Nördlich von Punta Gorda dürfte die Miskito-Küste heute noch fast genauso aussehen wie zur Zeit von Christoph Columbus. Wenig deutet darauf hin, dass die Gegend zwischen den bewaldeten Steilküsten und kristallklaren Buchten besiedelt sein könnte. Im Wasser schwimmen nur ein einziges kleines Boot und ein halbes Dutzend Delfine. Wenn es nach der nicaraguanischen Regierung und ihren Auftragnehmern von der chinesischen Baufirma HKND geht, wird sich dieses entlegene Idyll in der nächsten Dekade in ein Drehkreuz des Welthandels verwandeln. Hier soll die östliche Zufahrt in einen neuen, 284 Kilometer langen und 30 Meter tiefen Kanal entstehen, über den Supertanker und Massengutfrachter, die für den Panamakanal zu groß sind, vom Atlantik in den Pazifik gleiten. Ein Megaprojekt: dreimal so lang und doppelt so tief wie die Passage in Panama. Beim Bau müssen über 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdreich bewegt werden, damit ließe sich ganz Manhattan bis zum 21. Stock des Empire State Building bedecken. Das Projekt dürfte eines der ärmsten und am dünnsten besiedelten Länder Lateinamerikas vor allem wirtschaftlich radikal verändern. Möglicherweise auch die Ökosysteme der betroffenen Regionen.
„Als die Spanier im 16. Jahrhundert hierherkamen, brachten sie eine neue Kultur. Dieser Kanal wird Ähnliches bewirken“, meint Manuel Coronel, Chef der Kanalbehörde. „Für die Ureinwohner ist schwer abzuschätzen, was sich daraus entwickelt. Das Ganze ist mit dem Auftauchen der ersten Schiffe aus Europa vergleichbar.“ Eine zutreffende Parallele? Schließlich wurden seinerzeit durch die Konquistadoren ganze Völker gebeugt und ausgerottet, während sich die heutige Regierung vom Bau des Kanals nichts Geringeres erhofft, als dass der Traum von einem Leben ohne Armut erfüllt wird. Von der Vergabe der Konzession an die chinesische HKND versprechen sich die regierenden Sandinisten Milliarden Dollar an Investitionen, Zehntausende von Jobs und eine langfristig stabile Einnahmequelle für das Land.
Am 22. Dezember 2014 gab es den ersten Spatenstich. Es wird erwartet, dass HKND in den kommenden Monaten bekanntgibt, wie man diejenigen entschädigt, deren Leben durch das Projekt völlig auf den Kopf gestellt werden könnte. Begonnen haben die Bauarbeiten in Brito an der Westküste, wo der Kanal einst in den Pazifik münden soll. Bis vor Kurzem kannte kaum jemand diesen knapp fünf Kilometer langen Strand. In dem unbewohnten Marschland gibt es keine Straßen, doch dürfte sich das bald ändern. Bis Juni werden Schwimmbagger die Bucht vertiefen und Bautrupps asphaltierte Pisten durch den Wald legen. Am Strand wird ein Kai entstehen, an dem die gigantischen Bagger und Trucks ausgeladen werden können, die mit dem Schiff aus Australien und China angeliefert werden. Ist dieser Brückenkopf erst einmal vollendet, wird Brito zum Drehkreuz für den weiteren Bau werden und sich allmählich in einen Tiefseehafen verwandeln.

Vor Monaten seien – eskortiert von Soldaten – chinesische und nicaraguanische Ingenieure hier gewesen, um mit GPS-Geräten Pisten und Ackerland zu vermessen, erzählt Juan Félipe Cárdenas, der mit nacktem Oberkörper am Strand sitzt und mit der Stimme gegen brechende Wellen ankämpft. „Wir müssten gehen, sagen die Chinesen, sobald sie mit ihren Maschinen anrücken. Nur, wo sollen wir hin?“ Diese Frage ist entlang des künftigen Kanalverlaufs häufig zu hören. Viele Menschen fühlen sich komplett übergangen und nur unzureichend informiert. Obwohl es sich um das größte Infrastrukturprojekt in der Geschichte Nicaraguas handelt, blieben dem Parlament gerade zwei Tage Zeit, um über das Gesetz zu debattieren, das die Vergabe der Konzession regelt. Auch den sozialen und ökologischen Folgen wird Kritikern zufolge nicht genügend Zeit geschenkt.
