Jess Wade ist eine Wissenschaftlerin mit einer Mission. Sie will, dass jede Frau, die in der Wissenschaft etwas Eindrucksvolles erreicht hat, bekannt wird. Und dass sie Anerkennung erfährt – angefangen mit einem Wikipedia-Eintrag. „Im vergangenen Jahr habe ich ungefähr 270 Einträge geschrieben“, erzählt Wade, selbst Postdoktorandin auf dem Gebiet der Kunststoffelektronik am Backett Laboratory des Imperial College London. „Mein Ziel war ein Eintrag pro Tag, aber manchmal bin ich so in Fahrt, dass ich gleich drei schreibe.“
Die akademische Welt beklagt, dass die Naturwissenschaften nicht genügend Mädchen begeistern und Aufholbedarf bei der Unterstützung und Würdigung von Wissenschaftlerinnen besteht. Das mag wie eine alte Leier klingen. Aber Wades Ansatz ist erfrischend und ansteckend. „Irgendwie wurde mir klar, dass wir diese Dinge nur von innen heraus ändern können“, erklärt sie. „Wikipedia stellt wirklich eine großartige Möglichkeit dar, Menschen daran teilhaben zu lassen, denn je mehr man über diese sensationellen Frauen liest, desto mehr Motivation und Inspiration schöpft man aus ihren persönlichen Geschichten.”
Kritik, kurzes Schwanken
Wade hat eine Mädchenschule besucht. Da ihre Eltern beide Ärzte sind, war die Wissenschaft in ihrer Kindheit im Hintergrund immer präsent. Sie kann sich nicht daran erinnern, auf ihrem Weg zum Physikstudium am Imperial College irgendwo auf Hindernisse gestoßen zu sein. Als sie ihr Studium begann, war der Kurs so schwer und sie war so konzentriert darauf, gut zu sein, dass sie kaum registrierte, wie wenige Frauen es neben ihr gab.
Erst als Doktorandin fiel ihr auf, wie es die alltäglichen Erfahrungen prägen kann, in der Minderheit zu sein. „Es ist hart, isoliert zu sein – das gilt für alle unterrepräsentierten Gruppen“, sagt sie. „Und dann sind da all die Herausforderungen während einer Dissertation, die diese Isolation noch verstärken. Wenn du niemanden um dich hast, mit dem du dich wirklich gut verstehst, ist es unglaublich hart.“
Wade begann, in Schulen Vorträge zu halten. Sie ermutigte Mädchen, sich mit Naturwissenschaften zu beschäftigen. Doch ziemlich schnell frustrierte sie ein Großteil dessen, was unter dem Banner „Frauen in der Wissenschaft“ passiert. Die vermittelten Botschaften waren im Grunde negativ, wie etwa der Slogan „Neun Prozent sind nicht genug“, mit dem die Institution of Engineering and Technology 2016 in einer Kampagne warb. „Wenn ich als Schülerin davon gehört hätte, dass bei einer Sache nur neun Prozent Mädchen mitmachen, dann hätte ich gedacht, das ist nichts für mich“, erklärt Wade.
Noch schlimmer empfand sie den stümperhaften Versuch der Europäischen Kommission, den Naturwissenschaften mit ihrem „Science: It’s a girl thing!“-Video einen sexy, femininen Imagewechsel zu verpassen: Es zeigt drei junge Frauen, die auf einem Laufsteg herumstolzieren, während sie die chemische Zusammensetzung von Lippenstift und Nagellack entschlüsseln. „Es macht mich rasend, dass sie auch nur eine Sekunde lang glauben können, dass so etwas irgendetwas ändern wird“, sagt Wade zähneknirschend.
Viele der Initiativen werden finanziell stark unterstützt. Wade schätzt, dass in Großbritannien jedes Jahr um die fünf Millionen Euro fließen, um Frauen für die Naturwissenschaften zu interessieren. Ähnliche Summen fließen in Deutschland – allein das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat für die Frauenförderung in Mint-Berufen zwischen 2008 und 2020 insgesamt 22 Millionen Euro bereit gestellt. In Großbritannien sind große Geldgeber neben dem Staat Banken und technische Unternehmen. „Es geht hier nicht nur um ein paar Akademiker, die Vorträge an Schulen halten. Es geht um riesige Investitionen”, so Wade. Aber es scheint kaum überprüft zu werden, ob die Projekte ihr Ziel erreichen.
