Nachdem US-amerikanische TV-Sender endlich die Wahl Joe Bidens zum Präsidenten vermeldeten, entstanden auf den Straßen vieler US-Städte spontane Partys. Von New York bis Houston, von Louisville bis Minneapolis trafen sich Demokraten um ein Ereignis zu feiern, das sie vier Jahre lang ersehnt hatten: Donald Trumps Zeit ging zu Ende. Der Bann war gebrochen, der Groschen gefallen.
Zweifellos hatten sich die USA einen Moment der Erleichterung und des Feierns verdient, aber Trumps toxische Präsenz wurde noch nicht eliminiert. Letztendlich war das Wahlergebnis nicht so knapp, wie es im ersten Moment dieser enervierenden Mittwochmorgenstunden schien, und doch wählten mehr als 70 Millionen Amerikaner den Amtsinhaber – mehr als Hillary Clinton für sich gewinnen konnte, als sie 2016 das sogenannte „popular vote“, das landesweite Wahlergebnis unter der Bevölkerung, gewann.
In der Woche vor dem Wahltag bestand eine weit verbreitete Hoffnung, das Ergebnis würde sowohl Trump als auch dem Trumpismus eine Absage erteilen. Niemand erwartete von seiner Hardcore-Basis, dass sie abtrünnig werde. Aber es gab Anlass zum Glauben, dass jene Wähler, die Trump Clinton vorzogen, ihre Entscheidung überdenken würden, nachdem sie die desaströse Handhabung der Pandemie, die zahllosen rechtlichen und ethischen Übertritte und die offenkundige Ablehnung der Rituale des höchsten Amtes von Ersterem gesehen hatten. Die Experten legten den Fokus auf dieses hypothetische Kontingent angewiderter Wähler*innen und sagten eine massive Abwanderung vorher, ausgelöst von Trumps verwerflichem Charakter. Die republikanische Politstrategin Sarah Longwell berichtete, Trump würde nun endlich die Gunst weißer Vorstadtfrauen verlieren, weil „der, den sie sahen, war jemand, der Menschen laufend unterbrach, schrie und irgendwie, um es vorsichtig auszudrücken, manisch schien.“
Es geschah nicht. Trump gewann im Vergleich zu 2016 etwa 8 Millionen Stimmen dazu. Laut Wähler*innenumfragen und Vorwahluntersuchungen scheint er sein Ansehen unter Asiat*innen, PoC, Lateinamerikaneri*innen, Muslim*innen und sogar weißen Frauen verbessert zu haben. Jene weiße Frauen, über die man ständig sagte, dass sie doch von seinem Sexismus und seinen Aggressionen abgestoßen sein müssten. Wenn die Trump-Wahl wirklich ein Test der moralischen Standards in den USA gewesen sein soll, hat das Land diesen Test nicht bestanden.
Nicht trotz, sondern wegen
Was können wir nun über die Wähler*innen sagen, die bei Trump geblieben sind? Zunächst: Es gab kein widerwilliges Nase-zu-Halten. Es ergibt keinen Sinn zu behaupten, Menschen hätten „trotz allem“, trotz seiner negativen Eigenschaften für Trump gestimmt – diese Eigenschaften machten ganz klar einen überwiegenden Teil seiner Anziehungskraft aus. Es mag beruhigend sein, wenn man „Populismus“ als etwas imaginiert, wo charismatische Politiker*innen den Verzweifelten und Naiven die Welt versprechen. Erfrischend hingegen ist die Feststellung, dass Trump-ähnliche Figuren – die das Establishment skandalisieren und dessen Regeln fröhlich brechen – in einer Demokratie immer dann auftreten, wenn der akzeptierte Korridor an Ideen und Politiken enger wird. An so einem Punkt ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Herausfordern dieses überparteilichen Konsenses sehr attraktiv, sogar aufregend subversiv erscheint. Es wird immer eine Marktlücke für Politiker*innen geben, die versprechen, dass sie die Politik wieder politisch machen werden.
Und solange die Demokraten davor zurückschrecken, jene Verteilungsmaßnahmen zu ergreifen, die nötig wären, um die eklatanten Ungleichheiten anzugehen – in einem Land, in dem sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als verdoppelt hat – solange wird es immer eine Chance für die trumpistische Rechte geben, sich als Lösung für ein kaputtes System zu präsentieren, als Alternative sowohl zu Biden als auch zu dem republikanischen Senatsführer Mitch McConnell.
