Einmal falsch abgebogen, und man landet in einer anderen Welt
Foto: Francine Orr/Los Angeles Times/Getty Images
Inmitten einer der glamourösesten Städte auf Erden überdauert ein Elendsviertel, so trostlos wie kaum ein anderes in der industrialisierten Welt – die Skid Row von Los Angeles. Skid Row war einst ein fester Begriff für die ärmsten Bezirke amerikanischer Großstädte. In L. A. findet man den letzten seiner Art. Er verdankt sich einem lange zurückliegenden schweren Planungsfehler in der kalifornischen Metropole. Die aktuelle Debatte, was aus dem Quartier werden soll, lässt erst erkennen, was für ein Mammutprojekt die Umgestaltung von Los Angeles zu einem im herkömmlichen Sinn urbanen Raum ist. Das Elendsviertel wird zum Schlachtfeld, auf dem sich die Zukunft der Stadt entscheidet.
Dabei gilt der Begriff nicht nur in übertragener
rtragener Weise. Unlängst erregte der Tod eines 43-jährigen Einwohners Aufsehen. Auf den Mann, der in der Gegend als „Cameroon“ bekannt war, hatten gleich mehrere Polizisten auf einmal das Feuer eröffnet, nachdem er ihnen angeblich eine Pistole entrissen hatte. Die genauen Umstände sind nicht geklärt. Das Opfer hatte in einem Zelt an der Ecke San Pedro und 6th Street gelebt. Jeder in Los Angeles kennt diese Zelte – sie werden immer zwischen 21 und 6 Uhr aufgebaut, wenn die Polizei beim Straßencamping ein Auge zudrückt. Von der Disney-Konzerthalle aus nur einmal falsch abgebogen, und man findet sich in einer anderen Welt wieder, wo die Lagerplätze der Drogenabhängigen und psychisch Kranken Block um Block die Gehwege bedecken.„Der Kontrast ist erschreckend“, sagt Brigham Yen, Immobilienfachmann und Chronist des innerstädtischen Umbaus in L. A. „Nur einen Block entfernt können Sie die neue Downtown sehen, mit ihren schicken Bars und Läden. Dann kommen Sie in die Skid Row, und so etwas Schlimmes ist Ihnen noch nie widerfahren. Vor allem die Gerüche werden Sie nie mehr vergessen.“Einen sehr persönlichen Blick auf die Luden, Huren und Drogendealer, die nachts das Viertel bevölkern, bietet der Dokumentarfilm Los Scandalous des australischen Regisseurs Shanks Rajendran. „Als ich zum ersten Mal durch diesen Bezirk fuhr, war ich starr vor Angst. Der Schock, in Amerika, dem großartigsten Land der Welt, auf einen solchen Ort zu treffen, trieb mich an, dies zu filmen und das Projekt „Das Spiel der Skid Row“ zu nennen.Unter den großen TeppichRajendran sah, während er in der Skid Row forschte und filmte, keine Gewaltausbrüche: „Es hielten alle zusammen, um nicht von der Polizei erwischt zu werden. Nahte eine Patrouille, zerstreuten sie sich routiniert, um danach wieder ihre üblichen Plätze einzunehmen. Das war traurig, weil sich die Bewohner der Skid Row mit ihrem Rauswurf aus der Gesellschaft abgefunden hatten.“2014 lebten in Downtown L. A. 52.400 Menschen, fast doppelt so viele wie noch 2000, Tendenz steigend. 17.740 davon entfallen auf die Skid Row, während die Zahl der Obdachlosen auf bis zu 6.000 geschätzt wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg vom Exodus in die Suburbs ausgehöhlt, bot die Innenstadt von L. A. jahrzehntelang einen besonders hoffnungslosen Anblick. Der Architekturhistoriker Reyner Banham, ein unbeirrbarer L.-A.-Enthusiast, gab einem Kapitel seines Buchs Los Angeles: The Architekture of Four Ecologies die Überschrift:A Note on Downtown und schrieb: „Mehr als eine Bemerkung ist die Innenstadt von Los Angeles nicht wert.