Paco ist ein Tsunami

Argentinien Durch eine Droge wird der tragische Niedergang eines Elendsviertels an der Peripherie von Buenos Aires zu einem unaufhaltsamen Vorgang

Nina Chamorro lässt ihren Finger über die Fotos der Kinder aus der Nachbarschaft gleiten, die an der Wand ihrer gemeinnützigen Suppenküche in Villa Itatí, einem der ausgedehnten Elendsviertel am Stadtrand von Buenos Aires, hängen. „Er ist inzwischen tot. Und er ... Und er ...Und der ...“. Der Blick der 75-jährigen Großmutter wandert traurig über die lachenden Gesichter der Kinder. Sie zeigt auf ein anderes Foto: „Er hier wurde vergangenen Monat von der Polizei erschossen. Dieses Mädchen ist verschwunden. Wir haben so viele unserer wunderbaren Kinder verloren. Wir kannten sie seit dem Tag ihrer Geburt. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich.“

Bis auf die Knochen

Villa Itatí liegt nur wenige Autominuten von exklusiveren Wohngegenden der argentinischen Millionenstadt entfernt. Wenn man die Leute hier nach einer Erklärung für die grausige Galerie in Nina Chamorros Küche fragt, bekommt man immer die gleiche Antwort: Paco. Die giftige und hochgradig süchtig machende Mischung aus Überresten der Kokaingewinnung, aus Chemikalien, Klebstoff und Rattengift ist der Fluch der Verarmten. Der Konsum der verschnittenen, minderwertigen Droge frisst die Lebenskraft der unterprivilegierten Viertel von Buenos Aires auf. Und das unwiderruflich.

Genau genommen ist Paco so etwas wie ein Abfallprodukt der lokalen Drogenküchen, die für nordamerikanische und westeuropäische Märkte Kokain produzieren. Seit der Stoff in den neunziger Jahren auf den Straßen von Buenos Aires aufgetaucht ist, hat er Slums wie Itatí fest im Griff. Seither stieg die Abhängigkeit um 200 Prozent, heute werden täglich 400.000 Dosen konsumiert.

Die Süchtigen werden voll Abscheu Muertos Viventes, die lebenden Toten, genannt. Zwei, drei Dosen reichen aus, um von der Droge abhängig zu werden, die systematisch das Nervensystem zerstört. Die Betroffenen magern schnell bis auf die Knochen ab. Um ihre Sucht zu befriedigen, verfallen sie auf Diebstähle, Gewalt und Prostitution. Die Droge rafft innerhalb kürzester Zeit eine beängstigende Zahl von Menschen hinweg. Aufhalten lässt sich das nicht – Villa Itatí lebt von Paco. Das Geschäft ist ein endloser, entsetzlicher Kreislauf aus illegalen Profiten, suchtbedingter Gewalt und verschenktem Leben. Kinder geraten in einen Teufelskreis und das vor den Augen verzweifelter Eltern.

Nach einer modernen Legende soll in Villa Itatí das erste Paco Argentiniens verkauft worden sein. Wie die Bewohner erzählen, fingen die Dealer 2005 damit an, das Viertel damit zu überschwemmen, indem sie einzelne Dosen für kaum mehr als zehn Penny verkauften. Seither sickert das Gift in das Leben einer um jede Hoffnung gebrachten Gemeinschaft. Die Kommunalverwaltung gibt in einem Bericht zu Protokoll, es seien erschreckende 50 Prozent der 60.000 Bewohner Itatís der Sucht verfallen, ohne dass ihnen jemand helfen könne. Landesweit ist Paco – so lauten die Angaben der Regierung – bei 64,9 Prozent aller Drogenabhängigen unter 18, die in Behandlung sind, Ursache einer kaum einzudämmenden Sucht.