Von Trumps Wirtschaftspolitik profitierten überdeutlich die reichsten US-Amerikaner, aber beim Thema Wirtschaft führte er bis zur Pandemie die Umfragen an. Laut Vorwahlumfragen war die übergroße Mehrheit der Wähler*innen, die die Wirtschaft als wichtigstes Thema einschätzten, für Trump. Das ist ein Triumph der Kommunikation, nicht der Politik. Dennoch sind die Amerikaner außerordentlich unzufrieden mit dem Zustand ihres Landes, und Bidens Botschaft des Wandels muss lauter und schärfer werden – oder ein neuer Trump steht bald in den Startlöchern.
Vergangenes Jahr geriet Biden in Schwierigkeiten, weil er einer Gruppe wohlhabender Geldgeber versicherte, dass die obszöne Einkommensungleichheit zwar behoben werden müsse, weil sie „Nährboden für politische Zwietracht und grundlegende Revolutionen“ sei, dass sie aber beruhigt sein könnten, weil unter seiner Aufsicht „niemand bestraft werden müsse. Niemandes Lebensstandard wird sich ändern, nichts würde sich grundlegend ändern.“
Wir können PoC, Frauen und sogar den „kleinen Mann“ der Mittelklasse feiern, der mit dem Amtrak-Zug direkt ins höchste Amt des Landes fährt – all das ist nicht nichts. Aber wenn nichts „grundlegend“ geändert werden muss, sind das nur rhetorische Verzierungen desselben alten, wackeligen Fundaments. Wer auch immer dieses sehr diverse Fundament als nächstes herausfordert, wird viel Zuspruch erhalten, sogar dann, wenn diese Herausforderung von Trump und seinen Jüngern kommt, die nicht still aus den lauten US-amerikanischen Medien verschwinden werden.
Millionäre gegen Milliardäre
Tatsächlich war es nur die verrottende Selbstgefälligkeit der amerikanischen Mainstream-Politik, die Trump erfrischend erscheinen ließ. In einer Welt ohne eklatante Unterdrückung und Entrechtung der Wähler hätten Trumps kriminelle Machenschaften vielleicht mehr Besorgnis hervorgerufen. In einer Welt, in der Wahlkampagnen nicht daraus bestehen, dass Millionäre gegen Milliardäre antreten; in der es nicht riskant ist, ehrlich über die eklatanten strukturellen Ungleichheiten des Landes zu sprechen, wären Wähler*innen vielleicht nicht auf die Idee gekommen, dass Trumps plumpe Beleidigungen ihn zu einem Klartexter machen.
Diese Indizien gab es die ganze Zeit. Longwell, die Trumps schwindende Anziehungskraft bei Frauen in Vorstädten hervorhob, berichtete auch, dass dieselben Wähler*innen ihrer Untersuchung zufolge das Vertrauen sowohl in die Medien als auch in die politischen Institutionen verloren haben. „Sie schlagen oft die Hände über den Kopf zusammen und sagen: Ich weiß einfach nicht, was ich glauben soll“, sagte Longwell gegenüber NPR. „Es gibt einfach so eine Art totalen Zusammenbruch des Glaubens an irgendetwas.“
In diesen stagnierenden Sumpf kam Trump, um den Dreck aufzurühren. Seine Inkohärenz wurde als eine Art ungeübte Ehrlichkeit angesehen, seine Ignoranz als ein Zeichen von Zugänglichkeit, seine Niederträchtigkeit als ein Zeichen seines Kampfgeistes. Er war nicht nett, aber er wollte die Dinge aufrütteln.
Der Schock von 2016 und das Trauma der vergangenen vier Jahre hat die späte Besorgnis über den zerbröckelnden Zustand der amerikanischen Demokratie noch verstärkt; sie hat einen Alarm ausgelöst, der seit Jahrzehnten überfällig war. Zu viele Wähler schauten auf Trump und sahen keinen Irren, sie sahen einen Mann, der bereit war, die Regeln eines kaputten Systems zu brechen. Solange sich das nicht grundlegend ändert, ist noch viel Irrsinn auf Lager.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.