“Das Buch erschien Anfang der 70er Jahre, als gerade eine Koalition unter Beteiligung des damaligen Bürgermeisters Tom Bradley und der für die Stadtsanierung zuständigen Community Redevelopment Agency die verhängnisvolle Entscheidung getroffen hatte, die Hilfsmittel auf die Obdachlosen von Downtown zu konzentrieren – auf das Gebiet, aus dem dann die Skid Row wurde. Über 70 staatliche und private Organisationen wirkten an diesem groß angelegten Zentralisierungsprojekt in der berühmten „Stadt ohne Zentrum“ mit. Sie füllten die leere Mitte mit Nachtasylen, Suppenküchen und Rettungsmissionen.Damals schien die Skid Row ein sinnvolles Phänomen zu sein. Sie bot alles auf, um „Unerwünschte“ in einem Teil der Stadt zu halten, in dem – von den Büroangestellten tagsüber abgesehen – neben Obdachlosen und den Bewohnern von Absteigen allenfalls ein paar Rentner lebten, weit entfernt von Vorstädten wie San Fernando Valley, in denen die politisch wichtigere Wählerschaft residierte.„Damals war Downtown eine Geisterstadt“, sagt Brigham Yen, der Chronist, „ein großer Teppich, unter den man die Obdachlosen kehren konnte.“ Nun aber, da ebendiese Downtown zu einer der begehrtesten Wohnlagen von L. A. werden soll, wirkt die Planung von einst furchtbar kurzsichtig. Andererseits – auch wenn schon zehn Häuserblöcke Neubauten weichen mussten: In der Skid Row offenbart die Gentrifizierung bisher wenig sichtbare Folgen; zu den Ausnahmen zählt die Renovierung des King Eddy, das als Lieblingskneipe von Charles Bukowski galt. Doch locken die niedrigen Mieten nun die ersten „urbanen Pioniere“. Einer von ihnen ist Jinsoo An. In einem Gebäude in der San Pedro Street hat er sowohl die Wohnung als auch seine Firma Kokiri Lab, einen „Hackerspace“, eingerichtet.Die bösen BauherrenVon hier aus kann An die Sisyphos-Mühen der Stadtverwaltung, die Skid Row zumindest halbwegs sauber zu halten, hautnah verfolgen. „Einmal pro Woche baggert eine ganze Armee von Putzleuten die Straßen wieder frei von all dem Müll und fordert die Obdachlosen auf, ihre Sachen zu packen. Ich hatte davon gehört, wie teuer es für die Stadt sei, wenn Leute auf der Straße leben, und konnte nicht verstehen, woher die Kosten kamen. Nun sehe ich es vor mir.“ Es dauere aber nie lange, bis seine Straße „die Mischung aus Abfall, Pisse und Scheiße“ zurückhabe: „Ich habe gelernt, mich über ein Gewitter zu freuen. Danach kann ich atmen.“Noch sind es sehr wenige, die wie An tatsächlich in die Skid Row ziehen oder dort Geschäfte eröffnen. „Die Skid Row hat verhindert, dass Downtown zu schnell im Mainstream ankommt“, sagt Yen. „Sonst wären die ganzen großen Ladenketten schon da, aber mit der Zeit werden sie trotzdem kommen.“ Für Yen war die Skid Row bisher eine Zone „verfehlter Menschlichkeit“, Schuld daran seien die Behörden von Los Angeles County: „Alle Sozialleistungen in der Skid Row wurden von Steuergeldern des Countys bezahlt, und dabei ist die Bezirksregierung in ihrem Umgang mit dem Obdachlosenproblem katastrophal gescheitert.“ Die jetzt erwogene Dezentralisierung der Skid Row, das sei aus seiner Sicht der einzige Weg, um etwas gegen die Spannungen zwischen dem Elendsviertel und dem Rest der City zu tun.Zwar gibt es nach wie vor auch Fürsprecher einer Skid Row für die Obdachlosen, doch diese Anwälte des Status quo leben zumeist weit von jenem sozialen Brennpunkt entfernt. „Diese Leute missachten“ – so Yen –, „dass die Menschen, für die sie sich einsetzen, unter den fürchterlichsten Bedingungen verrecken, die in den USA überhaupt vorstellbar sind. Solche Unterstützer sehen immer die großen, bösen Bauherren, die in Downtown eindringen und die Armen vertreiben. Doch wären die reichen Hipster nicht hier, niemand hätte das Thema zurück auf die politische Agenda gebracht. Dann würden die Obdachlosen nur noch mehr in Vergessenheit geraten.