„Aber was sonst können wir machen?” Das fragten viele, nachdem ein Video auftauchte, auf dem zu sehen ist, wie griechische Grenzschutzbeamte versuchen, ein kleines Schlauchboot voller Geflüchteter zum Kentern zu bringen, und es beschießen. Der Vorfall ereignete sich, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einem zynischen Versuch, die EU zur Unterstützung der türkischen Militäroffensive in Syrien zu erpressen, die Grenzen geöffnet hatte. Viele waren vom Vorgehen der Grenzbeamten schockiert. Doch genauso viele beharrten auch darauf, eine solche Reaktion sei notwendig. Die Staats- und Regierungschefs der EU äußerten ihre „Solidarität“ mit Griechenland und beschrieben das Land als das „Schutzschild“ Europas.
So schockierend das Video auch sein mag, es ist nichts Ungewöhnliches an einer solchen Behandlung von Migranten. Es gibt eine lange Geschichte von Angehörigen der libyschen Küstenwache, bezahlt und trainiert von der EU, die auf Migranten schießen. In einem geleakten internen Memorandum der EU wurde im vergangenen Jahr eingeräumt, es sei in Libyen zu einem „profitablen Geschäftsmodell“ geworden, Migranten einzufangen. Viele Milizen und Schleuser geben sich als Angehörige der Küstenwache aus, um EU-Gelder dafür einzufordern, dass sie willkürlich Migranten festsetzen und in Lager sperren. Amnesty International zufolge werden an die 20.000 Migranten von der Regierung, von Milizen und Gangs festgehalten, viele von ihnen auch gefoltert und missbraucht, wofür die Organisation die europäischen Regierungen mit verantwortlich macht.
Und Libyen ist kein Einzelfall. Die EU hat in ganz Nordafrika, der Sahelzone und dem Horn von Afrika eine gewaltige Verschleppungs- und Internierungsindustrie geschaffen. Sie hat Abkommen mit Leuten wie Omar al-Baschir abgeschlossen, dem ehemaligen Staatschef des Sudan, der vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen angeklagt ist. Die Dschanschaweed, eine Miliz, die in Darfur nahezu genozidale Gewalt verübt hat, nennt sich heute die „Schnelle Eingreiftruppe“ und macht Jagd auf Migranten für die EU – anstatt auf Rebellen für Baschir. Niemand weiß, wie viele Migranten bereits von von der EU finanzierten Kräften getötet wurden. Von denjenigen, die ihren Fängen entkommen sind, sind allein in den vergangenen sechs Jahren mindestens 20.000 im Mittelmeer ertrunken.
Das Versagen Politik verändert die Einstellung der Menschen
Wenn wir fragen „Aber was könnten wir sonst tun?“, fragen wir in Wahrheit: „Aber was können wir sonst tun – außer Masseninhaftierung, Folter und Totschlag?“ Wie wäre es, damit anzufangen, Inhaftierungen, Folter und Totschlag abzulehnen? Dies scheint ein naheliegender Schritt, dem sich eigentlich kein anständiger Mensch verweigern kann. Doch allein schon dies würde die Grundfesten der Strategie der Festung Europa untergraben. So moralisch verkommen ist die Politik der EU.
Als nächstes müssen wir darüber nachdenken, wie wir die Debatte für eine liberalere Einwanderungspolitik gewinnen können. Eine Liberalisierung ist nicht ohne Unterstützung durch die Bevölkerung möglich. Das zentrale Dilemma besteht heute darin, dass man mit einer moralischen Einwanderungspolitik wahrscheinlich kein demokratisches Mandat gewinnt – und jede Politik, die die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung hat, wahrscheinlich unmoralisch ist.
Es ist nicht so, dass die Bevölkerung Europas sich zu unmoralischer Politik hingezogen fühlt, sondern vielmehr so, dass die Art und Weise, wie Einwanderung von Politikern und Kommentatoren geframt wird, die Migranten als Eindringlinge darstellt, und die Politik, die sie verfolgen, unvermeindlich zu Feindseligkeiten führt. In Griechenland zum Beispiel gab es 2015 noch große Sympathie für ankommende Migranten. Die Einwohner von Lesbos – der Insel, die am nächsten zur Türkei liegt und auf der sich heute das Internierungslager Moria befindet – haben den Ankommenden viel Hilfe entgegengebracht, ihnen Essen und Kleidung gegeben. Doch das Versagen der EU-Politik hat die Einstellung der Menschen verändert.
Griechenland mag zwar Mitglied der EU sein, wird aber von Brüssel behandelt wie Libyen oder Niger – als Teil eines Grenzgebietes der EU, als ein gigantisches Gefangenenlager, in dem man Migranten verrotten lässt, damit sie für die „Kernländer“ der EU nicht zum Problem werden. Spyros Galinos, bis im vergangenen Jahr Bürgermeister von Lesbos, sagt, die EU „hat uns schutzlos und allein gelassen“. Das habe dazu geführt, dass „Freundlichkeit sich in Wut verwandelt hat“.
