Es waren zwei NATO-Raketen, die gestern auf eine Stellung der Taliban in den Außenbezirken der Aufständischen-Hochburg Marjah in der Provinz Helmand abgefeuert wurden. Die Geschosse verfehlten ihr Ziel und töteten zwölf Zivilisten, die in ihrem Haus Schutz gesucht hatten. Wo auch sonst? Der Vorfall machte die vage Hoffnung zunichte, bei der größten Offensive der westlichen Alliierten seit Beginn des Krieges vor neun Jahren könnten zivile Opfer vermieden werden. Wie das britische Verteidigungsministerium mitteilt, wurden die Raketen von einem High Mobility Artillery Rocket System abgefeuert, wie es in der Regel von den US-Marines verwendet wird. Sir Jock Stirrup, Oberbefehlshaber des britischen Korps, nennt den Tod der Zivilisten „einen äuß
23;erst ernstzunehmenden Rückschlag“, weil es so entscheidend sei, dass die Menschen die afghanische Armee als ihre Beschützer wahrnehmen. Verluste unter der Zivilbevölkerung seien daher um jeden Preis zu vermeiden. Vor SonnenaufgangDie Nachricht von den Todesfällen überschattet die vorsichtig optimistischen Berichte von US-Kommandeuren aus dem nahe gelegenen Marjah, einem der Rückzugsorte der Aufständischen, wo US-Marines zusammen mit der afghanischen Armee tief in ein labyrinthisches Lager, das mir Tretmienen und Sprengfallen umgeben ist, vorgedrungen sind. Die Soldaten operieren dabei mit äußerster Vorsicht, schicken Pioniere und Suchhunde vor. Einzelne Gruppen von Taliban leisten teilweise heftigen Widerstand. Eine Gruppe wurde unter Beschuss genommen, nachdem sie eine afghanische Flagge über einem eroberten Lager aufgezogen hatte. Andernorts zwang die Gegenwehr der Taliban den amerikanischen Chef der Operation, Brigadegeneral Larry Nicholson, in Deckung zu gehen. „Das Feuer, das wir gerade bekamen, zeigt, wie sich das derzeit abspielt: Sporadische Auseinandersetzungen mit kleinen Gruppen äußerst mobiler Kämpfer“, sagt er einem Reporter der Nachrichtenagentur AP, der mit der Truppe unterwegs ist.An der Operation Moshtarak (was soviel heißt wie „gemeinsam“) sind 15.000 Soldaten beteiligt, die meisten von ihnen Briten, Amerikaner und Afghanen. Die ersten US-Marines trafen am 13. Februar vor Sonnenaufgang mit Hubschraubern in Marjah ein, während britische Truppen bereits Nad Ali durchkämmten. Die ortsansässigen Taliban-Kämpfer, deren Zahl auf höchstens 1.000 geschätzt wird, haben das Gebiet stark vermint. General Nicholson meint, es könne bis zu 30 Tagen dauern, alle Aufständischen vertrieben und alle Sprengkörper geräumt zu haben. Es könnte auch schneller gehen.Bitte an SarkozyDie NATO warnte die Bevölkerung mehrmals vor den bevorstehenden Angriffen, um Opfer unter der Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu vermeiden. In einer Erklärung zu den nun doch eingetretenen Kollateralschäden hieß es, die Raketen, die das Haus in Nad Ali zerstörten, hätten ihr Ziel um 300 Meter verfehlt. „Wir bedauern den Tod dieser Menschen zutiefst“, so Afghanistan-Oberbefehlshaber General Stanley McChrystal, der anordnete den betreffenden Raketenwerfer bis auf weiteres nicht mehr einzusetzen.Das Geschehen ruft umgehend Präsident Karsai auf den Plan, der eine sofortige Untersuchung des Vorfalls fordert. Zivile Opfer, noch dazu in großer Zahl, helfen den Taliban in vom Krieg gezeichneten Gegenden bei der Rekrutierung neuer Kämpfer. Sie wecken den Zorn der Bevölkerung und lassen die Unterstützung für die Regierung schwinden. Bei einer Pressekonferenz in Kabul meint der afghanische Verteidigungsminister Abdul Rahim Wardak, das Ziel der Operation bestehe „nicht in der Tötung von Aufständischen“, sondern in der „Erweiterung des Einflussgebietes der Regierung und dem Schutz der Zivilbevölkerung“.Angaben über die genaue Zahl getöteter Zivilisten bleiben vage. Ein Sprecher des Roten Kreuzes sagte, Mediziner in einem Erste-Hilfe-Lager in Marjah hätten 30 Menschen behandelt. Wie viele von ihnen Zivilisten und wie viele Militante waren, vermochte er nicht zu sagen.Ein Durchbruch in Helmand würde Präsident Obama sehr helfen, bei der eigenen Bevölkerung wieder mehr Unterstützung für den Krieg zu finden. Militärexperten gehen aber davon aus, dass sich viele Kämpfer einfach in den Süden nach Pakistan oder in die Berge der Provinz Urzugan zurückgezogen haben. Ein Sprecher der afghanischen Regierung machte deutlich, dass es sich beim Distrikt Marjah nur um einen von 700 Bezirken handele, in denen weite Teile unter dem Einfluss der Taliban stehen. Als wollten sie dies noch einmal unterstreichen, veröffentlichten die Taliban gestern ein Video, auf dem zwei französische Journalisten zu sehen sind, die im Dezember entführt wurden. Die beiden bitten darum, freigelassen zu werden, und drängen ihren Präsidenten Nicolas Sarkozy, schnell mit den Entführern zu verhandeln.