Mit Blut gekauft

Eigentlich besitzt niemand in Villa Itatí ein Auto. Doch lässt sich an diesem Ort, für den es nur eine Quelle von Aufstieg und Wohlstand gibt, deutlich sehen, dass ganz Wenige ein gutes, skrupelloses Geschäft machen. Glänzende schwarze Geländewagen mit getönten Scheiben parken in der ungepflasterten Straße, die zu Nina Chamorros Suppenküche führt. „Paco“, sagt eine Frau und zeigt auf die dicken Karren. „Diese Autos kaufen sie mit dem Blut unserer Kinder.“

„Die Dealer sind hierher gekommen und haben sich als erstes die Jungen geschnappt“, klagt ein Mann, der sich in der Gemeinde engagiert und nicht genannt werden will. „Sie haben ihnen das Zeug für einen Peso verkauft, sie abhängig gemacht und lassen sie jetzt für sich auf der Straße arbeiten. Wenn eines der Kinder eine Dosis verliert und als Kurier versagt, wird es mit einem Schuss in die Beine bestraft. Die Dealer kennen kein Erbarmen. Manche Familien kochen bei sich zuhause Paco, weil es sonst keine einzige Möglichkeit gibt, Geld zu verdienen.“

„Wir hatten hier ein nachbarschaftliches Viertel, wir waren arm, aber wir waren eine Gemeinschaft. Jetzt gibt es nur noch Gewalt, Drogen und Dreck“, erzählt Nina Chamorro. „Es gibt keine Arbeit mehr wie früher, alle Fabriken sind geschlossen. Einige der Frauen fahren in die Stadt und reinigen die Häuser der reichen Leute, ein paar der Männer sammeln Kartonagen, Müll und Abfälle. Für die jungen Leute fällt nichts ab.“

Chamorros Tochter Sonia Andrade, die in der Suppenküche hilft, beschreibt, dass sie nachts die Kinder ihrer Freunde „wie die Ratten“ über ihr Dach klettern hört, auf der Suche nach Dingen, die sie stehlen können: „Sie sind so verzweifelt, dass sie ihren Familien alles klauen, um an ein paar Flocken Paco heranzukommen. Wenn nichts mehr übrig ist, dann stehlen sie bei den anderen, bei ihren Nachbarn“, erzählt Sonia. „Sie hatten auch vor Paco hier kaum Chancen, aber jetzt haben sie gar keine mehr.“

Die Geißel der Droge ist vermutlich der letzte Akt in der Tragödie dieses Elendsviertels, das zu den ältesten und größten der Metropole zählt. Als Chamorro vor über 20 Jahren ihre Suppenküche eröffnete, gab sie 20 oder 30 Menschen am Tag etwas zu essen – jetzt sind es über 200. Ihre einfaches, zwei Zimmer großes Refugium liegt im Herzen des Viertels. Um die Mittagszeit, wenn die meisten Bedürftigen bei ihr eintreffen, kann bei ungünstigem Wind der Gestank der offenen Müllkippe La Cava, auf der mitten in der Siedlung Hausmüll und Abwässer verwesen, unerträglich werden.

Sonia Andrade zeigt die hohe Böschung zur Autobahn hinauf. Wenn es regnet, erklärt sie, ströme das Wasser die Hänge hinunter und fülle die Grube. Die ärmsten Bewohner des Viertels, die an dieser Stelle leben, würden dann innerhalb kürzester Zeit knietief im faulen Wasser stehen. „Die Kinder haben Ekzeme am ganzen Körper, sie bekommen nichts zu essen, außer dem, was wir ihnen geben können, und sie leiden unter Atemproblemen. „Früher haben sie im Kindergarten Milch und ein Frühstück bekommen, aber seit die Regierung kein Geld mehr schickt, kommen die Erzieherinnen einfach nicht länger her.“ Doch so entsetzlich die Armut an sich auch sein mag: Erst die Drogen haben das Viertel in eine Hölle auf Erden verwandelt.

