunächst notdürftig in Zelten unterkamen, leben heute wieder unter menschenwürdigen Umständen. Der Wiederaufbau ist ein Erfolg. Überall in Haiti sind gewaltige Infrastrukturmaßnahmen im Gang, seien es Wohnungs-, Straßen- oder Brückenbau.“

Lamothe wagt sogar die Aussage, auch die Polizeireform habe für mehr Vertrauen in die Ordnungshüter gesorgt und Haiti zu „einem der sichersten Länder Amerikas“ gemacht. Die von dieser Polizei gewaltsam aus Barackensiedlungen am Rand von Port-au-Prince vertriebenen und damit erneut obdachlosen Familien dürften energisch widersprechen. Doch empören sich die Haitianer nicht allein über die Blindheit der eigenen Politiker.

Die Schuld an der Cholera-Epidemie, die seit Oktober 2010 fast 9.000 Menschenleben gekostet hat und allein im Vorjahr zu 21.000 Neuinfektionen führte, sehen viele bei den Vereinten Nationen. Ein bereits 2012 veröffentlichter Bericht spricht von „starken Hinweisen“ darauf, dass UN-Friedenssoldaten aus Nepal die Seuche eingeschleppt hätten. Um eine Wiedergutmachung für haitianische Opfer zu erstreiten, haben Anwälte drei Verfahren vor US-Gerichten angestrengt, doch weisen die UN jede Schuld zurück.

Pedro Medrano, als Stellvertreter des UN-Generalsekretärs für das Cholera-Hilfsprogramm der Weltorganisation zuständig, räumt ein, dass die Vorwürfe die Arbeit in Haiti erschweren. Auf die Frage, ob er der Beschuldigung zustimme, die Vereinten Nationen würden die „moralische Verantwortung“ für den Ausbruch der Epidemie tragen, bleibt er vage: „Eine moralische Verantwortung besteht in dem Sinn, dass eine große humanitäre Aufgabe vorliegt und wir uns dieser – unserem Mandat gemäß – zu stellen haben. Als internationale Organisation, die vor humanitären Aufgaben wie in Haiti steht, haben wir die moralische Pflicht, ein Teil der Antwort zu sein. Aber nicht im juristischen Sinne.“

Pedro Medrano, der in einem der Verfahren selbst angeklagt ist, sagt, das Ausmaß der Epidemiegefahr im ärmsten Land Lateinamerikas werde unterschätzt: „In Haiti haben wir die höchste Cholerarate in ganz Mittelamerika, doch sind sich viele Geldgeber der Notlage nicht bewusst. Die internationale Gemeinschaft konzentriert sich lieber auf Notlagen in anderen Teilen der Welt.“

Während auf den Märkten in Port-au-Prince und in den Bars des wohlhabenden Vororts Pétionville altbekannte Theorien über eine Verstrickung der USA in die haitianischen Proteste kursieren, sucht Pastor Clément Joseph nach Ursachen in der eigenen Vergangenheit. Er ist Generalsekretär des evangelischen Netzwerkes Mission Sociale des Églises Haïtiennes und sieht ein gut 200 Jahre altes Gefüge der sozialen Ungerechtigkeit als Grund dafür, dass zwei Drittel der Haitianer in extremer Armut leben. Für ihn ist die erste schwarze Republik der Welt bis heute von Sklaverei und Apartheid imprägniert. „Wenn schwarze Haitianer genug Geld haben, benehmen sie sich wie Kolonialherren und wollen den Rest des Landes in Ketten halten. Es mangelt hier seit jeher an moralischen Führungsqualitäten. Hier kaufen sich Leute ein Auto für 100.000 Dollar, obwohl es keine Straßen gibt. Damit fahren sie dann über Müllhaufen und durch Pfützen voller Moskitos. Das ist unmoralisch.“

Als Joseph im Januar 2010 zwei Tage nach dem Beben in Port-au-Prince war, fand er die Leiche eines Freundes, an der ein Hund herum fraß, und sah die Achtung vor dem Leben dahinschwinden. Dennoch blickt er hoffnungsvoll in die Zukunft: „Wir sind ein friedliches und fleißiges Volk – und wir sind großzügig. Wer hat Haiti nach dem Erdbeben am meisten geholfen? Die armen Haitianer vom Lande.“

Refugium auf Dauer

Diesen vorsichtigen Optimismus teilt auch Prospery Raymond, der die Einsätze der Helfer von Christian Aid ausHaiti und der Dominikanischen Republik koordiniert. Wenn zehn Jahre lang konstant in Wohnungsbau, die Gesundheits-, Wasser- und Sanitärversorgung sowie die Bildung investiert werde, könne das Land viel aufholen. Raymond, der nach dem Beben zwei Stunden lang unter den Trümmern seines Büros verschüttet war, ehe Jugendliche aus der Nachbarschaft ihn ausgruben, findet Ansporn in Haitis Geschichte: „Die Welt tut sich schwer damit, Haiti einzuordnen, aber im 19. Jahrhundert waren wir eine schwarze Republik inmitten der westlichen Hemisphäre. Wir haben unsere Freiheit erkämpft – nicht gekauft. Wir verstanden es, danach eine haitianische Sprache zu schaffen und unserer Voodoo-Religion treu zu sein. Und wir sind tolerant geblieben und haben anderen Ländern geholfen, ihre Freiheit zu gewinnen. Man denke an Südamerika und Simón Bolívar.“

Im Gemeindezentrum von Village Solidarité mit seinen fünf Internetrechnern und Plakatwerbung für den lokalen Jugendclub („Wir sind die Zukunft dieses Landes!“) blicken zehn Bewohner des Quartiers in ihre Zukunft. Auf die Frage, wer von ihnen nach Port-au-Prince zurückkehren würde, herrscht Stille. Und wer will hier bleiben? Zehn Hände fahren in die Luft, Lachen bricht aus. Bald sind alle wieder ernst. „Hier stirbt niemand auf der Straße“, sagt eine Frau. „Warum sollten wir zurück wollen?“

Sam Jones ist Reporter des Guardian

Übersetzung: Michael Ebmeyer

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Geschrieben von

Sam Jones | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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