Psst, ganz geheim

Porträt Umberto Eco ist der bekannteste Semiotik-Professor der Welt. Erst hat er zu Verschwörungstheorien geforscht. Dann begann er, in seinen Romanen selbst welche zu entwerfen
Umberto Eco
Umberto Eco

Bild: LOIC VENANCE/AFP/Getty Images

Umberto Eco kaut auf einer Zigarre herum. Das Rauchen hat er vor acht Jahren aufgegeben. Er habe aber immer noch gern Zigarren im Mund, weil er hoffe, so doch noch etwas Nikotin abzukriegen, sagt er. Bei unserem Gespräch in London präsentiert Eco sich als witziger, selbstironischer Gesprächspartner. Er ist der bekannteste Semiotik-Professor der Welt, jener akademischen Lehre, die sich mit Zeichen aller Art beschäftigt. Und natürlich ist er auch Philosoph, Allroundgenie, Bibliophiler und Bestseller-Autor. Im Herbst ist sein jüngster Roman, Der Friedhof in Prag, auf Deutsch bei Hanser erschienen. In Italien verkaufte sich das Buch bereits über 500.000 Mal.

Die Handlung ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Der Roman erzählt vom Schicksal des Meisterfälschers und Mörders Simone Simonini, der bei den großen Ereignissen seiner Zeit (Einigung Italiens, französisch-preußischer Krieg, Pariser Commune, Dreyfus-Affäre) immer irgendwie die Finger im Spiel hat.

Der Friedhof in Prag ist Ecos Rückkehr zu seinem Lieblingsthema: Verschwörungen. Simonini wird die Urheberschaft der Protokolle der Weisen von Zion zugeschrieben. Dieser Text gibt vor, eine jüdische Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft zu schildern. Nach der Veröffentlichung 1903 in Russland fand er rasch Verbreitung und wurde von vielen für bare Münze genommen, auch nachdem längst bewiesen war, dass die Protokolle aus fiktiven Quellen zusammengeschustert waren. Hitler zitierte ausgiebig für sein Buch Mein Kampf daraus, und auch heute verbreitet die Schrift immer noch ihr Gift. Eco fügt in seinem Roman die wenigen bekannten Fakten über die Herkunft des Textes zusammen und beschreibt den unmoralischen Simonini als Verfasser.

Immer wieder geht es in Ecos Werk um Verschwörungstheorien im Allgemeinen und die Protokolle der Weisen von Zion im Besonderen. In seinem zweiten Roman Das Foucaultsche Pendel basteln etwa drei unscheinbare Lektoren zum Spaß eine große Verschwörungstheorie zusammen, was tödliche Konsequenzen hat.

Hunde lügen nicht

Woher kommt Ecos besonderes Interesse an den Protokollen? "Als Wissenschaftler interessiere ich mich für Sprachphilosophie. Und ein Hauptmerkmal der menschlichen Sprache ist nun mal die Lüge. Hunde lügen nicht. Wenn sie bellen, heißt das, dass draußen irgendjemand ist." Menschen hingegen lügen. "Von der Lüge zur Fälschung ist der Schritt nicht allzu groß. Ich habe auch Fachartikel über die Logik der Fälschung und ihren Einfluss in der Geschichte geschrieben. Die berühmteste und furchtbarste dieser Fälschungen sind nun mal die Protokolle."

Eigentlich seien es aber gar nicht Verschwörungstheorien an sich, für die er sich interessiere, sondern die Paranoia, die diese erst ermöglichten. "Es gibt viele kleine Verschwörungen, von denen die meisten aufgedeckt werden", sagt Eco. "Die Paranoia einer großen, umfassenden Weltverschwörung hingegen ist stärker. Sie ist unverwüstlich. Die imaginierte Verschwörung kann nie aufgedeckt werden. Unsere Spezies ist für so etwas sehr anfällig."

Karl Popper habe in einem Essay zum Thema mal bemerkt, es habe alles mit Homer begonnen. Schließlich sei alles, was in Troja geschah, einen Tag zuvor von den Göttern oben im Olymp geplant worden. "So muss man sich nicht verantwortlich fühlen. Deshalb nutzen Diktaturen die Idee einer universellen Verschwörung, eines finsteren Umsturzplans als Waffe." Das kenne er auch aus eigener Erfahrung, erzählt Eco: "Meine ersten zehn Lebensjahre lang wurde ich in der Schule von Faschisten unterrichtet. Auch die haben sich einer universellen Verschwörungstheorie bedient und behauptet, die Engländer, die Juden und die Kapitalisten hätten sich gegen das italienische Volk verschworen. Mit Hitler war es dasselbe."

Auch Berlusconi habe bei seinen Wahlkämpfen über nichts anderes als über die Verschwörung von Richtern und Kommunisten geredet. "Es gibt in Italien zwar gar keine Kommunisten mehr, selbst wenn man sie mit der Lupe sucht, aber für Berlusconi waren sie allgegenwärtig und haben versucht, die Macht zu übernehmen."

