Orbans wirtschaftliche Logik

Ungarn Ausgerechnet die neue Rechtsregierung in Budapest nimmt es mit mächtigen Institutionen wie dem IWF auf. Die Renitenz ist richtig, andere Länder sollten folgen

Die ungarische Regierung hat es in den vergangenen Monaten mit einigen mächtigen Interessen aufgenommen und bislang scheint sie als Sieger hervorzugehen – und das, obwohl sie alles, was Rang und Namen hat, gegen sich aufbringt.

„Der Internationale Währungsfonds sollte dranbleiben“, wetterte die Financial Times im Juli in ihrem Editorial am Tag nachdem Ungarn den IWF fortgeschickt hatte. „Angesichts der Tatsache, dass sich so viele Länder in einer prekären Lage befinden, darf er sich nicht so leicht abspeisen lassen. Ein paar Gelbe und Rote Karten wären das richtige Signal an andere Regierungen, die versucht sein könnten, mit Disziplinlosigkeit zu kokettieren.“

Eben das ist die große Angst der Verfechter einer prozyklischen europäischen Politik, die für Strategien plädieren, die während einer Rezession oder in Zeiten geringen Wachstums die Wirtschaft schwächen. Es ist denkbar, dass Ungarns Auflehnung andere Länder ansteckt, die zurzeit vom IWF und den europäischen Behörden in Bedrängnis gebracht werden.

Zuerst entschied die ungarische Regierung Anfang Juli, eine neue Steuer für Banken und andere Finanzdienstleister zu erlassen, die dem Staat in diesem und im nächsten Jahr etwa 855 Millionen Dollar einbringen soll. Ausländische Banken, die in den Jahren des überschäumenden Wachstums vor 2007 in Ungarn ein Vermögen gemacht hatten, zeterten und machten ihren Einfluss geltend, doch obwohl sie den IWF auf ihrer Seite hatten, setzten sie sich nicht durch.


Dann weigerte die Regierung sich, den Forderungen des IWF nach einem weiteren Abbau des Haushaltsdefizits nachzukommen. Ungarn hat bereits beinahe vier Jahre mit Sparmaßnahmen hinter sich, in denen das Defizit von 9 auf 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesenkt worden ist. Noch entscheidender ist, dass sich das Leistungsbilanzdefizit des Landes in diesem Jahr auf weniger als 1 Prozent belaufen wird – 2008 betrug es noch mehr als 7 Prozent des BIP. Da die Arbeitslosigkeit von 7 Prozent im Jahr 2007 auf 12 Prozent gestiegen ist und die Wirtschaft kaum Wachstum zeigt, begannen die Ungarn sich verständlicherweise zu fragen, wann sie endlich Licht am Ende dieses langen Tunnels sehen würden. Verhandlungen mit dem IWF und der EU über weiteren Zugang zu Notkrediten wurden am 17. Juli abgebrochen.

Viktor Orbans Regierung hat die ungarische Zentralbank ins Visier genommen, die sie beschuldigt, die Zinssätze zu hoch zu halten und damit die wirtschaftliche Erholung zu bremsen. Das Gehalt des Zentralbank-Chefs Andras Simor hat die Regierung um 75 Prozent gekürzt. (Hätten wir dasselbe doch nur mit Alan Greenspan oder Ben Bernanke tun können, nur um an ihnen ein Exempel zu statuieren, weil sie die beiden größten Anlage-Blasen der Weltgeschichte verpasst haben und dadurch die größte Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929 gewährleistet haben). Die Zinssätze der ungarischen Zentralbank betragen 5,25 Prozent – das sind mit die höchsten in Europa (zum Vergleich: der Leitzins der US-Notenbank beträgt seit Ende 2008 0-0,25 Prozent).

All diese Entscheidungen der Regierung Orban folgen einer wirtschaftlichen Logik. Ihre Bankensteuer macht 0,5 Prozent des BIP aus, was für eine Regierung, die versucht, ihr Defizit abzubauen, erheblich ist. Die Banken wiederum – deren waghalsige Kredite in Ungarn, wie in den USA und überall sonst, einen großen Anteil an dem Schlamassel haben, in dem das Land steckt – arbeiten bereits wieder Gewinn bringend, obwohl die Wirtschaft noch immer stagniert. Der richtige Ort also, um Steuern zu kassieren. Die prozyklischen Strategien, die der IWF fordert (Haushaltskürzungen und Steuererhöhungen) standen einer Erholung der Wirtschaft im Weg; es gibt einen Punkt, an dem man sagen muss: „Genug ist genug“.

Tadel von höchster Stelle

Dasselbe gilt für die hohen Zinssätze der Zentralbank: In den Jahren des Konjunkturabschwungs waren sie meist viel zu hoch – 2008 zwischen 8 und 11,5 Prozent – die Wirtschaft befand sich unterdessen im Niedergang. Im vergangenen Jahr sank das ungarische BIP um 6,3 Prozent, doch die Leitzinsen lagen immer noch zwischen 6,25 und 9,5 Prozent. Ein Crash dieses Ausmaßes – und eine Wirtschaft, die in diesem Jahr kaum gewachsen ist – legen nahe, dass diese Strategie gescheitert ist.

Das Handeln der Regierung hat jedoch schroffen Tadel von höchster Stelle ausgelöst. Die Standard-Denkweise geht davon aus, dass die Zentralbanken von den Regierungen unabhängig sein müssen – was oft bedeutet, dass sie sich oft mehr um die Interessen der Banker kümmern als um die der Allgemeinheit.

Kreditauskunfteien wie Moody’s und Standard Poor’s – die Jungs, die uns vor ein paar Jahren die hypothekengestützten Sicherheiten bescherten, die sich als Giftmüll mit AAA-Rating entpuppten – überprüfen ob sie Ungarn herunterstufen sollen, weil die Einigung mit dem IWF gescheitert ist. Wie vergangene Woche in der New York Times zu lesen war „spiegelt [der Streit mit Ungarn] einen größeren Konflikt, der in den nächsten Jahren bevorsteht, da die meisten europäischen Politiker ... bestrebt sind, ihren zunehmend renitenten Bürgern wirtschaftliche Vorschriften aufzuerlegen.“

Wir können nur hoffen, dass sie noch renitenter werden. Die Regierungen Spaniens und Griechenlands etwa haben weit mehr Verhandlungsmacht und viel mehr Alternativen zur Verfügung, als sie bislang nutzen wollten.

Es ist eine Ironie, dass hier ausgerechnet die ungarische Mitte-Rechts-Regierung die Führung übernommen hat; doch wenn die sozialistischen Regierungen in Spanien und Griechenland den europäischen Behörden und dem IWF die Stirn bieten würden, dann könnten auch sie die Unterstützung ihrer Bürger gewinnen. Dann hätten wir in Europa andere Voraussetzungen, die ein schnelleres Wachstum ermöglichen würden – und vielleicht die Bedrohungen, denen der Lebensstandard der Meisten ausgesetzt ist, abwenden könnten.

Mark Weisbrot ist Co-Direktor des Center for Economic and Policy Research in Washington, dem auch Wirtschaftsnobelpreisträger wie Robert Solow und Joseph Stiglitz nahestehen.

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Übersetzung: Christine Käppeler
Geschrieben von

Mark Weisbrot | The Guardian

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