Das Schlimmste sei die Ungewissheit, sagt die Filmemacherin Laura Poitras: „Nicht zu wissen, ob ich an einem sicheren Ort bin oder nicht.“ Ob jemand lauscht. Dass sie überwacht wird, macht die journalistische Arbeit für die Amerikanerin „mühsam, aber nicht unmöglich“. Aber viel schwieriger ist es auf der persönlichen Ebene: „Ich versuche nicht daran zu denken, aber ich weiß immer noch nicht, ob meine Wohnung wirklich sicher ist. Wenn ich will, dass ein Gespräch nicht mitgehört wird, gehe ich nach daußen.“
Laura Poitras’ Dokumentarfilm Citizenfour über Edward Snowden ist gerade in den Kinos angelaufen. Monatelang war sie der einzige Mensch auf der Welt, der mit dem Whistleblower in Kontakt stand und überhaupt wusste, was er plante. Bis sie den Journalisten Glenn Greenwald vom Guardian einweihte. Wie erinnert sie sich heute an jene Zeit, als sie mit dem Mann, den sie nur als „Citizenfour“ kannte, ganz allein im Gespräch war? Poitras zögert und holt tief Luft: „Es war beängstigend, über Monate. Ich wusste, welches Risiko wir eingingen, und ich trug die Verantwortung dafür, keinen Fehler zu machen. Quellenschutz, Kommunikation, Absicherung – ich musste mit allem extrem vorsichtig sein.“
Unser Gespräch führen wir in Berlin. Schon vor Jahren, lange bevor sie Edward Snowden kennenlernte, zog Poitras in die deutsche Hauptstadt. Sie wollte von hier aus einen Film zum Thema Überwachung machen, denn nachdem sie im Jahr 2006 zwei Filme zum US-amerikanischen Krieg gegen den Terror gedreht hatte, fand sie sich auf einer Beobachtungsliste der Geheimdienste wieder. Bei jeder Einreise in ihre Heimat wurde sie nun verhört. „Sobald mein Flugzeug gelandet war, kamen Agenten an Bord, kontrollierten alle Pässe und brachten mich dann in einen Raum, in dem sie mich befragten. Mehrmals nahmen sie mir dabei alle elektronischen Geräte ab, meine Notizen, Kreditkarten, Computer, Kamera.“ Laura Poitras brauchte einen anderen, einen sicheren Ort. Und dieser Ort war Berlin.
Laura Poitras

Foto: Stan Honda/Getty Images
Geboren 1968 in Boston, oscar-nominierte Dokumentarfilmerin. In My Country, My Country und The Oath befasste sie sich mit dem amerikanischen Krieg gegen den Terror. Danach stand sie auf einer Beobachtungsliste der US-Regierung und an Flughäfen wurden routinemäßig ihre elektronischen Geräte, Aufzeichnungen und Kreditkarten beschlagnahmt. 2006 verließ Poitras die USA. Ihren Film über Edward Snowden, Citizenfour, hat sie in Berlin fertiggestellt
Mein Treffen mit ihr ist nur das erste in einer Reihe von Begegnungen mit Menschen, die entweder geheimdienstlich überwacht werden oder wurden, gegen Überwachung kämpfen oder im Auftrag der Bundesregierung zu den NSA-Aktivitäten in Deutschland ermitteln – oder die Technologie zum Schutz gegen die Schnüffelei entwickeln. Poitras ist mit ihren Erfahrungen, sich beobachtet zu wissen oder auch nicht zu wissen, aber ein unangenehmes Prickeln im Nacken zu fühlen, weil es ja sein könnte, hier also nicht allein.