“Von denen abgesehen, die sich aus der Ferne um die Skid Row sorgen, gibt es aber auch welche, die vor Ort anpacken. Pastor Kevin Haah etwa, Mitbegründer der New City Church. Seine Gemeinde aus Skid-Row- und Loft-Bewohnern versammelt sich nur wenige Häuserblöcke von der Stelle entfernt, an der „Cameroon“erschossen wurde. Auf die Idee, die beiden so himmelweit verschiedenen Bevölkerungsgruppen von Downtown in einem gemeinsamen Gotteshaus zusammenzubringen, kam Haah, weil er vor Jahren als Straßenseelsorger in der Skid Row arbeitete. „So schlimm die Zustände heute sind, damals waren sie noch viel übler. Auch ist die Gegend nicht so gefährlich, wie man denkt“, sagt Haah. „Hier hat zum Beispiel keine Gang das Sagen. Und längst nicht alle haben sich aufgegeben, die meisten versuchen den Weg der Genesung zu gehen. Sosehr Armut und Drogensucht immer noch grassieren, bieten sich doch Chancen. Ja, es gibt nicht genug Wohnraum in der Skid Row, aber niemand muss hungern.“Der Zorn der EingesessenenAls das Comeback der Innenstadt begann, erinnert sich Haah, „dachte man, alle billigen Wohnungen würden nun in protzige Lofts verwandelt und die Skid-Row-Menschen hinausgedrängt. Aber ich sehe nicht, dass das geschieht. Es sind sogar neue billige Wohnungen gebaut worden. Das Wort ‚Gentrifizierung ̒mag ich nicht. Vieles, was jetzt geschieht, hat positive Wirkung auf das Skid-Row-Milieu.“Der Zorn der Eingesessenen richtet sich derzeit ohnehin weniger gegen die Loft-Bewohner als gegen die Polizei. Die Schüsse auf „Cameroon“ haben nicht nur Empörung ausgelöst, sondern auch das alte Misstrauen vertieft. „Das ist in mehrfacher Hinsicht schwer zu schlucken“, sagt Haah. „Dass so viele Schüsse abgegeben wurden und so viele Polizisten beteiligt waren.“Ansonsten fehlt es Haah nicht an Zuversicht. „Die Skid Row verschwindet nicht. Sie ist das Zentrum der sozialen Dienste in der Stadt. Allerdings wird die Grenze, die sich durch Downtown zieht, verschwimmen.“ Gerade deshalb sei es so wichtig, „die beiden Teile nicht als Gegner zu betrachten. Wir sind zusammen eine Gemeinschaft. Wir müssen miteinander auskommen, aber meine Vision geht noch weiter: Wir müssen einander wertschätzen. Wir brauchen die Loft-Bewohner nicht, um der Skid Row zu helfen. Die Menschen hier tragen Erstaunliches zur Lebenskraft der Innenstadt bei. In der Skid Row gibt es mehr spirituelle Schwingungen als irgendwo sonst!“Die Spannungen zwischen den Fürsprechern der Skid Row und dem Rest von Downtown werden sich indes kaum von allein auflösen, zumal die Immobilienpreise nun nicht mehr nur rings um die Skid Row ansteigen, und die Stadt Los Angeles nach wie vor beispiellos wenig feste Unterkünfte für Obdachlose schafft; nicht zuletzt ein Grund, der zur polizeilichen Duldung nächtlicher Zeltdörfer führt.Und doch, sagt wiederum Yen, hat gerade die Skid Row den in L. A. immerzu aufgeschobenen Traum von der lebendigen Straßenkultur in gewisser Weise verwirklicht: „Hier sind Mengen von Leuten unterwegs, es ist eine Szenerie, wie man sie in New York erwarten würde. Die Straßen leben, die Menschen gehen spazieren, versammeln sich, nutzen die Grünflächen aus. Aus stadtplanerischer Perspektive kann man das hochinteressant finden – bloß ist eben die himmelschreiende Armut nicht zu übersehen.“„Viele von den Bewohnern sind sehr freundlich“, sagt Brian Tompkins, Leiter für soziale Projekte bei der Hilfsorganisation Weingart Center. „Sie erkennen und grüßen mich, und ich sehe, wie manche von ihnen ihren kleinen Straßenabschnitt pflegen wie eine Wohnung. Andererseits bricht mir auch vieles hier das Herz. Die psychisch Kranken, die brüllen, um sich schlagen und sich eindrecken – die von irgendeinem Alptraum gefangen sind. Die jungen Leute, die ganz ordentlich aussehen, wenn sie hier auftauchen, und dann nach ein paar Wochen nur noch Haut und Knochen sind, die Gesichter voller Wunden, die Zähne verfault. Manchmal sieht man Tote auf den Straßen.“Dass nun „normale Menschen“ wieder erste Schritte in die Skid Row wagen, mag nach den vergangenen düsteren Jahrzehnten als Lichtblick für die Zukunft erscheinen. Doch wird der nun wohl unaufhaltsame Wandel schmerzhaft sein. Die Frage bleibt: Wie schmerzhaft?Placeholder authorbio-1
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