Das Problem sind nicht die Zahlen
Auf einer Insel wie Lesbos wird eine unglaubliche Anzahl von Menschen unter verheerenden Bedigungen in Lagern festgehalten, die bei den Flüchtlingen wie bei der dortigen Bevölkerung zurecht für Empörung sorgen. Wenn Europa aber kollektiv Verantwortung übernehmen würde, wären die Zahlen relativ klein.
Mit Ausnahme der Jahre 2015 und 2016 lag die Zahl der Migranten, die ohne Papiere nach Europa kamen, in jedem Jahr unter derjenigen, die mit Papieren ganz legal allein nach Großbritannien kamen. Das wirkliche Problem sind nicht die Zahlen, sondern die Politik, die gewaltige Flaschenhälse schafft, unhaltbare Zustände für Einheimische und Migranten kreiert und das Bild eines Kontinents im Belagerungszustand zeichnet.
Eine liberalere Einwanderungspolitik hat auch mehr Einwanderung zur Folge. Deshalb verwerfen viele eine Liberalisierung als Utopie und beharren darauf, dass Europa schärfere Kontrollen brauche. Wer eine solche Haltung einnimmt, muss ehrlich sein, was die eigene Argumentation betrifft. Anstatt sich hinter Euphemismen wie „Grenzkontrollen“ oder „Schutzschild“ zu verstecken, sollte man ehrlich zugeben: „Ich nehme gerne in Kauf, dass Menschen massenhaft interniert, gefoltert und getötet werden, damit Füchtlinge nicht in die EU kommen.“ Denn das ist die Essenz der Festung Europa.
Kommentare 15
Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen.
„Ich nehme gerne in Kauf, dass Menschen massenhaft interniert, gefoltert und getötet werden, damit Füchtlinge nicht in die EU kommen.“ Zitat Ende.
Und dazu den Artikel 31 der GFK: unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem sie verfolgt wurden...
Conclusio: Die Türkei ist jenes Gebiet, in dem Menschen massenhaft interniert, gefoltert und getötet werden. Und bei den Flüchtlingen handelt es sich folglich um Türken, denn nur diese können unmittelbar aus einem solchen Gebiet/Staat kommen. Alle anderen müßten dazu erst in die Türkei reisen...
Und unsere Politik hofiert den Regierungschef eines solchen Staates? Wie geil ist das denn?
Ich möchte mal, mit einem leichten Anflug von Sarkasmus anmerken und anfragen, ob ein Gewissen, also moralischen oder ethischen Prinzipien zu folgen, nicht das böse Tradieren von Herrschaftsstrukturen ist, von dem man sich in kleinen Schritten über Jahrzehnte erfolgreich befreit hat?
Freilich hinter einem Schutzwall von Korrektsprech versteckt. Das forcierte Desinteresse am anderen nannte man 'Toleranz', aktiv wegzuschauen war das Gebot der Stunde, wenn dieser oder jene einfach anders leben wollte und das bei denen eben so ist oder die das so wollen und damit klar kommen, welches Recht hätte man das paternalistisch zu be- oder gar verurteilen? Gewissen, hahaha, das war doch was für Kirche und bürgerlich Angestaubte, aber ansonsten etwas, von was man sich frei machen sollte.
Ja, wo ist es nur hin? Wo ist es denn geblieben? Man ist fassungslos.
Die Corona Lehre
Quarantänehäuser spriessen,
Ärzte, Betten überall
Forscher forschen, Gelder fliessen –
Politik mit Überschall.
Also hat sie klargestellt:
Wenn sie will, dann kann die Welt.
Also will sie nicht beenden
Das Krepieren in den Kriegen,
Das Verrecken vor den Stränden
Und dass Kinder schreiend liegen
In den Zelten, zitternd, nass.
Also will sie. Alles das.
(Thomas Gsella)
Georg Schramm zitiert Warren Buffett: "Es herrscht Krieg zwischen Arm und Reich, wir reichen werden diesen Krieg gewinnen". So in etwa die Aussage. Und wir schlagen uns jetzt untereinander. Wer lacht sich da ins Fäustchen? Wo bleibt da die Linke Politik und die Gewerkschaften.
es sind die medien,
die (meist ungefragt) uns auf dem entspannung-verheißenden sofa,
mit gräueln weit draußen belästigen, appellieren,
wir hätten doch möglichkeiten, diese abzustellen.
da fallen uns zunächst unsere politischen dienst-leister ein.
jene, die wir wahl-gemäß bestellt haben, regel-bedürftiges zu regeln,
und die dafür ein stattliches einkommen auf staats-/kommune-kosten
regel-mäßig/erfolgs-unabhängig beziehen.
ist also ein gewissen vonnöten, aus dem passiv-modus heraus: zu aktivieren?