Ein großer Freund des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten ist Eco wirklich nicht. Er ist seit Langem ein prominenter Vertreter der italienischen Linken und hat sich gegen Berlusconi ausgesprochen, seit dieser Mitte der Neunziger erstmals Ministerpräsident wurde. Über den Sturz des großen Partyhelden freut er sich, warnt aber davor, ihn zu schnell abzuschreiben. Berlusconi könnte nach den Wahlen 2013 einen Comeback-Versuch unternehmen. "Berlusconi ist ein Kommunikationsgenie", fährt er fort. "Sonst wäre er nie so reich geworden. Er hat gleich zu Anfang seine Zielgruppe erkannt – die Leute in den mittleren Jahren, die vor dem Fernseher hocken. Die Jungen sehen nicht fern, die sind im Internet. Die Berlusconi-Unterstützer sind 50- bis 60-jährige Damen und Rentner. In einem Land mit alternder Bevölkerung ist das ein großes Wählerpotenzial."

Kein Land der Intellektuellen

Aber wie konnte ein geistig und kulturell so reiches Land wie Italien eine solche Knallcharge zum Präsidenten wählen? "Berlusconi gab sich gezielt anti-intellektuell und hat damit angegeben, dass er seit 20 Jahren keinen Roman mehr gelesen hat. Italien ist im Grunde kein Land der Intellektuellen. Während in der Tokioter U-Bahn jeder liest, macht das in Italien niemand. Sie dürften Italien nicht danach beurteilen, dass es Raphael und Michelangelo hervorgebracht hat."

Es gibt den Vorwurf, sein neuer Roman belebe einen alten antisemitischen Text neu. Eco antwortet darauf mit dem Hinweis, dass die Protokolle problemlos im Internet zu finden seien. "Schwache Leser", die seine Absicht nicht verstehen, könnten also auch anderswo in die Irre geführt werden. "Man kann für eine verquere Lesart seines Buchs nicht verantwortlich gemacht werden. Katholische Priester warnten früher unter anderem davor, jungen Mädchen Gustave Flauberts Madame Bovary zu lesen zu geben, weil sie dadurch zum Ehebruch verleitet würden."

Macht es ihm etwas aus, dass die sechs Romane, die er geschrieben hat, bei der Kritik oft auf geteiltes Echo stießen? "Du erschrickst immer darüber, wie verschieden die Meinungen der Kritiker ausfallen. Ich finde, man sollte ein Buch erst zehn Jahre später beurteilen, nachdem man es gelesen und wieder gelesen hat. Ich wurde immer als zu intellektuell und philosophisch charakterisiert, als zu schwierig. Dann schrieb ich einen Roman, der überhaupt nicht intellektuell war: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Er hat sich von meinen Büchern mit am schlechtesten verkauft. Nur Verleger und Journalisten glauben, die Menschen wollten einfache Dinge lesen. Dabei haben die Leute einfache Dinge satt. Sie wollen gefordert werden."

Da zeigt sich auch der Lehrer in ihm. Eco kann auf eine bedeutende Karriere an der Universität zurückblicken. 1971 erhielt er einen Lehrstuhl an der Universität Bologna. Er machte nebenbei Kulturprogramme fürs Fernsehen und arbeitete in Mailand als Sachbuchlektor, bevor er Der Name der Rose schrieb. Der Mittelalter-Roman machte ihn weltberühmt. Was brachte ihn dazu, seinem ohnehin schon überbordenden Lebenslauf noch die Schriftstellerei hinzuzufügen? Es war eher "ein Unfall", sagt er. Eine Freundin von ihm bereitete eine Buch-Reihe mit kurzen Detektivromanen vor und fragte ihn, ob er einen schreiben wolle. Er antwortete, wenn er einen Krimi schreiben würde, müsste der im Mittelalter spielen und mindestens 500 Seiten stark sein. Für die Reihe war das zu lang, aber er hatte die Idee im Kopf (oder, wie er lieber sagt, "im Bauch"). Ihm gefiel einfach die Vorstellung, einen Mönch zu vergiften.

Das Bedürfnis, Literatur zu schreiben

"Als meine Kinder klein waren, lebte ich meinen narrativen Impuls aus, indem ich ihnen Geschichten erzählte. Als sie dann erwachsen waren, verspürte ich das Bedürfnis, Literatur zu schreiben. Es war, als wenn man sich verlieben würde: Warum hast du dich an jenem Tag, in jenem Monat in diese Person verliebt? Bist du verrückt? Warum? Man kann es nicht erklären. Es passiert einfach."

Der Name der Rose verschaffte Eco sein Ansehen als Romancier, aber der Welterfolg war auch schwer zu wiederholen. "Manchmal sage ich, dass ich Der Name der Rose hasse", gibt er zu. "Die Bücher danach waren vielleicht besser, aber das erste überdeckt alle anderen. Das passiert vielen Schriftstellern. Gabriel García Márquez kann 50 Bücher schreiben und wird dennoch immer als der Autor von 100 Jahre Einsamkeit in Erinnerung bleiben.“ Jedes Mal, wenn ein neuer Roman von Eco herauskommt, gehen die Verkaufszahlen für Der Name der Rose nach oben. "Die Leute sagen sich: 'Ah, Eco hat ein neues Buch geschrieben! Aber ich hab noch nicht einmal Der Name der Rose gelesen.' Das, nebenbei bemerkt, auch noch weniger kostet, weil es das schon lange als Paperback gibt." Er lacht, wie so oft in unserem Gespräch. Sein größter Vorzug ist, dass er ein Intellektueller ist, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt. Das Leben ist für ihn ein wunderbares Spiel, so wie die Literatur.

