Noch lange nicht vorbei

Aufruhr Der Sturm auf das Kapitol zeugt von einer Wut auf demokratische Institutionen, die in den USA nicht erst seit Donald Trump tief verwurzelt ist
Ausgabe 02/2021
Am Drehbuch für die „Make Amerika Great Again“-Invasion des Kapitols am Mittwoch vergangener Woche wurde seit Jahren vor aller Augen gearbeitet
Am Drehbuch für die „Make Amerika Great Again“-Invasion des Kapitols am Mittwoch vergangener Woche wurde seit Jahren vor aller Augen gearbeitet

Foto: Roberto Schmidt/AFP/Getty Images

Als Susan Bro die Bilder eines Mobs weißer Trump-Anhänger sah, der das US-Kapitol stürmte und die offizielle Auszählung der Wahlergebnisse 2020 stoppte, war sie „stinkwütend“. Überrascht war sie nicht.

Bros Tochter, Heather Heyer, wurde 2017 ermordet, als sie gegen einen Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville, Virginia, demonstrierte. US-Präsident Donald Trump hatte damals auf Heyers Tod mit den Worten reagiert, in Charlottesville habe es „wunderbare Leute auf beiden Seiten“ gegeben. Nach dem Sturm auf das Kapitol, der mindestens fünf Menschen das Leben gekostet hat, wiederholte Trump die falsche Behauptung, der Wahlsieg sei ihm gestohlen worden. Dem Mob beschied er per Video: „Geht nach Hause. Wir lieben euch. Ihr seid etwas ganz Besonderes.“ „So etwas war absehbar“, sagt Susan Bro heute. „Wenn die Leute jetzt sagen: ‚Ich hätte nie gedacht, dass so was passieren würde‘, frage ich mich, wieso nicht? Wie kann man das nicht vorausgesehen haben? Es lief alles darauf hinaus.“

Am Drehbuch für die „Make Amerika Great Again“-Invasion des Kapitols am Mittwoch vergangener Woche wurde seit Jahren vor aller Augen gearbeitet: zuerst bei rechtsextremen Kundgebungen in Städten wie Charlottesville, Berkeley und Portland. Dann, im vergangenen Jahr, in Parlamentsgebäuden im ganzen Land, als schwer bewaffnete weiße Demonstranten sich ihren Weg in die Parlamentsräume bahnten, um Politiker der Tyrannei und des Verrats zu beschuldigen.

Es ist die Geschichte einer Eskalation: Die Demonstranten wurden mutiger, enthemmter, ihre Ziele immer größer. Von Schreiduellen in der Lobby des Parlaments von Michigan bis zur Plünderung des Büros von Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi. Was durch alle Eskalationsstufen gleich bleibt, ist die seltsame Mischung aus notorischen Rechtsradikalen und unbescholtenen Trump-Fans, die hier aufeinandertreffen; dann das auffallend halbherzige und unwirksame Agieren der Polizei; die Bestürzung aufseiten republikanischer Politiker, dass manche ihrer Anhänger als Reaktion auf ihre wiederholten Lügen zur Tat schreiten; und schließlich das Verhalten Trumps selbst, der offen die Gewalt anfacht, und dann, wenn sie außer Kontrolle gerät, Lob verteilt, anstatt sie zu verurteilen.

Dieses politische Drehbuch gründet auf einer Annahme: Straffreiheit. Für die meisten von Trumps Unterstützern gab es bis jetzt keinerlei Konsequenzen, ganz egal, wie rechtswidrig ihre Handlungen auch gewesen sein mögen. Dasselbe gilt für Trump selbst. Es sei höchste Zeit, dass Amerika das ändere, findet Susan Bro: „Diese Leute müssen endlich zur Rechenschaft gezogen werden, sonst werden sie es immer weiter versuchen.“

Autokorso und Volksgericht

Der Mob, der am vergangenen Mittwoch den Senatssaal in Washington stürmte, wirkte nicht wie eine disziplinierte rechtsradikale Truppe, sondern eher wie „ein zufällig zusammengewürfelter Haufen“, sagt der Experte für Bürgerwehren und Milizen, Hampton Stall. Da waren bekannte Neonazis, die schon in Charlottesville demonstriert hatten, Anhänger der QAnon-Verschwörungstheorie und Mitglieder von Milizen wie den Oath Keepers oder der rechtsextremen Straßenkampfgruppe Proud Boys. Andere wirkten wie Trump-Fans, „Leute, die dem anhängen, was Trump für sie bedeutet, was auch immer das sein mag“, sagt Stall.

