Nur ein frommer Wunsch

Westbank In den Gebieten der „Area C“ nistet viel Kriminalität. Abhilfe wäre möglich, wenn die israelische Armee mehr Rechte auf die palästinensische Polizei übertragen würde

Wenn es in Israel stets von Neuem heißt, Sicherheit genieße absolute Priorität, kann damit nicht an „Area C“ gedacht sein, jenes Territorium, das 60 Prozent der Westbank umfasst, seit den Oslo-Verträgen von 1993 unter israelischer Militärhoheit steht und unter den Augen einer modernen Armee in die Gesetzlosigkeit abdriftet. Israel könnte die unter Gewalt und Kriminalität leidenden Gebiete stabilisieren und damit eigenen Interessen dienen, würde es mehr Verantwortung an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) übergeben.

Während A-Gebiete wie die Städte Nablus und Ramallah von strenger Aufsicht durch palästinensische Polizei profitieren, sind die C-Zonen berüchtigt für Autodiebstahl, Drogenhandel und einen wachsenden Einfluss bewaffneter Gangs. Jari Kinnunen, EU-Chefausbilder der palästinensischen Polizei sagt, die Nachlässigkeit der Israelis in den besetzten Gebieten lasse diese zu „Zufluchtsorten für Kriminelle“ werden.

In den von der israelischen Armee beherrschten Teilen Hebrons, in denen traditionelle Clans die Autorität schlechthin verkörpern, sind Familienfehden zuletzt immer blutiger geworden. Der Konflikt zwischen dem Rayf- und der Rajabi-Clan hat in den vergangenen fünf Jahren zehn Menschenleben gefordert. Palästinenser können nicht zu israelischen Soldaten gehen, um Überfälle anzuzeigen oder Streit um die Familienehre schlichten zu lassen. Sondern sie wenden sich an ortsansässige Scheichs, die zu religiöser Rechtsprechung neigen und vorehelichen Geschlechtsverkehr als Kapitalverbrechen ächten.

Tagelange Schießereien

Scheich al-Dschabari, Patriarch einer der ältesten Familien Hebrons, möchte dem Recht Geltung verschaffen, auch wenn das – wie er selbst einräumt – seine Fähigkeiten übersteigt: „Die Kriminellen sind heute stärker, rücksichtsloser und verwegener als früher. Jeder kann sich ein M16-Gewehr oder eine Kalaschnikow besorgen. Ich wünschte mir, die Autonomiebehörde hätte in dieser Stadt das Sagen. Die Israelis jedenfalls beschützen keinen Palästinenser. Wenn es zu einer Schlägerei kommt, sehen ihre Soldaten einfach zu und kommen nicht auf die Idee, energisch einzugreifen.“

Die Palestinian Civil Police (PCP) braucht eine Sondergenehmigung, um in den C-Zonen aktiv zu werden. Und das bei miserabler Koordination. Ein palästinensischer Polizeioffizier muss beim israelischen District Command Office (DCO) um Erlaubnis fragen, ein Gebiet der C-Kategorie betreten zu dürfen. Wenn die Anfrage vorliegt, funkt das DCO die Armee an, die wiederum über diese Instanz antwortet. Gewöhnlich dauert das Stunden und wird durch Sprachbarrieren, Missgunst wie Ineffizienz behindert. Manchmal lautet die Antwort: Nein! Manchmal bleibt eine Reaktion völlig aus.

Es ist ein Running Gag unter palästinensischen Polizisten, dass die Jagd auf Verdächtige bei den rot angestrichenen Grenzsteinen endet. Sie erzählen, Schießereien dauerten manchmal Tage, ohne dass sie etwas tun dürften. Frustrierend für die Autonomiebehörde, weil die eigene Polizei durchaus in der Lage wäre, Sicherheit an allen Orten der Westbank zu garantieren. Schließlich wurde sie als Sicherheitskorps genau dafür über Jahrzehnte hinweg durch Experten aus den USA und der Europäischen Union ausgebildet.

Nablus war eine Hochburg des Schreckens und der Geiselnahmen, bis die Kontrolle 2007 an die PA übergeben war. Heute ist die Stadt ein beliebtes Reiseziel für Touristen und beherbergt die größten Finanzinstitute im Westjordanland. „Es gibt keinen Grund, warum die Palästinenser nicht überall für Sicherheit sorgen sollten. Sie haben die Kapazitäten und das Vermögen dazu“, meint EU-Chefausbilder Kinnunen. Premier Salam Fayyad zieht es denn auch vor, die im Oslo-II-Abkommen vorgenommene Aufteilung der Westbank in A-, B- und C-Territorien bei seinen Zukunftsentwürfen völlig auszublenden. „Die C-Zonen sind integraler Bestandteil des 1967 besetzten Gebiets, auf den wir nicht verzichten werden, um einen palästinensischen Staat zu gründen.“ Fayyad hat Bauvorhaben im Blick, die derzeit für das C-Territorium geplant werden und dazu angetan sind, die Israelis über Gebühr zu provozieren.

Große strategische Bedeutung

Das Ziel Fayyads – „Autorität auf dem gesamten Territorium“ – bleibt im Moment ein frommer Wunsch, da über 300.000 israelische Siedler in „Area C“ leben, deren Schutz für die Regierung Netanjahu höchste Priorität genießt. Ausgerechnet diese israelischen Bürger palästinensischer Kontrolle zu überlassen, würde Reaktionen heraufbeschwören, die an Entrüstung und Wut kaum zu übertreffen wären.

Siedlungsblöcke wie Ariel oder Ma’ale Adumim lassen sich nicht über Nacht zur Disposition stellen, dafür ist die strategische Bedeutung des Jordantals viel zu groß. Die schrittweise Übergabe von Verantwortung an die Polizei der Autonomie-Behörde scheint aber in solchen Teilen von „Area C“ denkbar, in denen nur Palästinenser leben. Auch den Siedlern käme das zugute. Die PA hat bereits vorgeführt, dass sie gewillt ist, gegen Israels Feinde vorzugehen, indem seit 2006 Tausende mutmaßliche Hamas-Agenten verhaftete. Die Militanten, die im August 2010 ein Attentat auf vier Siedler in Kiryat Arba verübten, hätten größere Mühe gehabt, an Waffen zu gelangen und die Netzwerke der Geheimdienste zu umgehen, wenn das Gebiet von der PA kontrolliert worden wäre.

Auch die israelische Armee hält eine andere Aufteilung der Macht für geboten. Mit begrenztem lokalen Hintergrund geschieht dies bereits, Gespräche über eine erste palästinensische Polizeiwache im C-Territorium dauern an. Die Regierung Netanjahu könnte etwas für ihr Image tun, indem sie eine solche Zäsur befördert – sie könnte beweisen, vom Willen der Siedler unabhängig zu sein, was ihrer internationalen Glaubwürdigkeit gut täte. Es würde die Gemäßigten im Regierungslager motivieren, ohne die Extremisten zu provozieren. Die Alternative wäre, die „C-Area“ noch tiefer in Gewalt und Chaos versinken zu lassen.

Kieron Monks ist Guardian-Autor und Redakteur der Internetseite Palestine MonitorÜbersetzung: Holger Hutt

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Kieron Monks | The Guardian

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