Das erste, was am Coming-Out-Statement des R&B-Künstlers Frank Ocean auffällt, ist, dass es sich gar nicht wie ein Statement liest. In dem ein paar hundert Wörter langen Text, den der 24Jährige auf seinem Tumblr-Blog gepostet hat, steht nicht etwa etwas in der Art wie: „Ich muss euch allen etwas sagen ... ich bin schwul.“ Vielmehr berichtet er auf bewegende Weise über einen Sommer, in dem er sich hoffnungslos verliebte und die Aufregung, Verwirrung und Aufgewühltheit dieser Zeit: „Ich war neunzehn. Er auch. Wir verbrachten diesen Sommer, und den darauf folgenden, zusammen ...Und an den Tagen, die wir zusammen waren, glitt die Zeit dahin. Den Großteil des Tages sah ich ihn und sein Lächeln. Ich hörte ihn reden und schweigen.“
Jeder, der schon einmal die alles erfassende Wucht erlebt hat, die einen ergreift, wenn man sich in jemanden verliebt, von dem man denkt, dass man es eigentlich nicht sollte, wird sofort etwas mit Oceans Worten anfangen können – mit den Liebeserklärungen unter Tränen, den Versuchen, sich davon zu überzeugen, dass schon alles gut werden wird, während auf den anderen ein anderer Partner wartet. Dass in diesem Fall beide Beteiligten männlich sind, scheint zunächst gar nicht wichtig.
Als zweites fällt auf, dass wir eben doch noch in einer Welt leben, in der es von Bedeutung ist, dass Ocean von einem Mann spricht. Die Welten des Rap und des R&B, in denen Ocean sich bewegt, sind nicht eben dafür bekannt, dass dort tolerant mit Homosexualität umgegangen würde – Eminem rappt in einem seiner Songs „Hate fags? The answer's yes!“, Chris Brown benutzte kürzlich bei einem Streit auf Twitter das Hashtag #homothug.
So früh in ihrer Karriere outen sich wenige
Auch Oceans Bandkollegen vom Hip Hop-Kollektiv Odd Future sind für ihre frauen- und schwulenfeindlichen Texte berüchtigt ( "Come take a stab at it faggot … I pre-ordered your casket" ist nur ein besonders zauberhaftes Beispiel). Aus dem Pop- und Dancebereich haben sich bereits etliche Künstler geoutet, in der macho-orientierten Welt des Rap oder R&B hat bislang noch niemand diesen Schritt getan.
Matthew Todd vom Schwulenmagazin Attitude berichtet, in der dortigen Redaktion sei man über Oceans Tumblr-Post völlig aus dem Häuschen geraten. „Dass jemand sich in so einer frühen Phase seiner Karriere outet, ist ungewöhnlich“, sagt er. Umso wirkungsvoller sei das Ganze, da Ocean zu den heißesten neuen Namen im Music-Business zähle. „Es gibt immer noch viel homophobe Belästigung, wie man an einigen der Twitter-Reaktionen ablesen kann. In den USA passiert aber gerade viel Interessantes. Obama setzt sich für die Homoehe ein, ebenso Jay-Z.“
Beyoncé und Justin Bieber singen seine Songs
Ocean wurde 1987 als Christopher Breaux in New Orleans geboren, seine Mutter zog ihn alleine auf, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Obwohl er also gerade mal Anfang Zwanzig ist, zeigt sein Werdegang, dass er sich in keine Schublade stecken lässt – er hat ebenso Songs für Künstler wie Justin Bieber und Beyoncé geschrieben, wie er auf dem Gemeinschaftsalbum Watch the Throne von Jay-Z und Kanye West zu hören ist. Bei der höchst umstrittenen Truppe Odd Future scheint er sich durchaus zuhause zu fühlen, Ende des Jahres wird er aber auch im Vorprogramm von Coldplay spielen.
Ocean geht als Künstler also seinen eigenen Weg. Für sein Solo-Debut Nostalgia Ultra war er bei Def Jam unter Vertrag, als das Label aber kalte Füße zu kriegen schien, stellte er das Album online. Dort fand es schnell großen Anklang –nicht nur wegen seiner Popmelodien und der Indie-R&B-Produktion, sondern weil es Ocean gelang, Themen aufzugreifen, die sonst im Pop nicht oft mit so mutiger Offenheit behandelt werden. In „There will be Tears“ berichtet er von seiner Traurigkeit über die Abwesenheit seines Vaters und den Druck von außen so zu tun, als mache ihm das nichts aus:("My friends said it weren't so bad./ You can't miss what you ain't had./ Well I can, I'm sad"). In "Swim Good" sang er über Selbstmordabsichten.