Immerhin ist mit gewaltigen geostrategische Komplikationen zu rechnen. Zum einen wird die Rivalität mit dem Panamakanal die Preise für Schiffspassagen drücken, andererseits den Handel in Mittelamerika ankurbeln. Auf jeden Fall kann Peking mit dem Kanal seinen Einfluss auf den gesamten Subkontinent beleben wie noch nie. Was tun die Amerikaner, die Mittelamerika traditionell als ihren Hinterhof betrachten? Im Januar beklagte die US-Botschaft in Managua einen „Mangel an Information und Transparenz“ und verlangte von der Regierung Ortega, sie solle „relevante Dokumente“ veröffentlichen.
7.000 Entschädigungspakete
Gegner des Vorhabens fürchten, dass sich die Geschichte wiederholt und Nicaragua einmal mehr zum Spielball fremder Interessen wird. In Obrajuelo (Region Rivas) zwischen Pazifik und Nicaragua-See haben sich etwa 30 von ihnen zu einem Protestmeeting vereint. „Wang Jing ist der moderne Wiedergänger William Walkers“, sagt ein Redner und setzt den Chef des chinesischen Kanalbauunternehmens mit einem US-amerikanischen Abenteurer gleich, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts eigenmächtig zum Präsidenten Nicaraguas erklärte. Mutig, sich öffentlich so klar zu äußern. Octavio Ortega aus der in Rivas ansässigen NGO Fundemur erzählt, er sei von der Polizei verhaftet und geschlagen worden. Man habe ihn verdächtigt, mit der CIA zu kollaborieren, weil er beim Obersten Gericht gegen den Kanal geklagt habe.
Auf dem Meeting wird ein Transparent enthüllt, der Schriftzug: „Daniel Ortega vende patria“ (Daniel Ortega verkauft die Heimat). Dieser Vorwurf wurde bereits in den 20er Jahren vom Nationalhelden und Vorbild der Sandinisten, Augusto César Sandino, gegenüber den damals Regierenden erhoben, da auch sie Rechte für den Bau eines Kanals verkauften – freilich nicht an China, sondern an die USA. Auf einem anderen Schild, das hochgehalten wird, ist zu lesen: „Fuera Chinos!“ (Chinesen raus!). Die Stimmung ist aggressiv. „Ich bin bereit, für die Sache hier zu sterben. Wenn die Chinesen mich aus dem Weg räumen wollen, sollen sie nur kommen!“, poltert der Landeigentümer Augustín Ruiz.

Für die sandinistische Regierung wäre es ein Albtraum, wenn eigene Polizei die Chinesen mit Gewalt gegen die Campesinos verteidigen müsste. Doch noch geben sich die Behörden überzeugt, der Widerstand werde verebben, wenn sich die gut 7.000 betroffenen Familien erst einmal von der Großzügigkeit ihrer Entschädigungspakete überzeugt hätten. Doch die Bedenken, was es heißt, wenn ein Kanal vier Naturreservate und das größte Süßwasserreservoir Mittelamerikas (Nicaragua-See) durchzieht, können nicht einfach mit Geld ausgeräumt werden. Zu fragen ist ebenfalls: Wie wirkt sich der Bau auf die beiden Vulkane auf dem Ometepe-Archipel aus, einem Biosphärenreservat, zu dem ein tropischer Trockenwald mit der landesweit größten Biodiversität gehört?. Drei Dörfer an der Nordwestküste wurden bereits von chinesischen Ingenieuren vermessen, damit dort ein exklusives Feriendomizil errichtet wird, das zur Kanalzone gehören soll. Hier fürchten die Bewohner, besonders der Fischfang werde darunter leiden.
