9.30 Uhr
Hier stehe ich nun am Kreisverkehr von Hanger Lane im Westen Londons, einen braunen Lederhut auf dem Kopf und ein rot-gepunktetes Tuch um den Hals (die Tramp-Tipps bei Wikipedia empfehlen fröhliche Kleidung, um den Leuten Harmlosigkeit zu signalisieren), in der Hand einen Pappkarton mit der Aufschrift Oxford, meinem ersten Ziel. Ich sehe aus wie ein entlaufener Pfadfinder auf der Flucht und entsprechend rechne ich damit, noch bei Einbruch der Dunkelheit an dieser Auffahrt zur M40 zu stehen.
Ich bin noch nie zuvor getrampt und etwas aufgeregt. In der vergangenen Nacht habe ich schlecht geschlafen und nur von Zurückweisung und Scheitern geträumt – ich sah nur Schwierigkeiten auf mich zukommen. Theoretisch finde ich Trampen gut. Es ist umweltfreundlich, bringt einen mit Menschen in Kontakt und hat etwas Anarchisches ... Aber wer in aller Welt soll einen großen, dicken Typen mit einem Lederhut und einem gepunkteten Halstuch mitnehmen? Mein Plan lautet, in einem Tag zum Festival nach Hay zu kommen. Das hört sich einfach an. Das Problem ist nur, dass in unserer von Angst bestimmten Gesellschaft so gut wie niemand mehr trampt. Der Mangel an einer kritischen Masse von Trampern führt bei Autofahrern zu der Ansicht, bei allen verbliebenen Trampern müsse es sich zwangsläufig um Axtmörder handeln. Derart negativ sind meine Gedanken, aber wenigstens ist das Wetter schön – warm und sonnig, ein herrlicher Frühlingstag.
9.35 Uhr
Unglaublich – und, Leser, Du wirst es nicht für möglich halten – die negativen Gedanken sind mit einem Mal wie weggeblasen. Nachdem ich die passierenden Fahrer fünf Minuten lang flehentlich angesehen habe, hält ein Mann in einem blauen, oben geöffneten Porsche Boxter an. Er riskiert Leib und Leben, um auf der Straßenseite auszusteigen und mein Gepäck im Kofferraum zu verstauen, und schon bin ich weg. Er kann mich den ganzen Weg bis nach Oxford mitnehmen. Ich glaube, ich träume.
John ist Anwalt, in mittleren Jahren und auf dem Weg nach Midlands. Warum hat er angehalten? „Ich war schlicht überrascht“, sagt er. „Ich habe seit Ewigkeiten keinen Tramper mehr gesehen und vorher auch noch nie einen mitgenommen.“ Wir diskutieren über die möglichen Gründe dafür, dass immer weniger Leute per Anhalter unterwegs sind. John sieht den Hauptgrund in der Angst, angegriffen zu werden, womit er sicherlich einen wichtigen Punkt trifft. Der wahre Grund aber ist wesentlich banaler: Wer ist schon auf's Trampen angewiesen, wo drei Viertel der Leute Zugang zu einem Auto haben? Bei dem verbleibenden Viertel dürfte es sich zum großen Teil um ältere Leute handeln, was die Gruppe an potentiellen Trampern noch weiter einschränkt. John bezweifelt, dass das Trampen jemals wieder eine Renaissance erleben wird, für Internet organisiertes Car-Sharing sieht er jedoch durchaus eine Zukunft.
Er saust die Autobahn entlang, während ich meinen Hut festhalte. Ich erkläre ihm, dass ich auf dem Weg zum Hay-Festival bin und wir reden über Bücher, hauptsächlich Hemingway. Er war schon im Hemingway-Museum in Key West und will jetzt dann bald "Der alte Mann und das Meer" lesen. Er erzählt mir, dass er immer abwechselnd ein schlechtes und dann wieder ein richtig gutes Buch liest, jetzt sei wieder ein gutes dran. Alles läuft in unglaublich zivilisierten Bahnen ab. Die Sonne scheint, die Landschaft von Oxfordshire rast an uns vorbei, meine Ängste haben sich gelegt.
