Occupy White House

State of the Union Die sozialen Proteste verschaffen Präsident Barack Obama rhetorischen Spielraum in der Konfrontation mit den Republikanern. Aber wird das im November reichen?

Um die Bedeutung von Präsident Obamas State of the Union-Rede zu verstehen, braucht man sich nur anzusehen, wohin er als nächstes unterwegs ist: Zuerst Iowa, dann Arizona, Nevada, Colorado und Michigan: allesamt Swingstates, die er vor vier Jahren – mit Ausnahme Arizonas, der Heimat seines Herausforderers John McCain – ohne große Mühe gewinnen konnte. Es war die Wahlkampfrede eines Amtsinhabers, der sich in der Defensive befindet. Als solche sollte sie an zwei Maßstäben gemessen werden: der traditionellen, hochgradig inszenierten Präsidentenansprache fürs Fernsehen und den Reden, die im Handgemenge des republikanischen Vorwahlkampfs gehalten werden.

Davon hat Obama momentan wenig zu befürchten.Während die Veröffentlichung der Steuerunterlagen Mitt Romneys gezeigt hat, dass der

Multimillionär nur 14 Prozent Steuern zahlt, kann Obama diese Ungerechtigkeit zum Thema machen und sagen: „Aufgrund der Schlupflöcher im Steuersystem zahlen gegenwärtig ein Viertel aller Millionäre weniger Steuern als Millionen von Mittelschichthaushalten.“


Hervorragend vorgetragen

Newt Gingrichs Behauptung, Obama stehe international als Feigling da, begegnet der, indem er zweimal an seinen mutmaßlich größten Erfolg erinnert – die Tötung Osama bin Ladens: „An diesem Tag zählte nur die Mission. Niemand dachte an Politik. Niemand dachte an sich.“ Das heißt, Obama genießt einerseits den Präsidentenbonus und wirkt andererseits neben Leuten wie Gingrich und Romney auch wie der einzig erwachsene Kandidat: „Im vergangenen Jahr wurde das Vertrauen in unsere Wirtschaft nicht von irgendwelchen Ereignissen erschüttert, die sich unserer Kontrolle entziehen“, sagte er in einem Ton, in dem man Schulkinder tadelt. „Am stärksten wurde dieses Vertrauen von einer Debatte darüber erschüttert, ob die Vereinigten Staaten ihre Rechnungen begleichen werden oder nicht. Wer hat von diesem Fiasko profitiert?“

Für eine State-of-the Union-Rede ist das in Ordnung. Dass sie hervorragend vorgetragen wurde, war zu erwarten. Dass Obama aber nicht von wesentlichen wirtschaftlichen Verbesserungen für wesentliche Teile der Bevölkerung berichten konnte, dürfte von seinen Herausforderern gegen ihn verwendet werden. Sie könnten ihn als einen darstellen, der mit der Hoffnung hausieren geht und schöne Worte machen kann, aber letzten Endes keine Ergebnisse vorweisen kann.
Das meiste, was Obama über die Energie-, Außen-, Verteidigungs- und selbst über die Wirtschaftspolitik sagte, hätte ebenso gut von einem moderaten Republikaner stammen können, wenn diese Spezies in der politischen Klasse nicht nahezu ausgestorben wäre. In den prägnantesten Teilen seiner Rede ging es jedoch nicht um das, was in Washington schief läuft. Sie waren vielmehr von den Straßenprotesten geprägt, die den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der amerikanischen Gesellschaft verlagert haben.

Überall die gleichen Maßstäbe

Die Occupy-Bewegung ermöglichte es dem Präsidenten, den Argwohn der Bevölkerung von den Armen auf die Reichen zu lenken und von Verantwortung und Almosen zu sprechen – allerdings nicht in Bezug auf die Armen, sondern in Hinblick auf die Reichen im allgemeinen und die Finanzindustrie im besonderen. An einer Stelle wandte er sich sogar an die 98 Prozent der Bevölkerung, die weniger als 250.000 Dollar verdienen. Man dürfe nie vergessen, so Obama: „Millionen von Amerikanern, die jeden Tag hart arbeiten und sich an die Regeln halten, verdienen eine Regierung, für die das Gleiche gilt. Es ist an der Zeit, dass überall die gleichen Maßstäbe angelegt werden: keine Bankenrettungen, keine Sonderzuwendungen, keine Bevorzugungen. Ein Amerika, das Bestand haben soll, muss von allen verlangen, verantwortlich zu handeln.“

Ob er die Menschen bis November gegen ihre Erfahrung nicht nur davon überzeugen kann, dass die Dinge ohne ihn hätten schlimmer kommen können, sondern auch nur mit ihm besser werden können, bleibt abzuwarten.

Auf der Internetseite des Guardian ist auch die der gesamten Ansprache eingestellt.Abschrift

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Gary Young | The Guardian

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