Ohne Worte

Porträt Regie-Altmeister David Lynch will, wenn ein neuer Film fertig ist, am liebsten nicht darüber reden. Filme nämlich, sagt er, sprechen ihre ganz eigene Sprache
Ausgabe 27/2018

David Lynch lächelt selten auf Fotos. Seine Gesichtszüge sehen aus wie gemeißelt, die Statuen auf den Osterinseln könnten Pate gestanden haben. Er wirkt dabei nicht finster, eher wie einer, der viel grübelt. Gespitzte Lippen, hängende Augenlider: Lynch ist durch und durch der Altmeister im Winter seines Lebens. Seine Haartolle macht das Bild komplett; als wäre die üppige Locke mitten in einem abgründigen lynchischen Gedanken schockgefroren.

Seit 40 Jahren entführt Lynch sein Publikum aus malerischen Landstrichen in surreale Dimensionen, die von Dämonen, Doppelgängern und psychopathischen Mördern bevölkert werden. Er hat Bilder erschaffen, die einen nicht mehr loslassen: das wimmernde, entstellte Baby in Eraserhead, das abgetrennte Ohr in Blue Velvet, die blutige, schädelberstende Gewalt in Wild At Heart, die Atomexplosion in der Fortsetzung von Twin Peaks. Googelt man „David Lynch creepy“ (dt. gruselig), so erhält man 5,5 Millionen Treffer.

Lynch arbeitet in einem Atelier in den Hollywood Hills unweit des Mulholland Drive. Es ist an einem Hang gelegen über drei miteinander verbundenen Häusern, die ihm gehören. Lynch lebt zurückgezogen und verlässt nur selten sein kleines Reich. Ein Assistent führt mich durch das Gebäude – glatte Betonwände und Böden, deckenhohe Regale voller Videokassetten und CDs – und schließlich durch den Garten zu seinem Arbeitsraum.

Lynch sitzt in einer Ecke über einen Druck gebeugt. Auf der Tischplatte türmen sich Farbtöpfe, Lösungen, Chemikalien, Zementgel, Lithografiepapier, Pressluftbohrer, Kabel, Drähte und Pinsel. Eine Tasse Kaffee, eine Schachtel Zigaretten. Der Regisseur trägt rissige, uralte Stiefel, löchrige Leinenhosen und die Überreste eines schwarzen, hochgeknöpften Hemdes, das aussieht, als habe es ein Dachs zerfetzt.

Es wäre eine einschüchternde Szene, gäbe es da nicht dieses gut gehütete Geheimnis: David Lynch ist eine echte Frohnatur, die Ned Flanders aus den Simpsons an Halli-Hallo-Hallöchen-Nettigkeit in nichts nachsteht: „Hey, Kumpel“, begrüßt er seinen Assistenten, ich bekomme einen Händedruck und ein breites Grinsen. Er lacht viel und spricht gern über Weltfrieden: „Ich liebe mein Leben und bin ein glücklicher Camper,” sagt er. „Es wäre schön, wenn wir alle ein erfülltes, langes, gutes, glückliches Leben führen könnten.“

Erst mal Kaffee, danke

Sein Atelier ist eine bunkerähnliche Konstruktion aus Beton und Glas, die sich zu einem Panorama aus Bäumen, Bougainvilleen und Villendächern hin öffnet. Man spürt die Morgensonne, Vögel singen. „Ich mag es hier oben, die Bäume“, sagt Lynch und spricht in dem gleichen etwas schleppenden Singsang wie Gordon Cole, der FBI-Agent, den er in Twin Peaks spielt (nur ohne die Lautstärke des tauben Agenten). „In L.A. fühle ich mich frei. Das Licht, und dann sind die Häuser nicht so hoch. Man kann tun, was man will.“

Ob er einen Kaffee möchte, fragt sein Assistent. „Oh ja, ich kann etwas Heißes gebrauchen, danke.“ Es gibt hier oben keine Toilette. Um sich den Abstieg zum Haus zu sparen, hat er ein Becken in die Wand einbauen lassen. „Sehen Sie den Griff da? Damit können Sie es herausziehen. Danach drehen Sie den Wasserhahn auf.“

In der Mitte des Ateliers steht eine große Leinwand, ein unfertiges Werk, darauf ein Baum mit Kindern. Bei näherer Betrachtung ist zu erkennen, dass der Junge, der unten steht, ein Messer hält. Ein Mädchen kauert auf einem Zweig darüber. Ein anderes baumelt an einer Schlinge. Keines der Kinder wirkt, als habe es ein langes, glückliches Leben vor sich.

Leid und Tod, wohin wir auch schauen, sagt Lynch. Gestern habe eine Spinne neben seinem Schreibtisch eine Biene gefangen. Die Biene riss sich los, nur um wieder kleben zu bleiben. „Die Spinne kam heraus, spann sie ein. Ich glaube, sie biss sie auch, packte sie wieder aus, betäubte sie, zerrte an ihr herum.“ Lynch lächelt. „Was für eine brutale Sache.“ L.A. sei großartig, sagt er, „aber man sieht hier so einiges“.