Ich werde den Tag nicht am Kreisverkehr zubringen. In Oxford angekommen, reichen wir uns die Hände und gehen unserer Wege. John lässt mich auf einem Parkplatz an der A40 raus und ich esse zur Feier meines Erfolges ein Speckbrötchen von dem fahrenden Händler, der dort parkt.
11.00 Uhr
Ich finde einen guten Platz an der Ausfahrt des Parkplatzes und packe mein Cheltenham-Schild aus – blauer Filzschreiber auf einem großen Stück weißer Pappe. Ich habe ein halbes Dutzend Schilder dabei, die ich jetzt aussortiere wie Bob Dylan in seinem Video zu "Don`t look back". Nach zehn Minuten startet ein Wagen und der Fahrer winkt mich heran. Er sagt, er könne mich nicht weit mitnehmen, werde mich aber an einem Kreisverkehr an der A40 absetzen, wo ich bessere Aussichten hätte, nach Cheltenham mitgenommen zu werden.
Der gute Samariter ist um die 70, ein pensionierter Chirurg, der sich nun als Bienenzüchter versucht. Der Rücksitz des Wagens ist mit Imker-Ausrüstung beladen, die er gerade gekauft hat. Während der fünf oder sechs Meilen, auf denen wir gemeinsam unterwegs sind, lerne ich unglaublich viel über Bienen: Die diesjährige Saison läuft besser als die des Vorjahres, in den USA ist die Lage immer noch kritisch und sie müssen dort Bienen aus Australien importieren. Die kommerziellen Bienenstöcke, die in den USA überlebt haben, sind drastisch im Wert gestiegen. Wenn dein Stock nicht durch Krankheit zugrunde gegangen ist, geht es dir als amerikanischer Bienenzüchter im Augenblick ausgezeichnet.
Er sagt, er nehme gerne Anhalter mit. „Es mach Spaß, jemandem einen Gefallen zu tun. Als Student, bin ich überall hin getrampt. Ich muss allein für den Hin- und Rückweg zur Uni an die 10.000 Meilen zurückgelegt haben.“ Das muss um 1960 herum gewesen sein, als es noch keinen Ford-Cortina gab, vor der Ära des massenhaften Individualverkehrs. Das war auch vor dem Horrorstreifen "Hitcher, der Highway Killer" – der 1984 erschienene Film von Hauer markiert nach Meinung vieler einen wichtigen Punkt für das Aussterben des Trampens. Doch auch wenn Hauers Anhalter ein übler Psychopath ist, bleibt doch fraglich, ob er das Aussterben des Trampens allein zu verantworten hat.
11.45 Uhr
Ich werde an einem Kreisverkehr nördlich von Oxford abgesetzt und gehe ungefähr eine Meile, bis ich einen guten Platz finde, um mein Glück erneut zu versuchen. Der Himmel hat sich zugezogen und Regen hängt in der Luft, aber ich fühle mich frisch, bin zuversichtlich und angenehm selbstvergessen. Die meiste Zeit über genieße ich es: die offene Straße, die Landschaft und den Zufall, der mich hierher verschlagen hat. Ich sitze auf einer Leitplanke, esse einen Bakestone - eine Art walisisches Wasserbrötchen -, trinke ein wenig Wasser, pinkle in eine Hecke, sehe mir einen toten Dachs im Straßengraben an und versuche mein Glück auf's Neue.
Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die Autos sind relativ schnell unterwegs und es gibt nirgends eine Möglichkeit anzuhalten, also gehe ich noch zwei Meilen, bis ich zu einem weiteren fahrenden Imbiss komme, auf dessen Dach eine St.-George-Flagge, die an einem sehr schlecht befestigten und gleichzeitig sehr langen Masten hängt. Ich trinke eine Tasse Tee und esse noch einen Bakestone. Während ich esse, fällt der Fahnenmast herunter und verfehlt mich nur um Zentimeter.