Noch weiter ging er mit "We All Try", in dem er seine Meinung zum Thema Abtreibung ("I believe a woman's temple gives her the right to choose") und der Homoehe erklärte ("I believe that marriage isn't between a man and woman, but between love and love").
Das Genre drohte zu Grunde zu gehen
Ende diesen Monats nun wird er das Album Channel Orange veröffentlichen, das Gerüchten zufolge mehrere, an einen Mann gerichtete Liebeslieder enthalten wird. „Hip Hop und R&B sind so unverhohlen maskulin, so starrsinnig heterosexuell, dass ich mir schon vorstellen kann, dass Ocean erst einmal drüber nachdenken musste, bevor er den Aufnahmeknopf drückte und darüber sang, einen Mann geliebt zu haben oder zu lieben“, sagt Urban Music-Journalistin Hattie Collins. „Es ist schon ein Thema. Das ist es aber fast überall in der Popmusik. Man schaue sich einmal an, wie lange der arme alte Stephen Gately [von Boyzone] für sein Coming Out gebraucht hat – und der kommt aus einem der schwulenfreundlichsten Genres überhaupt.“
Dass es Kanye West war, der Ocean zur Mitarbeit an Watch the Throne einlud, liegt übrigens nicht fern. West hat viel dafür getan, dass die Einstellungen im Hip Hop sich ändern und textliche Zwangsjacken abgeschüttelt werden, die in den frühen Neunzigern vom Gangster Rap festgezurrt worden waren. Er hat sich gegen Diskriminierung ausgesprochen und mehr Reflexion in seine Texte gebracht. Wo selbst Bands wie Public Enemy, die gesellschaftliche Missstände anprangerten, noch rappten "Man to man, I don't know if they can/ From what I know the parts don't fit", entfernt sich die neue Hip-Hop-Generation von solcher Homophobie. Der West Coast-Rapper Lil' B nannte sein 2011er-Album I'm Gay (And Happy), der derzeit heiß gehandelte Harlemer MC A$AP Rocky distanzierte sich von seiner früheren „dummen“ Schwulenfeindlichkeit und meinte im Februar, der Hiphop müsse seine „Engstirnigkeit aufgeben“, sonst werde das „Genre daran zu Grunde gehen.“
Homophobie als Provokation?
DJ Sid Da Kid, ein anderes Odd Future-Mitglied, ging gerade mit ihrem Soloprojekt The Internet an den Start und knutscht im ersten Video auf einer Kirmes mit einem Mädchen. Vor diesem Hintergrund wirft die vermeintliche Homophobie von Odd Future umso mehr Fragen auf. Wegen ihrer Texte wurde die Gruppe im vergangenen September aus dem Lineup des australischen Festivals Big Day Out gestrichen, vor ihren Auftritten demonstrieren Organisationen, die sich gehen häusliche Gewalt einsetzen. Wie kann jemand, der homosexuell ist, sich dabei wohl fühlen, mit Leuten auf der Bühne zu stehen, die von „Schwuchteln“ reden? So beleidigend die Äußerungen von Tyler und Co. zu sein scheinen, sind sie doch offenkundig nicht von der selben Boshaftigkeit, mit der etwa Sen Dog von Cypress Hill gegenüber der NME-Journalistin Sylvia Patterson sagte, er „verstehe Schwuchteln nicht...wie kann man keine Pussies mögen?“
Odd Future mögen sich einer Sprache des Hasses bedienen, wollen damit aber lediglich eine ältere Generation vor den Kopf stoßen und provozieren – ihre Texte sind das lyrische Äquivalent zu Sid Vicious Hakenkreuz-T-Shirt. Ihre wirkliche Haltung zu homosexuellen Menschen – dass es egal ist, wen man liebt – kommt vielmehr in ihrem Umgang mit ihren Bandkollegen zum Ausdruck: Tyler The Creator, der Frontmann des Kollektivs twitterte: „Mein Bruder hat es verdammt nochmal endlich getan. Ich bin stolz auf ihn, ich weiß, dass der Scheiß schwierig ist.“
Die Musikwelt ist voll von Leuten, die einfach um der Provokation willen unerhörte und provokante Dinge von sich geben – doch Ocean hat dem Pop gezeigt, wie man wirklich Stellung bezieht.
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