Radikalumbau: Was bleibt vom Spirit der legendären Denmark Street?

Architektur Die Denmark Street in London bot alles, was Musiker so brauchten. David Bowie schlief hier in einem umgebauten Krankenwagen, die Sex Pistols starteten ihre Karriere. Nun soll der Spirit dieses Ortes monetarisiert werden
Ausgabe 33/2022

Es gab einmal diesen Hort in der Nähe von Soho im Herzen Londons, der vor musikalischer Energie nur so vibrierte. Sein Zentrum war die Denmark Street – Großbritanniens Pendant zu New Yorks Tin Pan Alley –, ein Straßenzug mit Geschäften, in denen Instrumente und Noten verkauft wurden, mit Clubs und Bars und solchen Dingen wie Studios und den Büros von Agenten und Managern in den oberen Etagen. Hier trafen neu in die Stadt gekommene Fans auf angehende Musiker und Stars. Einfach alles, was mit Musik zu tun hat – Schreiben, Produzieren, Aufführen, Hören, Verkaufen –, konnte auf dieser kurzen Strecke erledigt werden.

Eine schier endlose Liste von Größen hat dort Musik gemacht: Lionel Bart, die Rolling Stones, Jimi Hendrix, Elton John, George Michael, die Libertines, Adele, Ed Sheeran. Der junge David Bowie wollte unbedingt in der Straße sein, in der alles passierte, und so übernachtete er dort in einem umgebauten Krankenwagen. Die Sex Pistols starteten ihre Karriere von einer Wohnung in der Denmark Street aus. Auf der anderen Seite der Charing Cross Road, in Soho selbst, befand sich das London Astoria, ein Veranstaltungsort mit Platz für 2.000 Personen.

Viele hundert Millionen Pfund Baukosten später gibt es hier immer noch eine Straße mit Musikinstrumentengeschäften, neuen Veranstaltungsorten und Produktionseinrichtungen, einen „radikal neuen, technologiegesteuerten Marketing-, Unterhaltungs- und Informationsdienst in einem superflexiblen, digitalisierten Straßenbild“ und vieles mehr. Es wird „Busking Points“ (ausgewiesene Stellen für Straßenmusik) und Clubs geben. Das Astoria existiert nicht mehr, aber ein neues Theater mit 600 Plätzen namens @sohoplace soll kommen, und zwar an der Stelle, an der das Astoria stand.

Auf dem Papier ist die Nutzungsmischung also die gleiche, aber ihr Geist ist vollkommen anders. Das Ganze basiert auf dem Paradoxon, dass eine von Rebellion und Chaos geprägte Kultur nun durch die Prozesse großer Immobilienbesitzer kanalisiert werden soll. „Anarchy in the UK“ sieht anders aus. Vielmehr handelt es sich um eine neue Art von Anarchie in größerem Maßstab, bei der die Jungs, die den Lärm machen, große Unternehmen sind.

Der Katalysator für diese Extravaganz ist die Elizabeth Line, die überdimensionierte, beschleunigte, 18,9 Milliarden Pfund teure U-Bahn, die im Mai vergangenen Jahres eröffnet wurde und deren Bahnhof Tottenham Court Road täglich 200.000 Fahrgäste ausspucken kann. Für den Bau der U-Bahn mussten das Astoria und andere Gebäude abgerissen werden, um das Gelände für eine neue Bebauung frei zu machen. Sie karrt Scharen potenzieller Kunden vor die Haustür der neuen Veranstaltungsorte, die Outernet London beleben werden, ein milliardenschweres „immersives Unterhaltungsviertel“, in dem „Musik, Film, Kunst, Spiele und Einzelhandelserlebnisse auf neue, atemberaubende Weise zum Leben erweckt werden“.

„Londons Times Square“

Auch wenn er einige historische Fragmente enthält, ist dieser „Bezirk“ in Wirklichkeit ein einziges Projekt, im Besitz eines einzigen Unternehmens, Consolidated Developments. Am auffälligsten ist das Now Building, ein großer, länglicher Block, der einen beim Verlassen der U-Bahn begrüßt: ein riesiger, tischartiger Rahmen, der mit schwarzem Stein verkleidet ist und in dem sich mehrstöckige goldfarbene Fensterläden zurückklappen lassen, um ein Atrium zu enthüllen, das mit 23.000 Quadratmetern hochauflösender LED-Bildschirme ausgekleidet ist. Auch in anderen Räumen des Komplexes sind die Besucher von Bildschirmen umgeben. Sie werden von einem Sturm aus digitalem Licht und Bewegung begrüßt – Consolidated nennt das „Londons Times Square“.

Unterhalb des Now Building befindet sich ein neuer Veranstaltungsort mit 2.000 Plätzen, HERE at Outernet, der im September eröffnet werden soll. Dahinter steht das Chateau Denmark, ein Hotel, „inspiriert vom einzigartigen Treiben in der Denmark Street“, in dem man für 456 Pfund pro Nacht und aufwärts wie ein Rockstar in „Session Rooms“ übernachten kann, die mit Mahagoni und burgunderrotem Samt, „antikem Messing“ und „Industriebeton“ ausgestattet und mit kuratierten Graffiti vandalisiert sind. Und auf der Südseite des Blocks befindet sich die Denmark Street selbst, wo die alten Gitarrenläden – zum Teil dank der Unterstützung der Bezirksverwaltung von Camden – eingeladen wurden, ihre Geschäfte in den renovierten Gebäuden fortzuführen, dazu kommt ein „Grassroots Music Venue“ im alten 12 Bar Club.