13.00 Uhr
Habe dem türkischen Imbisswagenbetreiber geholfen, die Flagge wieder zu hissen und hole mein Cheltenham-Schild wieder heraus. Innerhalb weniger Minuten hält ein grünes Auto an, an dessen Steuer ein junger Mann in Militärkleidung sitzt. Er streckt seine Hand aus. „Harley“, sagt er - sein Vater verkauft in Österreich Motorräder. Während der ungefähr 30 Meilen, die wir zusammen unterwegs sind, erfahre ich Harleys Geschichte: Hauptschule, mit 16 zur Armee, heute 28 und Panzerkommandant, liebt seinen Job und möchte für immer bei der Truppe bleiben, befehligte 2003 bei der Invasion Bagdads den dritten Panzer, der in die Stadt hineinrollte. Er kommt gerade von einem weiteren Irak-Einsatz nach Hause, war auch schon in Afghanistan, ist in Deutschland stationiert und jetzt auf dem Weg zu seiner Frau und seinen drei Kindern in Taunton.
Warum hat er einen Anhalter mitgenommen? „Es gibt in der Welt viel zu viel Negativität. Zu viel Gerede darüber, Trampen sei gefährlich – die positiven Seiten kommen dabei viel zu kurz. Trampen ist wie das Leben“, sagt Harley. „Du triffst jemanden, reist ein Stück mit ihm, dann trennt ihr euch wieder und geht eurer Wege.“ Als wir die Außenbezirke von Cheltenham erreichen, ist es für uns soweit und ich trenne mich von diesem tiefsinnigen und nachdenklichen jungen Mann.
14.30 Uhr
Ich weiß nicht, wo ich bin und brauche eine Karte. Auch werde ich müde, was nicht an der Reise, sondern an den Gesprächen liegt. Es ist wie auf einer unendlich langen Party, auf der man zu allen nett sein und sich immerzu kopfnickend ihre Sorgen anhören muss. Ich finde eine Kneipe, trinke ein Pint Indian Pale Ale und esse meine mittlerweile leicht matschigen Schinken-Käse-Sandwiches, die ich auf die Reise mitgenommen habe. Ich sitze alleine im Garten und blicke auf einen großen Ententeich, während die Einheimischen in der Kneipe an den Spielautomaten stehen.
15.30 Uhr
Ein Zimmermann nimmt mich auf seinem Heimweg nach Gloucester mit. Er macht einen Umweg von ein paar Meilen, um mich im Stadtzentrum absetzen zu können. Die Fahrt macht Spaß: Er hört Radio und wir unterhalten uns ungezwungen. Alles wirkt ganz natürlich. Wir stellen uns nicht gegenseitig vor und es entsteht nie der Eindruck, Trampen sei etwas Sonderbares oder Anachronistisches. Es scheint ganz selbstverständlich, ein Teil des Lebens. Ich bin auf dem Weg nach Hay und brauche eine Mitfahrgelegenheit, das ist alles.
16.00Uhr
Habe das Gefühl, dem vielleicht noch 40 Meilen entfernten Hay schon sehr nahe zu sein. Aber auch dieser Teil der A40 ist sehr schnell und bietet keine offensichtlichen Haltemöglichkeiten. Ich gehe ungefähr eine Meile. An einer Bushaltestelle hole ich mein Ross-on-Wye-Schild heraus. Nach einer Viertelstunde fährt ein Kleintransporter an mir vorbei und hält nach ein paar Metern an. Ich renne zu ihm hin und kurz bevor ich da bin, fährt er weiter. In dem Wagen sitzen zwei Männer, die jetzt wohl über mich lachen werden. Zehn Minuten später passiert mir genau das gleiche noch einmal mit einem Pick-up amerikanischen Typs. Ist das Zufall oder sprechen die sich über Funk ab, um den exzentrischen Anhalter mit dem blöden Hut zu ärgern? Jetzt macht mir meine Reise keinen Spaß mehr. Ich befinde mich im Forest of Dean und muss an den Film "Beim Sterben ist jeder der Erste denken". Außerdem bemerke ich, dass ich vor einem Wohnwagenstellplatz stehe und frage mich, ob die Leute denken, ich hätte etwas mit diesem zu tun.
Ich mache einen großen Fehler und verlasse die A40, um auf der B4215 zu versuchen, eine Mitfahrgelegenheit direkt nach Hereford zu bekommen. Die Straße ist schmal und wird von hohen Hecken gesäumt. Ich steige einen Hügel hinauf. Jetzt bin ich wirklich müde, halte nach einem Platz Ausschau, wo ich mich hinstellen kann. Ich sehe ein grünes Schild und denke, da sei eine Kneipe. Als ich näher komme, erkenne ich, dass es sich um eine Kindertagesstätte handelt.