Es ist ein explosiver Mix, der sich in den vergangenen Monaten immer wieder zusammenfand: bei Demos gegen den Lockdown, bei MAGA-Autokorsos oder Protesten gegen angebliche Wahlfälschungen. Die erste große Kundgebung fand im Januar 2020 in Virginia statt, wo die Demokraten nach ihrem dortigen Wahlsieg versprochen hatten, strengere Waffengesetze zu beschließen. Rund 22.000 Menschen, viele von ihnen bewaffnet, demonstrierten daraufhin vor dem Parlament in Richmond. Junge Männer trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Make politicians afraid again“, jemand baute auf der Straße eine Modell-Guillotine auf. Derweil twitterte Trump seine Unterstützung: „Das passiert, wenn man die Demokraten wählt“, schrieb er: „Sie nehmen dir deine Waffen weg.“

Die Idee, dass demokratisch gewählte Politiker „Tyrannen“ seien, denen man nicht gehorchen dürfe, fand im Laufe der Corona-Pandemie unter rechten Amerikanern immer mehr Zustimmung. Es gab wütende Proteste vor Bundesparlamenten von Michigan über Idaho bis Kalifornien, wo es hieß, Gesundheitsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus seien inakzeptable Eingriffe in die Freiheit, die Polizisten, die die Demonstranten zurückhielten, seien „Verräter“. In diesen Protesten wuchs die militante „Boogaloo Bois“-Gruppe, die von einem bevorstehenden Bürgerkrieg besessen ist. Währenddessen tweetete Trump gegen die demokratischen Gouverneure in diesen Staaten: „Befreit Michigan!“, schrieb er, und: „Befreit Virginia!“

Im Herbst klagte die Bundesstaatsanwaltschaft mehrere bewaffnete Milizionäre an. Sie hätten geplant, die demokratische Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, zu entführen und wegen Hochverrats vor Gericht zu stellen. Trump reagierte auf die Nachricht, indem er Whitmer auf Twitter weiter beleidigte.

Als Trump dann die Präsidentschaftswahl 2020 verlor, weigerte er sich, seine Niederlage einzugestehen, und setzte stattdessen wilde Verschwörungstheorien über Wahlbetrug in die Welt. Er forderte seine Anhänger auf, an „Stoppt den Wahlbetrug“-Protesten teilzunehmen – sie folgten seinem Aufruf im ganzen Land. Die Idee, das US-Kapitol zu stürmen, um die dort laufende Bestätigung der Wahl zu verhindern, kursierte unter Trump-Anhängern schon lange vor dem 6. Januar. Die Randale-Pläne wurden seit Wochen öffentlich in den sozialen Medien verbreitet. Trump selbst versprach, der Protest am Mittwoch würde „wild“ sein.

Weniger klar war, ob die Eindringlinge überhaupt einen Plan hatten, was sie tun würden, wenn sie einmal das Kapitol gestürmt hatten. Trotzdem wirkten sie organisierter als die Sicherheitsbehörden. Die Kapitol-Polizei schien nicht auf eine Stürmung des Gebäudes vorbereitet. Dort, wo man Reihen von Polizeibeamten in voller Montur erwarten würde, zeigen Filmaufnahmen vereinzelte Polizeioffiziere vor einer zahlenmäßig überlegenen, sie überrennenden Menge.

Reporter, die über die „Black Lives Matter“-Proteste des vergangenen Jahres berichtet hatten, stellten die krasse Diskrepanz zwischen der Art fest, wie die Polizei mit weißen Pro-Trump-Putschisten umging und wie sie gegen Afroamerikanerïnnen vorgegangen war, die gegen tödliche Polizeigewalt protestiert hatten. Der CNN-Reporter Omar Jimenez schrieb: „Während der Proteste in Minneapolis in diesem Sommer habe ich mehr Verhaftungen gesehen als bei der Stürmung des US-Kapitols.“ Für die Aktivistin Emily Gorcenski aus Charlottesville hat die Polizei zur Eskalation der rechten Gewalt beigetragen. „Die Weigerung der Polizei, das Gesetz in der gleichen Weise gegen Neonazis und Pro-Trump-Demonstranten durchzusetzen wie gegen linke Demonstranten, hat dieser Art von Verhalten die Tür geöffnet.“

Die Wut und Verachtung gegenüber demokratischen Institutionen und der gewählten Regierung, die die Trump-Anhänger an den Tag legten, kommt nicht von ungefähr: Sie ist in der amerikanischen Kultur verwurzelt. Dazu wurde sie aber auch von der Republikanischen Partei aus machttaktischen Gründen seit Jahrzehnten genährt.

