Gentrifizierung in Lissabon: Luxussuite und Abbruchhaus
Portugal Die Gentrifizierung kennt in Lissabon keine Gnade: Seit der Eurokrise vor gut zehn Jahren hat Portugal einen der dynamischsten Immobilienmärkte in Europa. Wer investiert, den locken „Goldene Visa“
Blick vom Elevador de Santa Justa auf das Viertel Mouraria: Auf einen Einwohner Lissabons kommen im Jahr acht Touristen
Foto: Michael Brooks/Alamy
Manuela Lopes datiert den Beginn ihres Unglücks auf den Zeitpunkt, als der Stadtteil von Lissabon, in dem sie einmal gelebt hat, sich mit Brooklyn zu vergleichen begann. Das geschah um 2015 herum: Einstige Lagerhäuser im alten Arbeiterviertel Marvila machten Platz für Co-Working-Spaces, Kunstgalerien, kleine Brauereien und Tech-Start-ups. Schon 2018 stiegen die Immobilienpreise in diesem Viertel im Schnitt um 79,8 Prozent, verglichen mit dem Vorjahresniveau. Unweit von Lopes’ Wohnung am alten Industriehafen von Marvila wurde ein Luxus-Wohnprojekt mit zwölf Gebäuden hochgezogen, entworfen vom weltbekannten Architekten Renzo Piano. Die Apartments mit Balkon und Blick auf den Fluss Tejo kosteten zwischen 500.000 und 925.000 Euro. Viele waren bereits verkauft, be
bevor der Bau überhaupt fertig war. Die Werbung für das „Prata Riverside Village“ versprach eine „neue Art, in Lissabon zu leben – für junge Familien, digitale Nomaden und Pensionäre“. Die würden eine echte nachbarschaftliche Atmosphäre genießen können – „ruhig, aber voller Leben“.Manuela Lopes wurde vor 78 Jahren in die damals noch bescheidenere architektonische Umgebung von Santos Lima hineingeboren. Sie wuchs in einem zweistöckigen Mehrfamilienhaus aus dem 19. Jahrhundert auf, in dem schon ihre Mutter und Großmutter gelebt hatten. Eine „echte Nachbarschaftsatmosphäre“ gab es nach der Erzählung früherer Mieter hier tatsächlich. Zum Beispiel in den 1970er Jahren, als sich Dissidenten der Salazar-Diktatur im Santos Lima heimlich trafen. Jahrelang ging Manuela Lopes davon aus, dass ihr Mietverhältnis durch ein portugiesisches Gesetz geschützt sei, das die Kündigung über 65-Jähriger ausschließt, deren Mietvertrag vor 1990 geschlossen wurde. Doch sie wusste nicht, dass sie durch einen Umzug innerhalb des Gebäudes, dem sie zugestimmt hatte, die Rechte aus ihrem alten Vertrag eingebüßt hatte. 2017 wurde ihr Mietvertrag gekündigt.Feuchtigkeit und SchimmelEin Jahr später war das Haus, in dem Manuela gewohnt hatte, für 2,7 Millionen Euro verkauft worden, obwohl noch siebzehn Familien als Mieter darin lebten. Nur wenige Monate später war es für 7,2 Millionen wieder auf dem Markt und wurde damit beworben, Potenzial für die Umwandlung in private Eigentumswohnungen oder ein Hotel zu haben. Das erschien als perfekte Agenda für ein Hauptstadt-Quartier am Fluss. Die Gentrifizierung kannte keine Gnade.Leute, die ihren Namen nicht nannten, tauchten in den Hausfluren auf und forderten Mieter, die dort noch wohnten, dazu auf, umgehend auszuziehen. Türen zu leer stehenden Wohnungen wurden abmontiert und Monate später wieder eingebaut. Bauarbeiten begannen ohne Vorankündigung. In manchen Wohnungen zeugten dunkle Flecken an den Wänden von Feuchtigkeit und Schimmel. Niemand sah noch einen Sinn darin, etwas dagegen zu unternehmen. Ein paar übrig gebliebene Familien hielten noch eine Weile stand, dann begannen auch sie, ihre Sachen zu packen.Experten bezeichnen Portugals Immobilienmarkt als einen der dynamischsten in Europa. Aber die Kollateralschäden für die Sozialstruktur in Lissabon, Porto und anderen Städte seien groß, sagt der Geograf und Wohnungspolitik-Aktivist Luís Mendes. Unbezahlbare Mieten und Kündigungen treffen nicht nur Leute mit Mindestlohn oder Rentenempfänger, sondern ganz normale Arbeiter und Angestellte mit ihren Familien.Wenn sie in Not geraten, hat das viel mit der Euro-Schuldenkrise von 2008 bis 2010 zu tun. Um ausländische Investoren zu locken, war das Land wegen der in der Eurozone ergriffenen Hilfsmaßnahmen zur Deregulierung verpflichtet. Ein „Goldenes Visa-Programm“ wurde aufgelegt, das im Gegenzug für Immobilienkäufe ab 500.000 Euro ein Visum für Portugal und damit die EU garantierte. Investoren mussten dafür nicht nach Portugal ziehen. Es reichte, nur zwei Wochen pro Jahr im Land zu verbringen. Zudem wurde ein „Programm für den Dauerwohnsitz“ eingeführt und verkündet, Ausländer, die