Was genau Lynch sieht und dann auf die Leinwand bringt, ist eines der großen Rätsel der Filmgeschichte und war Gegenstand von tausend Doktorarbeiten. Wenn der Regisseur einen frisch gemähten Rasen sieht, taucht sein Hirn darunter ab in geheime Rätsel, Mystizismus und Verderbtheit – Visionen, die er in TV-Serien und Filme verwandelt, die nicht zu entschlüsseln sind. So ist ein Werk entstanden, das man entweder hasst oder verehrt; selbst seine Jünger geben zu, es nicht vollständig zu verstehen. Mit Ausnahme von Der Elefantemensch (1981) und Eine wahre Geschichte (1999) sind Lynchs Filme undurchsichtig und folgen keiner Chronologie. Wer ist die Frau mit den Hamsterbacken, die in Eraserhead im Heizkörper steht und Sperma-ähnliche Würmer zertritt, während sie dem Vater des mutierten Babys ein Lied vorsingt? Was ist real in Mulholland Drive und was träumt Naomi Watts nur? Und ist der Anfang wirklich der Schluss?

Lynch ist der letzte, der darauf irgendwelche Antworten geben würde, aber mit 72 Jahren öffnet er sich jetzt zumindest ein wenig auf den 577 Seiten des soeben erschienen Buchs Room to Dream. Wobei es eine Chronik sein will, kein Erklärband. Die Kapitel springen zwischen Lynchs eigenen Erinnerungen und denen von Freunden, Verwandten und Mitarbeitern, die mit seiner Co-Autorin Kristine McKenna gesprochen haben. Es geht um seine Kindheit in den 1950ern im Mittleren Westen, seine anfängliche Karriere als Maler, seine vier Ehen und seine Beziehungen mit anderen Frauen. Zum Vorschein kommen zwei sehr unterschiedliche Lynchs: Der zurückgezogene Visionär, der aber auch das Spiel mit den Medien beherrscht; der Einsiedler, der sehr bewusst seine Marke pflegt.

Ideen, sagt er, seien wie Fische. „Wenn dich ein Gedanke packt, musst du dich ganz auf ihn konzentrieren, dann schwimmen die anderen Fische darauf zu. Wie ein Köder. Sie beißen an und schon hast du mehr Ideen. Du musst sie dann nur noch einholen.“ Über Erzähltempo und Handlungsstränge denke er nicht nach. „Ich arbeite eher intuitiv. Ich verfalle einer Idee und versuche ihr treu zu bleiben. Mich fasziniert, wie das Kino so eine Idee aussprechen kann.“

In Room To Dream sagt Lynch, er sei voll Zorn gewesen, das habe seiner Arbeit ihre Schärfe gegeben. Dann entdeckte er die Transzendentale Meditation (TM), die Wut war weg, dafür gewann er einen besseren Fokus. Seither wirbt er missionarisch für TM, sein Buch ist dem verstorbenen Guru Maharishi Mahesh Yogi gewidmet und der „Weltfamile“. Selbst Skeptiker stellen fest: Obwohl er eine Schachtel Kippen am Tag raucht und ständig auf Koffein ist, findet man in Hollywood kaum eine Person, die so frei von Nervosität ist wie Lynch.

Lynch glaubt an Wiedergeburt, dem Altern und dem Verlust von Freunden und Kollegen begegnet er mit einer Zen-Haltung. Politisch ist er hingegen vollkommen unberechenbar. Bei den Vorwahlen stimmte er 2016 für Bernie Sanders und er glaubt, – ganz sicher ist er nicht – dass er bei der Präsidentschaftswahl für die Libertäre Partei gestimmt hat. „Ich bin nicht wirklich politisch, aber ich habe gern die Freiheit zu tun und zu lassen, was ich will“. Als Raucher in Kalifornien kennt er sich mit Verboten aus. Was Donald Trump betrifft, ist er unschlüssig. „Er könnte als einer der größten Präsidenten in die Geschichte eingehen, weil er alles aufgemischt hat. Keinem gelingt es, diesem Typen wirklich intelligent Kontra zu geben.“ Auch wenn Trump selbst keinen besonders guten Job mache, meint Lynch, öffne er vielleicht den Raum für andere Außenseiter, um das zu tun. „Unsere sogenannten Spitzenpolitiker bringen das Land nicht voran, kriegen nichts gebacken. Sie sind wie Kinder. Trump hat das offengelegt.“ (von diesen Äußerungen hat Lynch sich inzwischen distanziert; siehe Info).

Fortsetzung der Geschichte

David Lynchs Satz „Donald Trump könnte als einer der größten Präsidenten in die amerikanische Geschichte eingehen, weil er alles aufgemischt hat“ (siehe Artikel) schlug nach der Veröffentlichung dieses Porträts im Guardian Wellen.