Doch die Harvard-Politikwissenschaftlerin Joan Donovan sagt: Die Wut der Trump-Fans sei auch die „Folge von Desinformation im großen Stil“. Für Amerikaner, die sich auf rechtsgerichteten Webseiten und kleinen Ausschnitten der sozialen Medien informieren, verlange die derzeitige Lage dramatische Schritte. „Wenn man in einem Medien-Ökosystem lebt, wonach die Wahlen in vier bis sechs Bundesstaaten durch manipulierte Stimmzettel, durch Absprachen oder kommunistische Algorithmen gefälscht wurden, wenn man dann irgendwann davon überzeugt ist, dass es massive Wahlfälschungen gab, wird es zur Pflicht, die Demokratie zu verteidigen.“

Twitter fand QAnon lange okay

Nicht nur das: Einige der Demonstranten waren nicht einfach nur darüber wütend, dass ihnen der Wahlsieg angeblich gestohlen worden war. Videos zeigen Trump-Unterstützer, die Hunderte Dollars ausgaben, um zur Kundgebung in Washington zu fliegen, und dort sagten: „Wir kämpfen hier gegen Pädophile.“ Offensichtlich nahmen sie die QAnon-Verschwörungstheorie für bare Münze, wonach die Führungsriege der Demokratischen Partei Kinder foltert.

„Twitter schafft es, IS-Propaganda von seiner Plattform zu verbannen, aber QAnon haben sie gedeihen lassen. Facebook und Youtube genauso“, kritisiert der Experte für Verschwörungstheorien, Travis View. „Die großen Tech-Unternehmen haben entschieden, dass diese Inhalte auf ihren Plattformen akzeptabel seien. Jetzt sterben Leute, die Demokratie bröckelt.“

Eigentlich sage QAnon voraus, einige Helden, darunter Trump, würden am Ende die Welt retten, so View. „Aber es war abzusehen, dass es einen Punkt geben würde, ab dem diese Leute nicht mehr an den Plan glauben und das Gefühl entwickeln würden, dass sie die Sache selber in die Hand nehmen müssten. Das war immer die Sorge: dass sie einfach die Geduld verlieren. Wenn sie die Geduld verlieren, machen sie Dinge, wie das Kapitol zu stürmen.“

Für Charlottesville-Aktivistin Gorcenski sind auch die Mainstreammedien mitverantwortlich. Sie hätten deutlicher über die offensichtliche Bedrohung berichten müssen: „Die Medien haben sich geweigert, das Problem des weißen Rassenwahns als solches zu benennen, sie haben sich geweigert, Faschismus auch Faschismus zu nennen. Sie bestanden darauf, scheinbar ‚ausgewogen‘ zu berichten. Das hat diese Gruppen geschützt“, kritisiert Gorcenski.

Die Politik habe ebenfalls versagt, sagt sie: „In dem Augenblick, als Donald Trump sagte, ,da waren wunderbare Leute auf beiden Seiten‘, hätte seine Präsidentschaft am Ende sein müssen.“ Die Tatsache, dass es keine ernsthaften Versuche gab, Trump für Charlottesville zur Verantwortung zu ziehen, „zeigt, wie schwach unser Regierungssystem bei der Bekämpfung von weißen Rechtsradikalen und Rassisten ist“.

Die Historikerin Ruth Ben-Ghiat schrieb am vergangenen Mittwoch: „Wenn das keine ernsten Konsequenzen für alle Abgeordneten und Beamten der Regierung Trump haben wird, die das unterstützten, und für jedes kollaborierende Mitglied der Kapitol-Polizei, wird diese ‚Strategie der Störung‘ 2021 eskalieren.“

Inzwischen, sagt der Experte für Bürgerwehren, Hampton Stall, planen Milizgruppen bereits Aktionen für den Tag der Amtseinführung des neuen Präsidenten. „Das Ganze ist noch lange nicht vorbei.“

Lois Beckett ist USA-Reporterin des Guardian

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Lois Beckett | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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