Pixelt den Käsekuchen!

Datenschutz Welche Folgen die Preisgabe unserer Privatsphäre im Netz langfristig haben wird, ist schwer abzuschätzen. Hier ist auch der Staat gefragt

Es gab eine Zeit, in der man zensieren konnte, ohne zu spionieren. Als Großbritannien in den zwanziger und dreißiger Jahren James Joyce‘ Ulysses verbot, bedeutete dies ganz einfach, dass von nun an der Verkauf des Buches unter Strafe gestellt war. Theoretisch umfasste dies auch die Öffnung bestimmter Pakete aus Übersee oder Kontinentaleuropa, und sicher bedeutete das Verbot für irische und britische Verleger und Buchhändler eine Beschränkung ihres unternehmerischen Handelns. Eine schreckliche Sache, mit Sicherheit. Heute aber ist es schlimmer.

Stellen sich vor, Sie wollten heute wegen einer Urheberrechtsklage seitens der Joyce-Erben die Seite www.jamesjoycesulysses.com verbieten. Der Digital Economy Act und die von ihm ermöglichte Einrichtung einer nationalen britischen Copyright-Firewall ebnet den Weg dahin. Um Sie daran zu hindern, die Seite www.jamesjoycesulysses.com zu besuchen, muss die landesweite „Censorwall“ alle Ihre ausgehenden Internet-Anfragen abfangen und überprüfen, ob sie sich auf die gesperrte Seite beziehen. Hierin besteht der Unterschied zwischen der Zensur früherer Tage und unserer neuen digitalen Zensurwelt: Heute ist Zensur von Überwachung nicht mehr zu trennen.

Überwachen ohne zu zensieren – alles verfolgen, ohne einzugreifen – kann man natürlich nach wie vor. In den Despotien dieser Welt bringt die Zensur die Nutzer dazu, den Onion Router TOR zu verwenden, mit dem man Censorwalls umgehen kann und der obendrein ein gewisses Maß an Anonymität gestattet. Browsing-Gewohnheiten bleiben der Polizei damit verborgen. Hebt der Staat die Zensur auf, verzichten viele User aber wieder auf TOR – weil es die Internet-Verbindung langsamer macht – und die Agenten des Staates haben wieder freien Blick.

Es ist viel vom Tod der Privatsphäre und dem mutmaßlichen Ende unseres Verlangens nach ihr die Rede. Ich denke, es ist zutreffender zu sagen, dass wir nur sehr schwer abschätzen können, welchen Preis wir für die Preisgabe unserer persönlichen Daten im Netz eines Tages bezahlen werden. Denn es handelt sich hier um eine Sphäre des öffentlichen Lebens, in der Taten und deren Konsequenzen durch sehr viel Zeit und Raum voneinander getrennt sind.

Wenn Sie verstehen wollen, warum das so ist, denken Sie an die Zeit der Filmkameras zurück. Damals haben die meisten Familien ein oder zwei Filmrollen im Jahr verknipst – ungefähr eine während des Familienurlaubs und eine für Weihnachten und die Geburtstage. Man schickte den Film zum Entwickeln, manchmal Monate nachdem die Aufnahmen gemacht worden waren, und bekam dann irgendwann seine Bilder zurück. Die meisten waren mittelmäßig, einige schrecklich und einige wenige ganz wundervoll.

Ursache und Wirkung vereint

Als Digitalkameras aufkamen, waren sie den Filmkameras in vielem unterlegen. Aber sie verfügten über eine Unmittelbarkeit, die den Filmkameras immer abgegangen war. Sobald man auf den Auslöser drückt, erscheint auf dem Display das Bild. Auch wenn Digitalkameras nicht über die Auflösung von Filmkameras verfügen, machen die meisten von uns Amateuren mit ihnen bessere Aufnahmen. Das kommt allein von der Möglichkeit, Ursache und Wirkung zu vereinen.

Im Umgang mit der Privatsphäre fehlt uns leider ein ähnlich wirksames Mittel, Ursache und Wirkung zusammenzubringen. Das gilt insbesondere für schlimme privaten Katastrophen. Anfang der Achtziger brachte die Frau meines damaligen Lehrers ein Kind zur Welt. Nach der Geburt kam ein Vertreter auf sie zu und überreichte ihr einen Geschenkkorb mit Windeln, Lätzchen und allerlei anderen Dingen, die man für ein Baby so braucht. Alles, was er von ihr im Gegenzug haben wollte, waren Name, Geburtsdatum und Adresse des Kindes. Die Eltern gaben die Informationen weiter. Einige Wochen später starb das Kind, unvorhergesehen und tragisch. Noch tragischer aber war, dass die trauernden Eltern von nun an jedes Jahr am Geburtstag des Kindes mit einem Stapel an einschlägigen Werbesendungen gequält wurden.

Nur wenige von uns hätten wohl die Weitsicht, einen Geschenkkorb mit Babyartikeln abzulehnen, weil unser Neugeborenes ja plötzlich und unvorhergesehen sterben könnte. An so etwas denkt frau für gewöhnlich nicht, während sie sich auf der Wöchnerinnenstation erholt. Natürlich wird man die Lektion so schnell nicht vergessen, wenn man sie einmal gelernt hat. Aber wie oft in unserem Leben können wir sie anwenden? Werden wir schlau und einsichtig genug sein, die Erkenntnis das nächste Mal zu nutzen, wenn uns jemand etwas anbietet?