Stasi und Holocaust
„Hier besteht ein echtes historisches Bewusstsein dafür, wie sich Informationen gegen Menschen verwenden lassen“, sagt Poitras. „So ein Gespür gibt es anderswo nicht. Es hat mit der Geschichte der Stasi zu tun, aber auch mit dem Nationalsozialismus. Jacob Appelbaum spricht viel von einem Buch namens IBM und der Holocaust, das beschreibt, wie die Nazis Lochkarten benutzten, um die Todeslager zu organisieren. Das soll nicht heißen, dass die NSA etwas Ähnliches machen würde, aber es zeigt, wie solche Überwachungsdaten missbraucht werden können und welche Gefahren in all dem liegen.“
Auch Jacob Appelbaum – ein Amerikaner, der das Anonymisierungsnetzwerk Tor mitentwickelt hat und für Wikileaks arbeitet – hat Zuflucht in Berlin gesucht, nachdem er festgestellt hatte, dass in den USA ein geheimes Gerichtsverfahren gegen ihn lief. Er war es, der Poitras riet, auch hierher zu kommen. „Ich habe ihn bei seiner Arbeit im Nahen Osten begleitet, wo er Aktivisten in Antiüberwachungstechniken schulte, und ich fragte ihn, wohin ich gehen könnte, weil mein Material in den USA nicht mehr sicher war. Er sagte: nach Deutschland, wegen der Datenschutzgesetze. Und nach Berlin, weil sich dort alle Antiüberwachungsgruppen versammelten.“
Jacob Appelbaum

Foto: John Thys/AFP/Getty Images
Geboren 1983, Internetaktivist, zählt zu den Entwicklern der Anonymisierungssoftware Tor. Als Wikileaks-Unterstützer war 2010 von dem Auskunftsersuchen betroffen, das die US-Regierung an Twitter richtete. Nach mehreren Verhaftungen in den USA zog er nach Berlin. Er unterstützte den Spiegel bei der Aufarbeitung der Snowden-Enthüllungen und machte die Überwachung von Angela Merkels Handy durch die NSA publik
Die deutsche Bevölkerung hatte auf die Snowden-Enthüllungen im vergangenen Jahr ganz anders reagiert als die britische und amerikanische. Als herauskam, dass sogar das Telefon von Bundeskanzlerin Angela Merkel abgehört worden war, empörte sich das ganze Land. Auch von meinen Gesprächspartnern in Berlin kommt jeder noch immer darauf zu sprechen.
Ich beginne mit drei prominenten „digitalen Exilanten“, um einen Begriff zu verwenden, den ich zuerst in einem Vortrag von Julian Assange gehört habe. Neben Poitras und Appelbaum ist das noch die Britin Sarah Harrison. Sie war wochenlang mit Snowden im Transitbereich des Moskauer Flughafens Scheremetjewo und half ihm, in 21 Staaten um Asyl zu bitten. Erst danach treffe ich noch viele weitere Aktivisten und gewinne den Eindruck, dass Berlin – die Stadt, die im Mittelpunkt so vieler historischer Brüche des 20. Jahrhunderts stand – nun abermals den Graben zwischen zwei gegensätzlichen Weltordnungen markiert. Und ich frage mich, ob die Leute, die ich treffe, den Anfang einer großen Bewegung bilden: Wird Berlin wirklich gerade zum Zentrum eines weltweiten digitalen Widerstands? Oder ist das ein zu großes Wort?
Martin Kaul arbeitet bei der taz als Redakteur für soziale Bewegungen, er reagiert auf meine Vision von Berlin als Sammelbecken für digitale Exilanten skeptisch. „Ein paar der Exilanten sind zwar sehr bekannt“, sagt er, „aber ich glaube nicht, dass es Hunderte oder auch nur Dutzende von ihnen gibt. Mich interessiert, ob es noch mehr werden. Jedenfalls stimmt es, dass es hier schon viele einflussreiche Gruppen gibt. Die Hackerkultur ist in Deutschland besonders stark. Nun kommen die Exilanten sozusagen als internationale Avantgarde hinzu.“ Es geht um die ideologische Bruchlinie zwischen einem freien, offenen Netz und einem Netz, in dem alles aufgezeichnet und katalogisiert wird. „Das ist schon eine Bewegung“, sagt Kaul. „Aber nicht auf der Straße. Berlin ist eher wie ein Labor, ein Versuchsraum, in dem Formen der Subversion, des Hacktivismus, des Cyber-Widerstands eingeübt werden. Denn wenn so etwas in Deutschland nicht funktioniert, wo dann?“
