Noch nicht am Ziel

10:10 Im vergangenen September hat der "Guardian" die Klimaschutzkampagne "10:10" mit angeschoben. Was ist daraus bisher geworden? Eine Zwischenbilanz

In einem bescheidenen, zweigeschossigen Büro, das sich in einer Seitengasse im Stadtteil Camden im Londoner Norden versteckt, steht auf einer schwarzen Tafel mit leuchtend weißer Kreide eine kuriose Namensliste: Sienna Miller, die Londoner U-Bahn, das Kaufhaus Marks Spencer, die Oxford University, der Londoner Stadtteil Tower Hamlets, die Royal Mail, der Rettungsdienst von Yorkshire, die Regierung von Nepal. Wie es sich mit den Koalitionen derer, die guten Willens sind, nun mal verhält, so ist auch diese an Vielfalt kaum zu übertreffen.

Eugenie Harvey, die Direktorin der Kampagne 10:10, zeigt mit unverhohlenem Stolz auf die Liste. „All diese Namen haben sich gerade erst innerhalb einer Woche unserer Kampagne verpflichtet“, sagt sie. „Solche Momente sind ein enormer Ansporn.“

Ziel der Kampagne 10:10 ist es, den CO2-Ausstoß in Großbritannien und auch andernorts bis Ende 2010 um 10 Prozent senken. Ausgedacht hat sich das Ganze die Regisseurin Franny Armstrong, die in Großbritannien unter anderem für ihre Umwelt-Apokalypse The Age of Stupid bekannt ist. Sie stellte ihr Projekt im September vergangenen Jahres in der Tate Modern vor, im Januar fiel der Startschuss, nun ist Halbzeit für 10:10. Die Kampagne will Einzelpersonen, Organisationen, Firmen und auch Regierungen dazu bringen, dass sie versprechen, ihren CO2-Ausstoß bis zum Jahresende um 10 Prozent zu verringern. Die Kampagne setzt bewusst auf diese unmittelbare Geste, die einfach zu verstehen und machbar ist. Inzwischen wurde die Kampagne in 40 Ländern aufgegriffen, neben dem UK auch Nepal, Frankreich, Deutschland, Ghana und Neuseeland.

Wachsende Teilnehmerzahl

Eugnenie Harvey sagt, es ginge vor allem darum "Signale an die Entscheidungsträger auszusenden" – dass CO2-Reduktionen möglich sind und es sich lohnt, dieses Ziel weiter zu verfolgen. "Die Kampagne soll sowohl das Verhalten als auch die Einstellungen verändern. Wir hatten zu Beginn einen gewaltigen Ansturm an Teilnehmern und das hat seither nur noch zugenommen. Weltweit haben sich bislang 3.000 Firmen und 80.000 Einzelpersonen der Kampagne angeschlossen. Im Vereinigten Königreich haben sich inzwischen rund 45 Prozent aller Gemeinden auf unsere Ziele verpflichtet."

Doch den Hauptpreis zog die Kampagne laut Harvey im Mai, drei Tage nachdem sich die neue Regierungskoalition gebildet hatte, als David Cameron erklärte, die Zentralregierung werde sich darauf verpflichten, innerhalb von 12 Monaten ihre CO2-Bilanz um 10 Prozent zu reduzieren.

„Alle, die das für unbedeutend halten“, erklärte Cameron seinem Publikum, „sollten daran denken, dass der öffentliche Sektor in Großbritannien eine schlechtere CO2-Bilanz hat als die gesamte Abfallwirtschaft. Wenn wir das machen, dann werden wir die Energiekosten der Regierung um mehrere hundert Millionen Pfund reduzieren.“

Geldsparen als Argument

Camerons Rede brachte eine Lektion auf den Punkt, die auch die Organisatoren der Kampagne in den vergangenen Monaten gelernt haben. „Anstatt über die Tonnen von C02 zu sprechen, die eingespart werden, sollten wir sagen, wieviel Geld gespart werden kann“, erklärt Harvey. „Wir haben herausgefunden, dass die Ergebnisse von „CO2-Rechnern“ den Leuten nicht genug sagen.“

Geldsparen kann jedoch nur ein Teil der Botschaft sein, meint Ed Gillespie, der zu den Gründern der Londoner Kommunikationsagentur Futerra zählt, die für Nachhaltigkeit wirbt. „Es ist nicht ideal, sich nur darauf zu konzentrieren, dass sich Kosten sparen lassen: Ich sage immer, dass der Geldfaktor nur schwache Veränderungen motiviert.“

