Julian Assange hat angekündigt, ohne Rücksicht auf mögliche Racheakte an namentlich genannten Personen 250.000 unbearbeitete Depeschen des US State Department zu veröffentlichen, die sich seit vergangenem Jahr in seinem Besitz befinden. Damit hat der Wikileaks-Gründer mit der Mehrheitsmeinung in Bezug auf den Umgang mit dem brisanten Material gebrochen. Sein Vorgehen widerspricht völlig den Bemühungen des Guardian und anderer Medienhäuser, Hinweise auf vertrauliche Informanten vor der Veröffentlichung ausgewählter Kabel unkenntlich zu machen: Bemühungen, die nun weitgehend vergeblich erscheinen dürften.
Assanges Pläne ließen sich schon bei einem geheimen Treffen des Wikileaks-Teams im vergangenen November erahnen. Ein Teilnehmer des Treffens auf dem Landsitz Ellingham Hall, der der Organisation schon damals als Stützpunkt diente, notierte in seinem Tagebuch: „Hitzige Debatte über grobe Pläne, Depeschen zu veröffentlichen … JA besteht darauf, dass alle Depeschen letzten Endes irgendwie veröffentlicht werden müssen.“ Nach einem Jahr, das von seiner Verhaftung, hitzigen Streitereien mit früheren Verbündeten und einer Reihe von Unfällen innerhalb Assanges Organisation unterbrochenen war, hat sich dieser Wunsch nun erfüllt. Ein paar Tage nach dem Treffen auf Ellingham Hall stellte sich Assange der Polizei wegen eines schwedischen Auslieferungsantrags aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen zweier junger Wikileaks-Unterstützerinnen. Gegen die Auslieferung kämpft er bis heute.
Am 7. Dezember, dem Tag seiner Verhaftung, wurde eine riesige Datei voller Wikileaks-Informationen von einem seiner Unterstützer auf der Seite piratebay.org gepostet. Die ehemalige Nummer 2 der Gruppe, der Computer-Experte Daniel Domscheit-Berg, sagt hierzu: „Diese Leute sagten, sie wollten Wikileaks funktionsfähig halten, aber sie haben nie mit Julian gesprochen.“ Dies führte offenbar dazu, dass niemals jemand realisierte, dass die veröffentlichte Datei auch Assanges Kopie aller geheimen US-Kabel enthielt.
Zu Beginn des Jahres übergab Assange nach Aussage von Domscheit-Berg eine Kopie der Kabel an den Guardian – eines der Medienhäuser, mit dem er eine Zusammenarbeit vereinbart hatte –, um die Kabel in redigierter Form zu veröffentlichen.
Warum das Passwort veröffentlicht wurde
Er machte dem Guardian ein Passwort sowie einen speziellen Online-Server zugänglich, auf dem er, wie er sagte, eine Kopie der Datei mit den Depeschen platzieren werde, die nur für einen begrenzten Zeitraum existieren werde. Assange sagte aber nicht, dass er sich nicht an die übliche Sicherheitspraxis gehalten und für die Transaktion kein neues Passwort erstellt hatte. Stattdessen, so Domscheit-Berg, verwendete er einfach das vorhandene Master-Passwort, das auch anderen Wikileaks-Mitarbeitern bekannt war: „Zu der Datei sollte eigentlich nie ein Dritter Zugang erhalten. Um eine Kopie zu machen, hätte man für gewöhnlich eine neue Datei erstellt und mit einem neuen Passwort versehen. Er war zu faul, um etwas Neues zu schaffen."
Zu Beginn des Jahres veröffentlichte der Guardian ein Buch über Wikileaks, in dem das von Assange bereitgestellte und schon lange als obsolet angesehene Passwort veröffentlicht wurde. Das Buch enthält aber keine Informationen, die jemand ermöglichen, die verschlüsselte Datei zu finden und herunterzuladen.
Diese Reihe von Ereignissen hat in den vergangenen Wochen zu ungeplanten Konsequenzen geführt. Domscheit-Berg, der sagt, er habe sich von Assange unter anderem wegen Sicherheitsbedenken getrennt, erhob gegenüber der deutschen Wochenzeitung der Freitag den Vorwurf, Wikileaks sei unsicher. Im Internet existiere eine Datei mit den unbearbeiteten Cables, die mit dem veröffentlichten Passwort eingesehen werden könne. Er und der Freitag achteten darauf, keine Ortsangaben zu machen, die irgendjemanden in die Lage versetzen würden, sich Zugang zu der Datei zu verschaffen.
Der Streit mit Domscheit-Berg scheint Assange, der immer noch auf das Urteil in seinem Auslieferungsprozess wartet, erschüttert zu haben. Er veröffentlichte unbelegte Anschuldigungen, Domscheit-Berg unterhalte Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten und begann dann, zehntausende noch unveröffentlichter Kabel zu veröffentlichen, von denen die meisten offenbar unredigiert sind. „Er hatte Angst, er könnte nicht mehr derjenige sein, der sie veröffentlicht“, sagt Domscheit-Berg. „Er ist so egozentrisch und völlig irrational.“
Auf die Kritik der australischen und der US-amerikanischen Regierung, er gefährde Quellen, reagierte Assange damit, dass er über Twitter eine Reihe von Hinweisen auf den Ort fallen ließ, wo die Kabel-Datei im Internet zu finden ist. Dies ergänzte er durch die Behauptung, er veröffentliche nun neues Material, weil der Guardian sieben Monaten zuvor sein Passwort „verraten“ habe. Assanges Aussagen über den Guardian entsprechen nicht der Wahrheit.
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