Philip O’Ferrall, CEO von Outernet, bezeichnet sein Projekt als „das weltweit größte und fortschrittlichste Atrium für Content ... eine bahnbrechende, atomisierte Plattform für die Einbindung von Marken“, womit er meint, dass Unternehmen viel Geld dafür bezahlen werden, ihre Marken auf den großen Bildschirmen zu präsentieren und spektakuläre Veranstaltungen in den mit Screens ausgestatteten Räumen abzuhalten. Die Idee ist, das Publikum anzulocken und es dann zum Verweilen zu bewegen, mit den Bildern auf den Bildschirmen, mit der Musik, mit Bars und Restaurants, so dass es in Kauflaune kommt. „Wenn Sie sich 30 Sekunden länger in meinem Bereich aufhalten, kann ich Ihnen mehr Werbung anbieten“, sagt er. Mit den Einnahmen, so O’Ferrall, werden auch die weniger rentablen Musikgeschäfte auf der anderen Seite des Blocks finanziert.

Für die Architektur zeichnet das alteingesessene Büro Orms verantwortlich, das zuvor die Büros der Stadtverwaltung von Camden in das stilvolle Hotel Standard verwandelt hat. Da gibt es die großen, blockartigen, gold-schwarzen Gebäude, die ein wenig vom Art déco inspiriert sind. Es gibt erhaltene historische Fassaden, sanfte Ornamente aus Ziegeln, Stuck und Steinverkleidungen. Im Inneren des Blocks befindet sich eine Version der traditionellen Londoner Hinterhofbebauung, ein Flickenteppich aus glasierten Ziegeln und industriell anmutenden Fenstern. Der weitere Kontext, außerhalb der Grundstücksgrenze, spielt auf einer noch größeren Klaviatur: Da trifft die Zickzack-Betonfassade des Wolkenkratzers Centre Point aus den 1960er Jahren auf ein rosa-schwarzes, blumengemustertes Gebäude, das jetzt kurz vor der Fertigstellung steht.

Es gibt nicht viele Versuche, das alles miteinander zu verbinden. Es gibt viktorianische Ornamente in kleinem Maßstab und georgianische Überbleibsel, und dann gibt es die volle Dröhnung des hochtechnologischen Marketing-Entertainment-Komplexes des 21. Jahrhunderts. Dieser alles verschlingende Eklektizismus – ein All-you-can-eat-Buffet von Looks, Stilen und Einrichtungen – ist der Geist des gesamten Outernet-Projekts, von den Hotelzimmern über die Großbildschirme bis hin zu den erhaltenen Geschäften. Man spürt es, sobald man die U-Bahn-Station an der Kreuzung Oxford Street und Tottenham Court Road verlässt und mit einer digitalen Installation konfrontiert wird, die von Wolkenlandschaften, die eine „immersive Erfahrung von Achtsamkeit und Entspannung“ vermitteln sollen, über irgendetwas mit UNICEF zu dröhnender Musik von The Clash wechselt – ein schwindelerregender Ritt von Ruhe zu sozialem Bewusstsein zu Combat Rock.

Nun könnte man sagen: großartig. Ist es nicht von grundlegender Bedeutung für eine Stadt wie London, und insbesondere für Soho und seine Umgebung, ein Ort der Kontraste zu sein, ein reiches Palimpsest unterschiedlicher Bestrebungen und Schöpfungen, die sich in der Bausubstanz manifestieren? Und ist es nicht auch großartig, dass das musikalische Erbe des Viertels eine neue und offensichtlich gut finanzierte Form gefunden hat? Dass Hunderttausende von Menschen hier eine gute Zeit haben werden und dass Künstler die Möglichkeit erhalten, Musik zu machen und aufzuführen?

Es ist auf jeden Fall besser, dass all dies hier ist und die Gitarrenläden erhalten bleiben, als wenn alles von einem gigantischen Bürogebäude weggefegt worden wäre. Mag sein, dass es unverfroren ist, aber das waren die viktorianischen Musiksäle und die Kinos aus den 1930er Jahren auch, die heute liebgewonnene Kulturgüter sind. Aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass hier so etwas wie die Tin Pan Alley von einst fortbesteht. Denn was einst vielfältig und spontan war, steht heute unter der Kontrolle von Consolidated Properties und Outernet. Das, was man einen „Bezirk“ nennt, ist ein Immobiliengeschäft für einen einzigen Eigentümer. Was würde jetzt mit einem Bowie passieren, wenn er versuchen würde, hier in seinem Krankenwagen zu pennen? Oder mit einem Johnny Rotten mit einer Spraydose? Oder jemand, der auf eine nicht genehmigte Art und Weise Straßenmusik machen will?

Das Projekt kommt mit virtuosem PR-Kauderwelsch daher, das die Sätze jedes Sinns beraubt. Das Hotel, so heißt es, „vereint kreativen Ausdruck und feine architektonische Details, um etwas Kämpferisches zu präsentieren“. Die Zimmer kommen mit „starken Punkrock-Akzenten“ und „einem rebellischen Statement“ daher. Aber wie „rebellisch“ kann etwas an diesem Ort sein, der für den Verkauf von Autos, Software und Mode genutzt wird?

Das Ergebnis ist nicht die Tin Pan Alley, sondern etwas, das so aussieht, als ob sie von außerirdischen Archäologen mithilfe einer seltsamen künstlichen Intelligenz rekonstruiert worden wäre. Vielleicht ist das der Lauf der Welt – und moderne Methoden der Musikproduktion bedeuten, dass Orte wie die Denmark Street ohnehin nie wieder das sein können, was sie einmal waren – und wir sollten dankbar annehmen, was uns gegeben wird. Aber das ist nicht das, was Städte oder die Musik wirklich ausmacht.

Rowan Moore ist Architekturkritiker des Observer , der Sonntagszeitung des Guardian

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Geschrieben von

Rowan Moore | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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