10:10 konzentriert sich deshalb darauf, einen Gemeinschaftssinn herzustellen und damit das anzuzapfen, was Harvey „die Malaise der westlichen Gesellschaft: die Atomisierung“ nennt. „Wir wollen zeigen, dass es Endorphine freisetzen kann, wenn man seinen Beitrag gemeinsam mit anderen leistet und die gleichen Ziele teilt. Dass einen das glücklich machen kann.“

Ein halbes Jahr kann jeder Kampagne wie ein sehr langer Zeitraum vorkommen, doch in diesem Fall war er angesichts des aktuellen Klimas für eine Umweltschutzgruppe besonders lang. In die ersten sechs Monate fiel zunächst die Enttäuschung über das Scheitern des Gipfels in Kopenhagen, es folgten die Nachwirkungen des Skandals um die gehackten E-Mails an der Universität von East Anglia. Harvey zufolge hatten diese Zwischenfälle jedoch überraschend wenige Auswirkungen auf den Fortschritt der 10:10 Kampagne.

Die Folgen von Kopenhagen

„Seltsamerweise hat das Scheitern von Kopenhagen uns sogar ermutigt, denn es hat uns bewiesen, dass wir nicht überflüssig sind. Ganz ähnlich war auch Climategate kein Sargnagel, wie manche es prognostiziert hatten. Der Skandal ist längst nicht in dem Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen, wie viele dachten. Ich glaube, die Details der Affäre waren für die meisten Leute zu fachidiotisch, als dass sie sich darüber Gedanken gemacht hätten. Was ich in den vergangenen sechs Monaten hingegen feststellen konnte – und ich würde sagen, dass das am Scheitern von Kopenhagen liegt – ist, dass die Mittelbeschaffung schwieriger geworden ist. Ich glaube, dass viele Geldgeber seit Kopenhagen gebrannte Kinder sind und glauben, dass die Leute sich nicht von Reduktions-Zielen und politischen Verpflichtungen überzeugen lassen.“

Harvey ist selbstredend überzeugt, dass 10:10 ihr Geld Wert ist. Seit Beginn der Kampagne wurde nach ihren Schätzungen die Einsparung einer halben Tonne CO2 zugesagt. Dass entspricht der jährlichen CO2-Bilanz von 50.000 Briten. „Die Kosten der Kampagne belaufen sich bislang auf etwa 440.000 Pfund (rund 526.000 Euro), größtenteils Ausgaben für das Personal. Das würde bedeuten, dass uns jede Tonne CO2, die eingespart wird, 80 Pence (rund 96 Cent) kostet.“

Nicht mit dem Finger auf jemanden zeigen

Gillespie zollt 10:10 Anerkennung dafür, dass die Kampagne sich erfolgreich „in alle Richtungen ausstreckt und nicht nur offene Türen einrennt“. Doch was ist mit dem hartnäckigsten Kritikpunkt – dass die Kampagne nur Verpflichtungen einholt, anstatt Beweise einzufordern, dass die CO2-Bilanz effektiv reduziert wurde? "Wir wollen keine Namen nennen und auf keinen Fall mit dem Finger auf diejenigen zeigen, denen es nicht gelingt, ihren Verpflichtungen gänzlich nachzukommen", sagt Harvey. "Wir arbeiten mit Zuckerbrot, weniger mit der Peitsche. Gerade bei öffentlichen Organen sind wir der Ansicht, dass das ausreichend ist, um sie motivieren, denn sie müssen doch sowieso Rede und Antwort stehen und jährlich detailliert ihre Bilanzen veröffentlichen. Aber wir bieten Organisationen auch die Möglichkeit, dass wir ihnen dabei helfen zu bemessen, ob sie Fortschritte machen oder nicht. Unsere Aufgabe ist es, die Organisationen davon zu überzeugen, dass sie ihren Verpflichtungen nachkommen. Wir halten es da mit Voltaire: 'Das Bessere ist der Feind des Guten.'"

Und sie persönlich? Wie weit ist Harvey dabei gekommen, ihre eigene CO2-Bilanz zu reduzieren? "Die größte Wirkung erziele ich wohl damit, dass ich weniger fliege", sagt sie. "Früher bin ich einmal im Jahr nach Australien geflogen, um meine Familie zu sehen. Inzwischen fliege ich nur etwa alle zwei Jahre und bleibe dann drei Monate dort. Für unsere Angestellten gilt eine Zero-Flight-Politik, was alle Angelegenheiten rund um die Kampagne betrifft. Wir haben festgestellt, dass manche nach jeder Entschuldigung suchen, die sie nur finden können, um sich darum zu drücken, ihren Beitrag zu leisten. Und wir können es uns nicht leisten, der Ausreden-Maschine Futter zu geben."

Mehr Informationen zu der Kampagne gibt es hier.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Leo Hickman | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

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