Sarah Harrison

Foto: Sean Gallup/Getty Images
Geboren 1982, britische Wikileaks-Mitarbeiterin und enge Vertraute von Julian Assange. In Moskau half sie Edward Snowden bei seinem Asylgesuch an 21 Staaten. Aus Furcht vor einer Anklage unter dem britischen Terrorism Act suchte sie danach in Berlin Zuflucht. Sie gründete die Courage Foundation, eine Stiftung zur weltweiten Unterstützung von Whistleblowern
Diese Frage treibt fast alle meine Gesprächspartner um, eben weil das Thema in Deutschland, und vor allem in Berlin, so viele Bezugspunkte hat, die Geschichte hier so gegenwärtig ist. Immer wieder, wohl ohne Absicht, schlagen mir meine Interviewpartner historisch bedeutsame Orte als Treffpunkte vor. So sitze ich mit Markus Hesselmann, Online-Chefredakteur beim Tagesspiegel, in einem Museumscafé im früher jüdischen Scheunenviertel. Es sei kein Zufall, sagt er mir, dass man in Berlin fast nirgends mit Kreditkarte zahlen könne: „Die Leute denken, warum soll jemand wissen, wofür ich mein Geld ausgebe?“
Und nachdem ich mich mit Martin Kaul in einem Café im Prenzlauer Berg unterhalten habe, setzt er mich in seinem Campingbus am S-Bahnhof Bornholmer Straße ab, also genau dort, wo im November 1989 die Grenze zwischen Ost- und Westberlin zuerst geöffnet wurde. Das ist überhaupt eine seltsame historische Koinzidenz: Wie die Maueröffnung liegt auch die Erfindung des World Wide Web genau 25 Jahre zurück. Und in dieser Zeit hat sich nicht nur die sichtbare Welt um uns herum drastisch verändert, sondern – wie wir seit Edward Snowden wissen – ebenso die unsichtbare, geheime. Also das, was über uns bekannt und aktenkundig ist.
NSA und GCHQ
Denn es gibt Akten über uns, auch das wissen wir seit Snowden. Am schlimmsten ist es in Großbritannien. Bezeichnenderweise reiste Laura Poitras zur Premiere von Citizenfour zwar wieder in die USA, nicht aber nach Großbritannien. Ihre Anwälte hatten ihr davon abgeraten. Denn zum einen geht die Sammelwut des britischen Geheimdienstes GCHQ noch weit über die der NSA hinaus; laut Snowden hört er schlichtweg „alles“ ab. Und zum anderen gibt es dagegen keinerlei verfassungsmäßige Schutzrechte, nicht einmal für Journalisten. Darauf weist mich auch Annie Machon hin, eine Snowden-Vorläuferin aus anderen Zeiten. Sie und ihr damaliger Partner David Shayler waren Agenten des britischen MI5, bis sie 1997 an die Öffentlichkeit traten. „Das war, relativ gesehen, eine goldene Zeit für den MI5. Die Macht des Dienstes hatte keine Grenzen. Da wurden Journalisten abgehört, Terroristen unterstützt, Geheimakten über Regierungsmitglieder geführt, Beweisstücke zurückgehalten, Unschuldige hinter Gitter gebracht …“
Annie Machon engagiert sich heute für andere Whistleblower, die sie die letzte Regulierungsinstanz nennt. Auch sie ist, zumindest zeitweise, nach Berlin übergesiedelt, um einer neuerlichen Überwachung zu entgehen. Das Problem der Briten mit ihrem Geheimdienst, sagt sie, sei vor allem James Bond: „Wir denken immer, die vom Geheimdienst seien die Guten.“ Ob sie es aber wirklich sind, darf von Gesetzes wegen niemand überprüfen.