Der Datenschutz ist nicht das einzige Thema, bei dem die räumliche und zeitliche Trennung von Ursache und Wirkung ein großes Problem ist. Sie spielt bei den meisten gesundheitlichen Fragen eine Rolle. So würde niemand rauchen, wenn die Tumore gleich beim ersten Zug auftreten würden. Niemand würde zu viel essen, wenn jeder Bissen Käsekuchen sich unmittelbar in ebenso große Mengen an Zellulite an Bauch oder Oberschenkeln verwandeln würde. Niemand würde zu viel trinken, wenn der Kater bereits mit dem ersten Pint des Abends einsetzen würde.

Viele Raucher werden nie Krebs bekommen. Viele Käsekuchenesser haben den Body-Maß-Index einer Ballerina. Viele Menschen, die trinken, sind nie schlimm betrunken. Für jene aber, die Probleme bekommen, sind die Konsequenzen äußerst schwerwiegend und manchmal sogar tödlich. Gleichermaßen werden viele Leute, die bewusst persönliche Informationen preisgeben, nie irgendwelche besonders schweren Konsequenzen zu tragen haben. In den schlimmsten Fällen kann die Preisgabe persönlicher Daten aber ebenso schwerwiegend sein wie die auf dem Gebiet der Gesundheit: vom Bankrott über Identitätsdiebstahl bis hin zur Gefahr körperlicher Gewalt.

Es gibt jede Menge Dienste, die aus dieser unglückseligen Entwicklung gewaltigen Profit schlagen. Dass zu viel gegessen wird, bedeutet nicht, dass die Leute sich keine Gedanken um Fettleibigkeit machen, der Erfolg der Tabakindustrie heißt nicht, dass die Leute sich nicht vor Krebs ängstigen. Und dass überall im Netz private Daten preisgegeben werden, heißt nicht, dass den Leuten ihre Privatsphäre egal ist.

Regierungen stecken viel Energie in Gesundheitsprävention. Sie regulieren die Unternehmen und versuchen Leuten mit Aufklärungskampagnen zu helfen, die möglichen künftigen Auswirkungen ihres gegenwärtigen Handelns abzuschätzen. Weil diese Probleme schwerwiegend sind, bedienen sie sich dabei häufig reißerischer und verstörender Bilder, etwa drastischer Abbildungen kranker Lungen oder schockierender Darstellungen der Gefahren des Trinkens. Stellen Sie sich vor, die Regierung würde stattdessen Geld dafür ausgeben, das Problem zu verschärfen – etwa indem der Staat mit Steuergeldern dafür sorgt, dass in jeder Schule Zigarettenautomaten aufgestellt werden, oder mit einer Vorschrift, dass jeder, der an einer Tankstelle anhält, erstmal zwei Drinks zu sich nehmen muss.

Das klingt absurd. Doch das ist im Grunde genau das, was mit nationalen Zensurbestimmungen erreicht wird. Sie verlangen, dass wir dem Staat oder den Privatfirmen, die in seinem Auftrag Zensur ausüben, jeden Klick und jeden Tastendruck offenbaren, den wir online tätigen. Vor allem wird dies unseren Kindern abverlangt, besonders in den Schulen und Bibliotheken. Oftmals handelt es sich bei den Firmen, die Schulen, Büchereien und Eltern mit Censorware ausstatten, um dieselben, die auch Autokraten von Burma bis Bahrain ihre Diensten zur Verfügung stellen.

Der Staat wird gebraucht

Für die meisten Internetnutzer entsteht in der Regel kein Schaden, wenn sie private Daten preisgeben. Allerdings tun wir alle dies so häufig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis jeder von uns sich einmal damit auseinandersetzen muss, wie er seine Daten besser schützen kann. Wie bei den Problemen der öffentlichen Gesundheit, brauchen wir auch hier den Staat, um Instrumente für einen einfachen Onlinedatenschutz zu fördern. Und wir brauchen ihn, um allen Kindern die technischen Fertigkeiten zu vermitteln, damit sie bei der Nutzung von Computern und Browsern selbst über die Preisgabe ihrer Daten im Netz verfügen können.

Der Staat hat die Aufgabe, uns daran zu erinnern, dass diese Dinge wichtig sind, und dass wir innehalten sollten, um unserer Informationsgewohnheiten zu überdenken und uns zu fragen, wie diese uns in Zukunft auf die Füße fallen könnten.

Das aber können wir nicht, wenn wir gleichzeitig auf nationaler Ebene den Preis für unserer gesamten privaten Internetinformationen auf Null runtersetzen. Wir können den Leuten nicht sagen, dass sie ihre Privatsphäre und ihre Daten wertschätzen sollen – und sie gleichzeitig behandeln, als wären sie wertlos. Oder vielmehr: Wir können es vielleicht schon, aber nur, wenn wir uns die Schäden, die bei Datenschutzverletzungen entstehen, eigentlich egal sind; nur, wenn wir „Den Leuten sind ihre Daten egal“ zum Motto unserer nationalen Mission machen wollen.

Cory Doctorow, Jahrgang 1971, ist Journalist, Blogger und Netzphilosoph

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Cory Doctorow | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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