In Großbritannien stagniert der Anteil der Schülerinnen, die Physik als Abiturfach wählen, seit einem Jahrzehnt bei 21 Prozent. Weniger als 9 Prozent der britischen Ingenieure sind Frauen – ein Anteil, der weltweit zu den niedrigsten gehört und sich in den vergangenen zehn Jahren nicht erhöht hat. Zum Vergleich: In Deutschland sind immerhin 23 Prozent der Ingenieursstudierenden weiblich, aber auch hier steigt der Frauenanteil nur sehr langsam. „Es fließt so viel Energie, Enthusiasmus und Geld in all diese Initiativen, die Mädchen in die Naturwissenschaften holen sollen“, erklärt Wade. „Aber keine dieser Initiativen basiert darauf, was erfahrungsgemäß etwas bringt, und keine funktioniert. Was mich wirklich überrascht ist, wie unwissenschaftlich das ist.“
Wade begann sich genauer dafür zu interessieren, was Wirkung zeigt, beispielsweise mit Eltern und Lehrern zu sprechen, anstatt sich allein auf die Schüler und Schülerinnen zu konzentrieren. Nachdem sie beobachtet hatte, welche Reichweite das Hochladen wissenschaftlicher Bilder auf der freien Foto-Sharing-Seite Wikimedia Commons hatte, beschloss sie, das Gleiche für die Wissenschaftlerinnen selbst zu tun.
Ihren ersten Wikipedia-Artikel schrieb sie über die US-amerikanische Klimaforscherin und Professorin Kim Cobb: „Sie ist superinteressant, sie betreibt wirklich coole Korallen-Forschung und geht tauchen, um Proben zu sammeln“, sprudelt sie hervor. Kurze Zeit später war Wade bei einem Vortrag von Susan Goldberg, der Chefredakteurin des Reportage-Magazins National Geographic – der ersten Frau, die diese Stelle je innehatte. Ihr fiel auf, dass auch Goldberg bei Wikipedia nicht zu finden war. „Ich dachte: Das kann ja wohl nicht sein, und habe ihr eine Seite angelegt“, erzählt Wade. Seither hat sie Hunderte weitere Einträge geschrieben.
Während wir uns durch die labyrinthartigen Wege zwischen Imperials Physik- und Mathematik-Gebäuden einen Weg suchen, grüßt Wade eine Kollegin: „Das ist Emma McCoy, die erste Mathematik-Professorin hier. Ihr habe ich auch eine Seite angelegt.“
Die unvermeidlichen Kritiker an ihrem Projekt gibt es natürlich auch. Eine Woche vor unserem Gespräch hatte ihr ein Oxford-Doktorand auf Twitter vorgeworfen, Wikipedia zu benutzen, um sich selbst darzustellen und Artikel über Freundinnen zu veröffentlichen. „Das ist nicht der Sinn von Wikipedia!“, bemängelte er. „Bedenken Sie den Schaden, den Sie der Wiki-Community zufügen!“ Obwohl sie „weiß, dass er unrecht hat“, kam Wade kurz ins Schwanken. Auf der anderen Seite erhält sie auch sehr viel Online-Unterstützung. Die Wissenschaftlerinnen, über die sie schreibt – und die sie alle übrigens vorher nicht persönlich kannte – reagierten fast ausschließlich begeistert. „Professorinnen empfinden einen Wikipedia-Eintrag wirklich als Stärkung.“
Seit Darwin kämpfen Frauen
Wades Aktivismus beschränkt sich nicht auf den Online-Bereich. Wenn es der Sache dient, verschenkt sie auch mal Bücher. Im vergangenen Jahr las sie mit Begeisterung das neu erschienene Buch Inferior der britischen Wissenschaftsjournalistin Angela Saini, in dem sie mit wissenschaftlicher Sorgfalt die Behauptung von Unterschieden zwischen Mann und Frau sowie Gender-Stereotype untersucht. „Mir wurde klar, dass diese Voreingenommenheit gegen Frauen unsere Gesellschaft schon so lange Zeit beherrscht“, berichtet sie. „Seit Darwins Zeiten haben Frauen immer dagegen angekämpft. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich das tun kann: Ich kann etwas ändern, und ich kann dafür sorgen, dass andere Leute das auch lesen.“ Nach eigener Schätzung hat Wade mit der Zeit 60 oder 70 Exemplare von Inferior gekauft und an Freunde, Familie und Wissenschaftler-Kollegen auf internationalen Konferenzen verteilt. „Vor einer Woche ungefähr sagte Angela, ich müsse aufhören, weitere Bücher zu kaufen, und schickte mir zehn signierte Exemplare“, erzählt sie.
Zudem schlägt Wade unermüdlich andere Frauen für Preise vor. Erst kürzlich hat daraufhin eine Astrophysikerin vom Imperial College den Preis der Royal Society erhalten. Was die junge Wissenschaftlerin letztlich zu erreichen hofft? „Ich denke, ich möchte die Naturwissenschaften zu einem besseren Ort machen für alle, die darin arbeiten. Und das wird geschehen, wenn wir den Beitrag dieser großartigen Frauen anerkennen“, erklärt sie. „Dann werden die Mädchen, die kommen – denn das werden sie! – ein Umfeld vorfinden, dass sie deutlich mehr stärkt, als das heute der Fall ist.“
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