Es gäbe niemanden

Dr. Carlos Vizzotti, der Sedronar, das Drogenhilfsprogramm der Regierung leitet, räumt ein, dass es extrem schwierig, fast undenkbar sei, die Suchtabhängigkeit in den ärmsten Vierteln von Buenos Aires in den Griff zu bekommen: „Wir können mit den Dealern nicht konkurrieren, sie zahlen den Kindern und ihren Familien für das Vertreiben von Paco und Kokain oft 200 Peso am Tag. Wir versuchen, sie von den Drogen loszureißen, aber dann überlassen wir sie doch wieder ihren alten Sorgen und Konflikten, die sie überhaupt erst in die Fänge des Paco getrieben haben.“

Wer an der vordersten Front der Drogen-Abwehr steht, äußert sich durchweg düster. Auch Pater Pepe, ein Missionspfarrer, der in seiner kleinen, weiß getünchten Kirche im Elendsviertel Villa 21-24 ein Hilfsprojekt für Süchtige und Arme leitet. „Paco ist die Manifestation all dessen, was in Argentinien falsch läuft“ sagt er. „Die Droge offenbart das Versagen des ganzen Systems. Gesundheit, Bildung, Grundversorgung der Menschen – alles zerfällt. Das Problem ist nicht Paco als Droge der Armen; das Problem besteht darin, dass sich die Droge von Ausgrenzung nährt, die es schon immer gab. Paco bringt ans Licht, wie es heute um das Innere unserer Gesellschaft steht.“

Mangelhafte Expertise

Draußen herrscht sengende Hitze, innen, im Kirchenschiff ist es dunkel und kühl. Die Mauern sind mit Wandgemälden bedeckt, auf denen die harte Realität der sozialen Diaspora Argentiniens abgebildet ist. Das größte Bild zeigt ein paco-süchtiges Kind, das von Engeln vor dem Tod beschützt wird. „Paco ist ein Tsunami, der die Verletzlichsten mit sich fortgerissen hat. Würden wir hier als Seelsorger nicht unsere Arbeit tun, gäbe es niemanden, der die Familien bei ihrem Kampf dagegen unterstützt. Die Regierung und große Teile der Gesellschaft wollen mit uns nichts zu tun haben.“

Die Furie der Verbrecher und Verbrechen hat Villa 21-24 in Buenos Aires zu einem Synonym für „Gewalt“ gemacht, die Drogengangs haben ganze Abschnitte des ausgedehnten Viertels fest in der Hand. Pater Pepe sah sich vor einem Jahr gezwungen, um Polizeischutz zu bitten. Als er sich offen gegen die Dealer und eine alles überflutende Gewalt aussprach, erhielt er Morddrohungen. „Wir bekommen es in den Slums fast nur mit Verbrechen zu tun, die mit dem Drogenhandel einhergehen. Das Geschäft wird immer größer, dennoch bewahren sich die Menschen ihren Überlebenswillen und wollen etwas Besseres. Dabei sollten wir ihnen beistehen ...“

Aber die Aussichten für Aktivisten wie Pepe sind düster. Ursprünglich wurde Argentinien vor allem als Handelsweg benutzt, um Kokain von Lateinamerika nach Europa zu bringen, doch inzwischen wird das Land zunehmend zum Produzenten und Konsumenten. Laut einer Pressuregroup gibt es über 1.500 geheime Start- und Landebahnen, über die Kokainpaste in den Norden des Landes geflogen wird. Beim Regierungsprogramm Sedronar räumt man unumwunden ein, dass durchlässige Grenzen, eingeschränkte Ressourcen, die mangelhafte Expertise des Personals und zu wenig wirksame Absprachen zwischen lokalen und nationalen Behörden dazu führen, nichts wirklich gegen die Einfuhr und den Handel mit Drogen tun zu können.

In Villa Itatí hoffen Nina Chamorro und so viele andere darauf, dass Paco eines Tages wie von selbst verschwindet, damit ihre Kinder der Spirale aus Armut, Drogensucht und Selbstaufgabe entkommen, die alles an ihrer Zukunft zerstört. „Manche Eltern haben fürchterliche Angst davor, dass ihre Kinder zu ihnen kommen und sie ausrauben. Wenn das nicht passieren soll, müssen sie ihnen eine Perspektive geben, die nichts mit dem Elend hier zu tun hat“, sagt Nina noch und verschwindet in ihrer Suppenküche.


Übersetzung: Christine Käppeler

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Geschrieben von

Annie Kelly | The Guardian

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