Annie Machon
Geboren 1968, ehemalige Agentin des britischen Geheimdienstes MI5. Gemeinsam mit ihrem Partner David Shayler ging sie 1997 mit Belegen für kriminelle Aktivitäten des MI5 an die Presse. Shayler wurde später, nach europaweiter Fahndung, wegen Geheimnisverrats verurteilt. Machon engagiert sich bis heute für den Schutz von Whistleblowern
In Deutschland dagegen glaubt niemand, dass die Geheimdienstler die Guten seien. Hier kommt jeder auf die Stasi zu sprechen, wenn es um die Überwachungspraktiken der NSA geht, und ich frage mich, wie haltbar dieser Vergleich ist. Der Historiker Hubertus Knabe, Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, sagt mir, er habe sich im vergangenen Jahr beim Generalbundesanwalt beschwert: „Weil er nur im Fall der abgehörten Bundeskanzlerin ermitteln wollte und nicht im Fall der Bevölkerung. Er antwortete mir, im Fall der Kanzlerin sei klar, dass es ein Opfer gebe, während man wegen einer ‚Straftat gegen alle‘ nicht ermitteln könne. Ein Verbrechen gegen eine ganze Bevölkerung ist also ein Verbrechen gegen niemanden. Für mich ergibt das keinen Sinn.“
Die deutschen Gesetze zum Schutz der Privatsphäre zählen zu den strengsten der Welt. So ist es dem BND untersagt, die deutsche Bevölkerung auszuspionieren. Doch die NSA verfügt seit 1945 über eigene Standorte in Deutschland, und ihr Vorgehen unterliegt hier keinem Gesetz. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss unter Vorsitz des grünen Veteranen Hans-Christian Ströbele soll nun klären, wie viel der BND von den Machenschaften der amerikanischen Kollegen wusste. „Man wird uns gut darüber informieren, was der BND getan hat“, erzählt mir Ströbele in seinem Bundestagsbüro. Aber über die NSA und den GCHQ? Ströbele schüttelt den Kopf, darüber erfährt er nichts. Ist das nicht deprimierend? Auf dem Gebiet des deutschen Grundgesetzes keine Handhabe gegen die Aktivitäten dieser Dienste zu haben? „Ja, das ist es“, sagt er und nickt.
Und Hubertus Knabe von der Stasi-Gedenkstätte erklärt: „Ein offensichtlicher Wesensunterschied der Demokratie zur Diktatur war immer, dass man gegen niemanden ermittelt, der keine Straftat begangen hat. Unschuldige werden nicht überwacht. Doch dieser Unterschied im Verhalten eines demokratischen und eines totalitären Staats schwindet, und das finde ich höchst besorgniserregend.“ Dann erzählt er mir noch von einer Konferenz in der Gedenkstätte wenige Wochen zuvor: „Da wiederholte dieser Mann, ein früherer Stasi-Häftling, immer wieder die seltsamen Worte: ‚Ich bin eure Zukunft. Ich habe schon erlebt, was ihr noch erleben werdet.‘ Und er meinte das ganz ernst.“
Botschaft an die Leipziger
Bei der Deutschlandpremiere von Citizenfour während des Leipziger Dok-Filmfestivals wird, bevor der Film startet, ein Grußwort Edward Snowdens an die Leipziger ausgestrahlt. „Eure Geschichte hat mich inspiriert“, sagt er. „Es ist sehr wichtig, Lehren aus der Geschichte zu ziehen.“ Etwa jene, wie ein Regime „von normalen Leuten auf der Straße“ zu Fall gebracht werden kann.
Nach meinem Treffen mit Laura Poitras überrascht es mich nicht, dass Citizenfour so ein stiller, menschlicher Film ist. Er zeigt Snowdens Mut und Überzeugung, aber zugleich seine Verletzlichkeit und Jugend; und wie furchtbar bewusst er sich all dessen ist, was er aufgeben muss. Poitras tritt im Film als die sanfte und zurückhaltende Gegenstimme zum schrilleren Glenn Greenwald auf. An sie hatte sich Snowden zuerst gewandt, und ihre Routine und Geschicklichkeit im Umgang mit Verschlüsselungstechniken und anderen Sicherheitsvorkehrungen haben die ganze Geschichte erst möglich gemacht. Nicht nur Snowden erscheint hier als außergewöhnlich mutiger und prinzipienfester Mensch.