„Es werden keine Touristen mehr nach Ometepe kommen, warum sollten sie? Die Natur wird zerstört“, sagt Fremdenführer Norvin Somarriba. „Wenn wir verhindern, dass der Kanal gebaut wird, kann der Rest der Welt weiter zu uns kommen und die Wunder von Ometepe genießen.“ Nicht nur auf Ometepe ist die Fauna bedroht. Auch entlang der Pazifik- und Karibikküste dürfte das Leben von Walen, Delfinen und Meeresschildkröten von den Ausgrabungen, dem Lärm und der absehbaren Verschmutzung erheblich beeinträchtigt werden. Dem nicaraguanischen Centro Alexander von Humboldt zufolge sind durch den Kanal ein Dutzend ohnehin bedrohter Arten wie Tapire, Bechsteinaras, Klammeraffen und mehrere Froscharten betroffen.
Die künftigen Zäune des Kanals von der West- bis zur Ostküste werden auch den Mesoamerikanischen Biokorridor durchschneiden – eine geschützte Route, auf der sich gefährdete Arten in Mittelamerika bewegen können. Die Ingenieure sagen zwar, dass sie zwei Ökobrücken über den Wasserlauf bauen werden, doch Umweltschützern zufolge wird dies nicht ausreichen, um den Tieren genügend Bewegungsfreiheit zu geben. „Wenn der Kanal gebaut wird, bedeutet dies für den Mesoamerikanischen Biokorridor das Ende“, ist VÍctor Campos, Direktor des Centro Humboldt, überzeugt.
Und was geschieht mit dem Nicaragua-See, dem größten Süßwasserspeicher Mittelamerikas? Baupläne sehen vor, dass unmittelbar südlich von Ometepe ein 100 Kilometer langer Kanal in das Bett des Sees gegraben wird. Teilweise muss diese Fahrrinne durch Sprengungen gewonnen werden. Der See ist im Durchschnitt nur 15 Meter tief – kaum die Hälfte dessen, was die Supertanker benötigen. Es gibt eine vier Meter dicke Sedimentschicht am Grund des Sees. Wird die aufgelöst, trübt sich das Wasser ein und kann den Lebewesen dieses Biotops zum Verhängnis werden.
Mit Gottes Gnade
Am östlichen Ufer des Sees liegt der Ort San Miguelito, in dem Nereida Balladares ein kleines Hotel betreibt. Sie sitzt mit einem Enkel auf ihrer Veranda. Sie sei für den Kanal, weil ihn die Wirtschaft brauche. „Diese Stadt ist sehr arm. Die jungen Leute studieren nicht und haben auch keine Arbeit. Wir Alten werden nicht mehr lange hier sein, aber mit Gottes Gnade werde ich das erste Schiff noch sehen können.“ Für Balladares hat das Geschäft Vorrang. „Der Hotellerieverein steht dem Kanal sehr aufgeschlossen gegenüber.“
Nicaragua verzeichnet ein Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 150 Dollar pro Monat. Von dem Kanal erhofft man sich Investitionen um die 40 Milliarden Dollar – mehr als das derzeitige Bruttoinlandsprodukt. Dafür wird kein Risiko gescheut. Nicaragua opfert Teile seines Territoriums und souveräne Rechte. In der Anfangsphase des Projekts hat die Regierung fast nichts zu sagen. Erst ab 2024 werden dem nicaraguanischen Staat alle zehn Jahre jeweils Zehn-Prozent-Anteile an der Kanalgesellschaft übergeben, so dass er in gut 60 Jahren Mehrheitsanteilseigner wäre. Präsidentenberater Paul Oquist ist überzeugt, das Projekt werde es dem Land schon jetzt erleichtern, auf dem Finanzmarkt Kredite aufzunehmen. „Das ist die Chance, damit unsere Kinder und Enkel in einer gerechteren Gesellschaft leben“, sagt er. „Es gibt nichts anderes in Nicaragua, womit wir dies zu unseren Lebzeiten erreichen könnten.“
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