17.00Uhr
Die nächste Bushaltestelle, jetzt halte ich ein Hereford-Schild. Es ist völlig ausgeschlossen, dass mich hier jemand mitnimmt. Ein Fahrer deutet im Vorbeifahren sogar zurück in Richtung Ross Road, als wollte er sagen, es sei völlig verrückt, auf dieser zweitklassigen Landstraße nach Hereford gelangen zu wollen. Ich gehe wieder zurück den Berg runter und komme mir ziemlich lächerlich vor.
18.00 Uhr
Zurück auf der Ross Road. Ein Mann in einem Landrover hält an. Er hat mich schon zuvor gesehen und fragt mich, wo ich hin will – leider die falsche Richtung. Ich bin schon dabei, jegliche Hoffnung zu verlieren, als mein Schutzengel ankommt: ein Mitdreißiger namens Simon, der sich mit seinen beiden Kindern auf dem Heimweg in irgendeinen abgelegenen walisischen Ort befindet. Er kann mich bis Brecon mitnehmen, das ist zwar nicht der direkte Weg nach Hay, aber es passt schon. Simon ist ein Abenteurer, ein Freigeist. Er sagt, er sei schon auf der ganzen Welt getrampt und erst vor kurzem auch schon mal in Wales, als sein Wagen eine Panne hatte. Keine große Sache. Wir reden viel über Dylan, er macht auch eine Bemerkung über Hemingway.
Dann sage ich Simon Lebewohl und bin darüber irgendwie traurig. Gerne würde ich mir das Bauernhaus ansehen, das er vor zwei Jahren gekauft hat und zu einem Gästehaus umbauen will: Er ist ein Träumer, jemand, für den es ganz normal ist, zu trampen und verstaubte Gestalten mit seltsamen Hüten zu begegnen.
Noch eine Mitfahrgelegenheit, 15 Meilen und ich bin da. Allerdings wird es so langsam dunkel und kühl. Es sind nicht viele Autos auf der Straße – die Sache könnte knapp werden. Ich schwöre mir, den Rest der Strecke zur Not zu Fuß zurückzulegen. Während ich in meinem Rucksack herumkrame, hält neben mir ein Polizeibus.
„Bei Ihnen alles in Ordnung, Sir?“
„Ja, ich denke schon.“
„Was machen Sie denn hier?“
Ich kriege mit, dass sie nach Hay fahren.
„Wäre es möglich, dass Sie mich da hinten drin mitnehmen?“, ergreife ich ganz ungewohnt die Initiative.
„Nur, wenn sie von einem Hund gefressen werden wollen.“
Schließlich hält ein Wagen an. Zwei nette Leute – Fiona und ein Typ, den ich in meinem halb-komatösen Zustand vergessen habe, nach seinem Namen zu fragen, sind auf dem Weg, um sich die Asian Dub Foundation auf dem Festival anzusehen. Sie können mich auf dem Parkplatz des Festivalgeländes absetzen. Es ist der perfekte Abschluss eines anstrengenden, aber auf seltsame Weise erfüllenden und beglückenden Tages. Trampen funktioniert. Es kann auch heute noch Teil des Lebens sein. Vielleicht mache ich es sogar noch einmal, allerdings nicht in Kleinbritannien. Mir schwebt vor, auf diese Weise von London nach Moskau zu reisen!
Ich erreiche um 20.47 Uhr den Black Lion, die Kneipe, in der sich die Kollegen vom Guardian um 21.00 Uhr zum Essen treffen. Die Wirtin, die über mein Abenteuer informiert wurde, beglückwünscht mich, ein Photograph spendiert mir ein Bier (welch seltenes Glück). Jetzt weiß ich, wie Bezwinger hoher Berge sich fühlen müssen, frei nach Reinhold Messner: „Warum sind Sie die A40 entlanggetrampt?“ „Weil sie da war.“
Ich übertreibe, aber vor zwölf Stunden am Kreisverkehrvon Hanger Lane hatte ich trotz strahlenden Sonnenscheins wirklich meine Zweifel, ob ich es je nach Hay schaffen würde.
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