sich die Hälfte des Jahres in Portugal aufhielten, müssten zehn Jahre lang keine Steuern auf ihr erworbenes Einkommen zahlen. Die Programme als beliebt zu bezeichnen, wäre reichlich untertrieben: Von 2012 bis 2022 wurden etwa 10.000 „Goldene Visa“ an Nicht-EU-Käufer vergeben, im Gegenzug mehr als fünf Milliarden Euro investiert, größtenteils in Immobilien. Die neuen Eigentümer kamen aus China, Brasilien, der Türkei, Südafrika und Russland.Im Vorjahr erklärte Luís Lima, Präsident des portugiesischen Immobilienmaklerverbandes Apemip, zweifellos hätten die Anreize Portugal geholfen, den schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise zu entkommen. „Alles, was gut für den Tourismus war, war gut für uns.“ Lima war einer der Ersten, der um 2010 herum begann, im Ausland um ausländischen Investitionen zu werben. „Auf manchen Landkarten war Portugal nicht einmal verzeichnet. Heute kennen alle unseren Namen.“Während früher die Algarve im Süden internationale Käufer anzog, reizten nun Immobilien in Lissabon, Porto und einem Teil der Küstenregion zum Erwerb. „Wir hatten das Paradigma verändert“, so Lima. Das Programm habe sich positiv auf die Beschäftigung ausgewirkt und „indirekt Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen“.Dagegen betont Luís Mendes, der im Vorstand von Lissabons Mietervereinigung sitzt, dieses Programm habe durch die Umwandlung eines großen Wohnungsbestandes in privates Vermögen „desaströse Folgen“. Viele müssten erleben, dass ihr Bedarf an Wohnraum ignoriert wurde, als die Preise stiegen und das Sicherheitsnetz für Mieter gekappt wurde. Eine Sparmaßnahme aus dem Jahr 2012, die vorgab, einen „starren städtischen Wohnungsmarkt“ zu verändern, wurde bald als „Vertreibungsgesetz“ bekannt. Mieter konnten plötzlich mit einem enormen Anstieg ihrer Wohnkosten konfrontiert werden. Es war nun auch möglich, ihnen zu kündigen, wenn ein Vermieter eine Wohnung renovieren wollte. 2017 verloren pro Tag im Schnitt fünf Familien ihr Zuhause.Aus historischen Gründen gab es in Lissabon viele Wohnungen, daher waren die Mieten im Vergleich zu anderen EU-Hauptstädten günstig, doch entsprach das auch Portugals niedrigerem Durchschnittseinkommen. Als das Interesse aus dem Ausland zu wachsen begann, überstieg die Nachfrage das Angebot, was die Preise anhob und die Menschen aus ihren Wohnungen vertrieb. Aber das Narrativ des mangelnden Angebots sei nur „die Spitze des Eisbergs gewesen“, sagt Luís Mendes.Bis 2010 hatte Lissabon eine ungewöhnlich hohe Zahl an leer stehenden Häusern. Mindestens ein Drittel im historischen Zentrum war verlassen, viele heruntergekommen, eine Goldgrube für Investoren. In der folgenden Euphorie wechselten Gebäude an einem Abend für eine Million Euro den Besitzer und wurden am nächsten Morgen für 1,7 Millionen weiterverkauft. „Nach nur geringer Renovierung sind Immobilien, die einst für 60.000 bis 70.000 Euro gekauft wurden, jetzt 500.000 wert“, erzählt Mendes. Zugleich habe der Tourismus die Kurzzeitvermietungen nach Lissabon gebracht. „Jeder konnte ein Sofa haben, das er vermietete. Das war nur der Anfang, bald begannen die Kurzzeitvermietungen den bezahlbaren Wohnungsmarkt buchstäblich anzuknabbern.“Früher voller maroder Gebäude, verblichenem Mauerwerk und bröckelnder Fassaden, wurde die Altstadt in halsbrecherischem Tempo restauriert. Tuk-Tuks voller Touristen fuhren die engen gepflasterten Straßen rauf und runter, und die Restaurants florierten. Es dauerte nicht lange, bis Lissabon als Touristenziel an der Spitze des internationalen Vergleichs landete und als eine der „lebenswertesten Metropolen in Europa“ gehandelt wurde. Vor Corona lag die durchschnittliche Touristenzahl bei 4,5 Millionen pro Jahr. In einer Stadt mit 500.000 Einwohnern waren das mehr als acht Touristen pro Einwohner. 2020 war ein Drittel der Häuser in Lissabons Zentrum auf Kurzzeitmiet-Websites wie Airbnb gelistet, trotz der 2019 eingeführten Beschränkungen. Was das für den Wohnungsmarkt bedeutete, stand außer Zweifel. Wer vom Mindestlohn in Höhe von 665 Euro lebte, sah sich endgültig aus der Stadt gedrängt. Die Durchschnittsmiete für eine Familie stieg auf 900 Euro im Monat. „Für viele Leute war damit in Lissabon kein Platz mehr“, sagt Mendes.Placeholder authorbio-1
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