Nach der Premiere spreche ich in Leipzig mit Zuschauern aller Altersgruppen, und je mehr dieser Gespräche ich führe, umso beklommener wird mir zumute; umso schmerzlicher wirkt Snowdens Appell und umso abwegiger erscheint seine Vision, dass der Druck der öffentlichen Meinung einen politischen Umschwung herbeiführen könne. Jürgen Kleinig, ein 44-jähriger investigativer Filmemacher aus Berlin, sagt mir: „Es gibt ja gar keine politischen Konsequenzen. Das ist so eine massive Bedrohung, für die Demokratie, für alles, aber nichts hat sich geändert.“ Und Ulrike Böhnisch, eine 28-jährige Leipziger Dokumentarfilmerin, erklärt, theoretisch finde sie das alles beängstigend: „Aber dann denke ich, wen sollen meine dummen kleinen Liebesbotschaften an meinen Freund schon interessieren? Für normale Leute mit einem normalen, einfachen Leben ist das, glaube ich, nicht so ein Thema.“
Aber was, wenn sich doch wer interessiert? Was, wenn Ulrike dann in 20 Jahren beschließt, für den Bundestag zu kandidieren? Was, wenn sich in Deutschland die Regierungsform ändern würde? Wenn irgendwann in einer unbekannten Zukunft die „dummen kleinen Liebesbotschaften“ jemandem doch nicht mehr so dumm – oder unschuldig – vorkämen?
So etwas könnte geschehen, es ist schon geschehen. Anne Roth, eine Politologin, die derzeit für den NSA-Untersuchungsausschuss forscht, erzählt mir die erschreckende Geschichte, wie sie, ihr Mann und ihre beiden Kinder, damals zwei und vier Jahre alt, in einer „Datenschlinge“ gefangen wurden. Wie ein Geheimdienst-Algorithmus ihren Mann, den Soziologen Andrej Holm, der vor allem über Gentrifizierung forscht, als Terrorverdächtigen ausmachte – anhand von sieben Wörtern, die er in wissenschaftlichen Aufsätzen verwendet hatte. „Eins dieser Wörter war ‚Identifizierung‘“, sagt sie, „eins war ‚Framework‘ und ein weiteres ‚marxistisch-leninistisch‘.“ Grund genug, um die Familie ein Jahr lang unter geheimdienstliche Beobachtung zu stellen. Und eines frühen Morgens im Jahr 2007 stürmten bewaffnete Polizisten ihre Berliner Wohnung und nahmen Holm fest, weil er angeblich einen Terroranschlag plante.
Wie sie darauf kamen? „Über seine Metadaten“, erklärt Anne Roth. „Zum Beispiel, welche Telefonnummern er gewählt hatte. Dass er mit Verschlüsselungstechniken arbeitete – höchst verdächtig. Und dass er manchmal ohne Handy aus dem Haus ging.“ Nach einem internationalen Aufschrei kam er drei Wochen später wieder frei, doch die Episode hat bei Anne Roth ihre Spuren hinterlassen: „Selbst im Bad schaue ich mich dauernd um, ob irgendwo eine Kamera sein könnte.“
Im Unterschied zur Stasi sei die heutige Überwachung abstrakter und verletze die persönlichen Gefühle nicht so sehr, sagen manche. Aber ist der Unterschied wirklich so klar? Zwar argumentiert auch Mathilde Bonnefoy, die bei Citizenfour den Schnitt gemacht hat, erst einmal ähnlich: „Es ist ja eine Überwachung von Kommunikationsdaten, keine persönliche Überwachung. Die Bedrohung bleibt also weitgehend theoretisch. Nicht so, dass du weißt, da steht einer an der Straßenecke und späht dich aus.“ Die Französin lebt seit vielen Jahren in Berlin, arbeitete für Tom Tykwer, Wim Wenders und andere; dreht auch eigene Filme. Aber seit der Arbeit an Citizenfour kommt es ihr doch so vor, als stünde sie unter unablässiger und zugleich ungreifbarer Beobachtung. Ein Freund von ihr schiebt mir während des Gesprächs sein Telefon über den Tisch und sagt: „Ich glaube, hiermit kannst du direkt zu ihnen sprechen.“
Mathilde Bonnefoy hat beschlossen, dieses ungute Gefühl zu ignorieren. So hätten es die Dissidenten in der DDR auch gemacht, sagt Knabe, als Akt des philosophischen und politischen Widerstands. Und ich frage mich im Gespräch mit Mathilde Bonnefoy, was eigentlich die Alternative sein könnte. „Es gab einen Moment“, erzählt sie, „in dem wir uns ganz sicher waren, dass wir abgehört wurden. Von da an unterhielten wir uns zu Hause nur noch im Flüsterton und in elliptischen Sätzen. Bis mein Freund sagte: Wir dürfen nicht zulassen, dass das unser Leben so sehr verändert. Aber noch heute gibt es Dinge, über die wir vorsichtshalber nicht reden.“