Das rechtspopulistische Onlinemagazin Breitbart griff das Zitat verkürzt als Überschrift auf, was der Präsident prompt auf Twitter teilte. Bei einem Wahlkampfauftritt in South Carolina, den der anwesende CNN-Reporter seinerseits in seiner Groteskheit für Lynch-Filmskript-tauglich befand, dankte er dem Regisseur für seine Worte. Lynch wandte sich daraufhin mit einem offenen Brief via Facebook an Donald Trump. Sehr geehrter Mr. President, schreibt er, ich wünschte, wir könnten uns zusammensetzen und uns unterhalten. Das Zitat sei ganz schön herumgekommen, aus dem Kontext geraten und bedürfe wohl einer Erklärung. „Wenn Sie so weitermachen wie bisher, dann haben Sie keine Chance, als großer Präsident in die Geschichte einzugehen.“ Das wäre sowohl für Trump als auch für das Land traurig: „Sie verursachen Leid und Spaltung“. Noch sei es nicht zu spät, das Ruder herumzureißen. „Ihre Seele wird singen“, prophezeit er, um dann etwas prosaischer zu enden: „Sie müssen einfach nur alle Menschen so behandeln, wie sie selbst behandelt werden möchten“.

Der Filmkritiker Dennis Lim schrieb daraufhin im New Yorker, der Fall zeige einmal mehr, dass Prominente nur bedingt als politische Verbündete taugen, insbesondere wenn sie so wenig die Härten des gewöhnlichen Lebens kennen. Christine Käppeler

Es gibt diese Theorie, dass Lynch selbst nicht immer weiß, was es mit seinen Geschichten auf sich hat. Lynch widerspricht vehement: „Ich muss wissen, was die Dinge bedeuten und was vor sich geht. Bei machen Ideen weiß ich das nicht sofort. Also denke ich so lange nach, bis ich für mich eine Antwort gefunden habe.“

Das Publikum hingegen bleibt sich selbst überlassen: „Ich erkläre nie etwas. Worte verzwergen die Ideen nur.“ Auch als vergangenes Jahr die lange erwartete neue Staffel von Twin Peaks anlief, gab Lynch keine Interviews. „Sobald etwas fertig ist, wollen die Leute darüber reden. Ich halte das geradezu für ein Verbrechen. Filme oder Gemälde haben ihre eigene Sprache, es ist nicht richtig, das verbalisieren zu wollen. Es gibt dafür keine Worte. Es gibt die Sprache des Films, des Kinos, und dann ist da die Englische Sprache. Ohne Verluste ist das nicht übersetzbar.“

Lynch zündet sich eine Zigarette an, inspiziert seinen Arbeitstisch, als würde er sich jetzt lieber mithilfe des Zementgels erklären, als mit diesen glitschigen, unangemessenen Worten. Ein Zauberer, sagt er, erkläre ja auch nicht seinen Trick. Making-of-Filme oder Dokus, die hinter die Kulissen blicken, verabscheut er. „Das ist reine PR. Es geht um den Film, und der muss geschützt werden.“ Er lässt sich nicht die kleinste Orientierungshilfe entlocken, auch nicht für das Staffelfinale von Twin Peaks, das nebenbei ein paar Erzählstränge auflöste, nur um sie gleich wieder zu zerlegen und neue Rätsel aufzugeben. Selbst hart gesottene Fans hätten hier gern etwas Klarheit. Lynch lächelt nur: „Auf keinen Fall.“

46 Sekunden Stille

Eine Theorie zumindest falsifiziert er: Manche Fans sind ganz vernarrt in die Idee, dass die letzten beiden Folgen der Serie simultan auf zwei Bildschirmen geschaut werden müssen, sodass die Dialoge sich überlappen. „Oh ja, davon habe ich gehört. Das ist Bullshit. Aber dass jemand auf so eine Idee kommt, ist schön. Man könnte das mit allen möglichen Filmszenen machen und fantastische Resultate erzielen.“

Auf die Frage, welche Filme er sich so ansieht, antwortet Lynch: Krimiserien und Autoshows. Weiter ausführen will er das nicht. Sein Lieblingsfilm im vergangenen Jahr? Er schweigt, verzieht sein Gesicht, denkt nach. Lynch bläst Rauch aus, denkt weiter nach. Das Aufnahmegerät zeigt später an: 46 Sekunden Stille. „Hm“, sagt er schließlich. „Ich mochte den Film meines Sohns Austin“ (Gray House; eine experimentelle Doku). „Ich glaube, das ist der einzige Film, den ich gesehen habe.“ Interessieren die anderen ihn nicht? „Nicht wirklich. Ich war nie ein Filmfan. Ich mache gern Filme. Ich arbeite gern. Aber ich gehe nicht gern aus.“ Er könnte sie ja auch zu Hause schauen, rege ich an. „Mh-hmm.“

Rory Carroll ist Korrespondent des Guardian in Los Angeles

Übersetzung der gekürzten Fassung: Christine Käppeler

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Geschrieben von

Rory Carroll | The Guardian

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