Der Name der Rose machte Eco reich. Dennoch gab er seine wissenschaftliche Arbeit nicht auf. Die Liste seiner Publikationen zu Linguistik, Kultur und Ästhetik ist beeindruckend lang. Alle seine Romane hat er aus anderen Büchern heraus entwickelt. Er spielt gern mit der Intertextualität, dem Verweisen auf andere Texte. Ein beliebtes Verfahren der Postmoderne, das bei Eco auch von seiner aufrichtigen Liebe zu Büchern erzählt. In den Wohnungen in Mailand und Rimini, die er mit seiner deutschen Frau Renate Ramge bewohnt, stehen 50.000 Bücher in den Regalen, 1.200 davon sind bibliophile Raritäten.

Bücher sind für Eco "Korridore des Geistes". Vor zwei Jahren hat er an einem langen Liebesbrief an den gedruckten Text mitgeschrieben. Das macht ihn aber nicht zum Gegner des digitalen Wandels. Statt eine Tasche voller Bücher mit sich herumzuschleppen, hat er für seinen Großbritannien-Trip ein iPad mit 30 heruntergeladenen Titeln mitgenommen. Dennoch sieht er für das Buch eine große Zukunft. Lesegeräte seien gut für lange Reisen und böten Vorteile bei Nachschlagewerken, aber leidenschaftliche Leser würden immer ein richtiges Buch haben wollen – "nicht einfach nur Peter Pan, sondern meinen Peter Pan".

Handschrift und iPad

Dass Eco mit allem zurechtkommt – von der mittelalterlichen Handschrift bis zum iPad –, ist typisch für diesen grundoptimistischen, eklektischen Denker, der an allem interessiert scheint. Er kann genauso kenntnisreich über die Peanuts dozieren wie über Proust. Ich frage ihn, wie er wohl in Erinnerung bleiben wird – als Romancier, als Kritiker oder als Universalgelehrter? "Das überlasse ich Ihnen. Für gewöhnlich wird einem Schriftsteller ein längeres Nachleben zuteil als einem Wissenschaftler – wenn man nicht gerade Immanuel Kant oder John Locke ist."

Hat er sich also damit abgefunden, dass man sich eher wegen Der Name der Rose als wegen seiner Beiträge zur Semiotik an ihn erinnern wird? "Am Anfang dachte ich, meine Romane hätten nichts mit meinen akademischen Interessen zu tun. Dann entdeckten Kritiker aber viele Zusammenhänge. Also ließ ich mich überzeugen, dass beides zusammengehört."

Der Name der Rose, die Ästhetik des Thomas von Aquin und Semiotik und Philosophie der Sprache sind demnach aus einem Stück. Sie unterscheiden sich lediglich ein wenig bei den Verkaufszahlen.

Zeichen, Zeichen, nichts als Zeichen – Umberto Ecos Welt

Vor Kurzem feierte Umberto Eco seinen 80. Geburtstag. Am 5. Januar 1932 wurde er in der 100.000-Einwohner-Stadt Alessandria in der norditalienischen Region Piemont geboren. Diese Gegend taucht auch immer wieder in seinen Romanen auf. 1948 begann Eco in Turin ein Studium der Philosophie und Literaturgeschichte, das er 1954 mit einer Dissertation über die Ästhetik des Thomas von Aquin abschloss. Anschließend arbeitete er beim öffentlichrechtlichen Fernsehen RAI. Dann wechselte er als Sachbuchlektor zu einem Mailänder Verlag und machte sich als Kulturtheoretiker und Semiotiker einen Namen. Sein 1980 erschienener Roman Der Name der Rose wurde ein Weltbestseller. 1986 verfilmte Jean-Jacques Annaud das Buch mit Sean Connery in der Rolle des scharf kombinierenden Mönchs William von Baskerville der Name war ein Verweis auf Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes.

Als Einstieg in Ecos Kosmos der Verschwörungstheorien und geheimen Zeichen eignet sich aber am besten sein zweiter Roman: Das Foucaultsche Pendel (1988). Drei Mailänder Lektoren verdienen ihr Geld damit, Verschwörungstheorien in Buchform zu bringen und die Autoren dafür bezahlen zu lassen. Zum Spaß erfinden sie selbst eine Weltverschwörung mit Tempelrittern, Freimaurern und jüdischer Kabbala. Sie lernen dabei, dass es keinen Unterschied macht, ob Quellen fiktiv oder echt sind – es finden sich immer Menschen, die an die imaginierte Konspiration glauben. jap

Stephen Moss schreibt für den Guardian über Gesellschafts- und Kulturthemen.

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Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofman/Holger Hutt
Geschrieben von

Stephen Moss | The Guardian

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