Der Vergleich mit dem Film Das Leben der Anderen ist an dieser Stelle unvermeidlich. Laura Poitras erzählt mir, wie ein Geheimdienstler ihr mal steckte, dass ihr und Glenn Greenwald vermutlich ein eigener Psychologe zugeordnet war: „Das ist jemand, der auf deine Freunde aufpasst und vorauszusehen versucht, was du als nächstes machen wirst.“ Aber selbst ohne solche Schattenwesen stellt sich die Frage, ob diese moderne Version der sogenannten Funkaufklärung weniger zudringlich ist als die alte. Man denke an Andrej Holms Metadaten oder daran, dass sich aus den Google-Suchanfragen eines Menschen schon ein Psychogramm erstellen lässt. „Damit bin ich extrem vorsichtig“, sagt Poitras. „Für verschiedene Zwecke benutze ich verschiedene Rechner.“
Überall in Berlin arbeiten Menschen daran, Technologie mit Technologie zu bekämpfen. Sie schaffen die zeitgemäßen Entsprechungen zu den eingeschalteten Radios oder laufenden Wasserhähnen, mit denen sich DDR-Bürger gegen die Lauscher zur Wehr setzten. Ich treffe Claudio Agosti von Globaleaks, einer Plattform „wie Wikileaks, nur Open Source“, und die Britin Stephanie Hankey, Leiterin der Antiüberwachungs-Organisation Tactical Tech, die ihren Sitz vor einigen Jahren nach Berlin verlegt hat. Ich treffe auch Christian Mihr, den Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, der sich auf internationale Fälle von digitaler Repression spezialisiert hat und verfolgten Journalisten aus aller Welt hilft, in Berlin Schutz zu finden.
Aber erst als ich mit Andy Müller-Maguhn vom Chaos Computer Club (CCC) spreche, begreife ich langsam, was hier geschieht. Wo ich auch hingehe: Alle reden vom CCC. Er sei eine der einflussreichsten Organisationen in der digitalen Welt, das Herz der deutschen Netz- und Hackerkultur, des Hacktivismus, und die wichtigste Schnittstelle für alle Debatten über demokratische und digitale Rechte. Seit 1990 hält er jedes Jahr seinen Kongress ab, mit über 10.000 Teilnehmern. „1990 kam die Hälfte von ihnen aus dem Osten und die andere, wie ich, aus dem Westen“, berichtet Müller-Maguhn. „Damals war es hier einfach, gegen Regeln zu verstoßen. Alles war billig und die Infrastruktur ziemlich mies. Es war aber auch die Zeit, als gerade nach und nach enthüllt wurde, was die Stasi in der DDR gemacht hatte. Und zwar mit unglaublicher Transparenz; selten ist ein Geheimdienst so gut dokumentiert worden. Wir kamen an all diese Handbücher heran: ‚Wie man soziale Bindungen zerstört‘, ‚Wie man Misstrauen organisiert‘, ‚Wie man politische Bewegungen zerstört. Und wir diskutierten darüber im Club. Wir wussten sehr genau, wie Geheimdienste arbeiteten. Schon bei unserer Gründung war das ein ganz wichtiges Thema.“
Andy Müller-Maguhn
Geboren 1971, langjähriges Mitglied und ehemaliger Sprecher des Chaos Computer Clubs. Zwischenzeitlich war er auch europäischer Direktor der Organisation ICANN, der die Zuteilung der Domainnamen und IP-Adressblöcke für das Internet obliegt. Als Berater von Julian Assange beteiligte er sich am Fundraising für Wikileaks. Seit 2002 betreibt er das „Datenreisebüro“ und befasst sich dort mit Fragen rund um Datenschutz und Datensicherheit
Der CCC hat einen großen Anteil an dem, was heute als Internetkultur gilt. „Die Macht, die wir hatten“, sagt Müller-Maguhn, „war die Macht der Definition. Wir halfen den Leuten zu verstehen, wie Technologie und Gesellschaft zusammenhingen. Und anders als in den USA oder Großbritannien konnten wir unsere Vorstellungen auf positive Weise einbringen.“ Darum ist die Hackerkultur in Deutschland auch so viel stärker als anderswo in der Welt und vor allem in Europa und gilt weithin als eine Kraft des Guten. Zu ihren Grundlagen zählt ein Misstrauen gegen jegliche Autorität. Sie nimmt die digitalen Rechte ebenso wichtig wie die anderen Menschenrechte, und es lässt sich eine geistige Verbindungslinie zwischen dem CCC und einer der bewegendsten Szenen aus Laura Poitras’ Film ziehen. Darin spricht Edward Snowden von der Begeisterung, mit der ihn schon als Kind das Internet erfüllte, „die großartigste Erfindung, die die Welt je gesehen hatte“, und von seiner Entschlossenheit, diese Vision zu verteidigen.