"ist also ein gewissen vonnöten, aus dem passiv-modus heraus: zu aktivieren?"
Es gilt sich klar zu machen, was ein Gewissen ist und leistet. Wofür es gut ist und was es heißt, wenn es fehlt.
Ein reifes Gewissen, kann ein 'einerseits/andererseits' verarbeiten und sich am Ende dennoch, abwägend entscheiden. Ein unreifes Gewissen ist entweder einerseits lautstark, aber paralysiert oder andererseits auf der Basis von rigiden gut/böse Weltbildern entscheidungsstark.
Ein überreifes Gewissen kann schon faul sein. Und dann ein träg, sanftes Ruhekissen.
will sagen:
- bei passivität für taten weit-ab, ohne kontakt zu personen,
denen wir ohnehin kein direktes leid angetan haben,
ist kein gewissen im landes-üblichen(und auch sonst) sinn zuständig.
da sind welten dazwischen.
da ist das konzept "gewissen haben vs. gewissen-los sein" überfordert. objektiv.
- das reagieren auf ein weinendes opfer, das wir gemobt haben,
liegt eher in der reichweite unseres gewissens/
unserer verantwortlichkeit/unseres handlungs-bereichs.
da sollte das gewissen knabbern/zubeißen.
oda?
Die Nächstenliebe gelingt uns besser als die Fernstenliebe, ja.
Dennoch ist ein Gewissen nicht etwas, was plötzlich vom Himmel fällt und der eine hat es zufällig und die andere nicht, sondern es ist sehr viel über Moral, Ethik, internalisiertes Wertesystem, Über-Ich oder Gewissen bekannt.
Man kann die Bildung des Gewissens anregen, trainieren oder systematisch zerschießen. Wenn man Letzteres Jahrzehnte lang macht, braucht man sich nicht zu wundern, wenn das Gewissen 'auf einmal' nicht mehr da ist.
hey, wie stehts mit dem einzugs-gebiet, der betroffenheits-kalibrierung?
„hey, wie stehts mit dem einzugs-gebiet, der betroffenheits-kalibrierung?“
Das ist kompliziert. An sich ist die Reichweite nicht so weit, engste Freunde und Familie, dann Wahlverwandte.
Es gibt aber Menschen, die das mit der Fernstenliebe hinbekommen, aber da gilt es zu unterscheiden, wer sich mit einer entsprechenden Ideologie schmückt und bei wem dies ein authentisches Empfinden ist.
Es ist kein Vergehen, wenn einem die eigenen Kinder näher sind, als ein vollkommen unbekannter Mensch, der 5000 Kilometer entfernt wohnt, der relevante Unterschied ist, ob man für fremde Menschen überhaupt ein Fitzelchen Empathie aufbringen kann. Es ist schon wahr und richtig, dass wir alle Menschen sind, nur wenn man dies einfach so daher sagt, bringt das niemandem etwas und es auch zu empfinden trennt moralisch-ethisch die Spreu vom Weizen.
Das durchzuhalten, auch wenn es eng wird, ist eine reife und entwickelte Haltung.
- jeder, der die macht gottes hätte, würde die not auf der erde enden. odr?
- aber was hat das mit dem gewissen und seinen bissen ins ideal-ich zu tun?
„- aber was hat das mit dem gewissen und seinen bissen ins ideal-ich zu tun?“
Jede Menge. Neben denen, die sich offen dazu bekennen, dass andere ihnen schlicht egal sind, gibt es jene, die sich, um gut anzukommen, opportunistisch nach der Mode richten und das erzählen, von dem sie meinen, dass es andere hören wollen, d.h., sie wollen gut ankommen.
Wieder andere sind Ideologen, deren Menschenliebe (falls diese zur Ideologie, die sie vertreten, gehört) im Dienste es Ich (oder eine Verlängerung des Selbst ist) steht und die alle anderen Vorschläge wegbeißen, weil es genau so zu gehen hat, wie die Ideologie, die sie vertreten, es vorschreibt. Sie sind unflexibel und andere mit guten Vorschlägen können nicht als Verwandte im Geiste erkannt werden, sondern sind Feinde (oft die schlimmsten, weil sie die reine Lehre verwässern). Kurz gesagt, sind sie mit ihrer Ideologie verschmolzen und eine Kritik daran oder eine Abweichung davon, wird sofort als Angriff auf die eigene Person empfunden.
nicht ironisch! aus der über-fülle/all-macht ist gut-helfen!