Ein bisschen totalitär
Einen besonderen Eindruck hinterlässt das Treffen mit der Feministin und Netzpolitikerin Anke Domscheit-Berg, 1968 in der DDR geboren. Vor dem Mauerfall hatte sie begonnen, Textilkunst zu studieren, und sie erzählt mir, wie die Stasi versuchte, sie als Informantin zu gewinnen. „Wenn es heute um die NSA geht, sagen die Leute: ‚Ich habe nichts zu verbergen.‘ Aber so etwas wie unschuldige Daten gibt es nicht. Ich hatte damals vor den DDR-Behörden einiges zu verbergen, aber das benutzten sie gar nicht, um mich zu erpressen. Sie erpressten mich mit der Arbeit meines Vaters. Er war Arzt im Staatsdienst, und sie sagten mir: ‚Ist es Ihnen gleichgültig, was mit Ihrer Familie passiert, wenn er seine Arbeit verliert?‘ Jede Information, die über dich gesammelt wird, kann auch gegen dich verwendet werden. Heute haben wir zum ersten Mal eine ganze Generation, über die alles bekannt sein wird. Wir wissen nicht, was das bedeuten kann. Wie das vielleicht eines Tages gegen sie verwendet wird. Ich schaue mir meinen Vater an, er ist jetzt 80 Jahre alt und hat nur den kürzesten Teil seines Lebens in einer Demokratie verbracht. Und deshalb müssen wir handeln – jetzt. Auch wenn es hoffnungslos aussieht. 1989 sah es auch hoffnungslos aus.“
Sie fühle sich verantwortlich, fügt sie hinzu: „Ich komme mir vor, als würde ich in eine Kristallkugel schauen, in der andere nur Nebel sehen. Aber ich erkenne da ein deutliches Bild und fühle mich verpflichtet, es den Leuten zu sagen. Ich sehe die Werkzeuge eines totalitären Systems. So wie du nicht nur ein bisschen schwanger sein kannst, kannst du auch nicht nur ein bisschen totalitär sein, ohne dabei die Demokratie zu zerstören. Und wir in dieser Stadt, wir wissen, wo das endet.“
Laura Poitras erzählt mir, wie sie begonnen hat, sich selbst zu zensieren. „Es geht nicht darum, ob sie dich beobachten oder nicht, sondern darum, dass du es nicht weißt. So wird diese Art von Staatsmacht gewissermaßen ein Teil von dir.“ Und Anke Domscheit-Berg sagt: „Sobald du mit der Selbstzensur anfängst, verlässt du den Weg der freien Rede. Viele hier in Berlin vermeiden bestimmte Wörter oder lassen ihre Telefone in einem anderen Zimmer liegen. Die haben ihre Freiheit schon verloren.“
Habe ich das auch? Hat sich mein Online-Verhalten geändert? Möglicherweise. Früher sind meine Gedanken übergangslos vom Kopf durch die Finger ins allwissende weiße Google-Rechteck geflossen. Und jetzt? Eine kurze Pause. Ein Zögern. Da hat sich zwar kein eiserner Vorhang herabgesenkt, aber irgendetwas schon. Ich werde beobachtet. Das werden Sie übrigens auch. Und wenn Sie glauben, das mache nichts aus, gehen Sie nach Berlin! Schauen Sie sich an, wohin Überwachung führen kann.
Übersetzung: Michael Ebmeyer
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