Man stelle sich einen Athener vor, der nach einigen Wochen im Ausland am 28. September 2013 nach Athen zurückgekehrt ist. Er hat die Stadt verlassen, bevor der linke Musiker Pavlos Fyssas ermordet wurde. Und bevor Medien und Regierung die Augen für die Neonazi-Bedrohung öffneten und daraufhin der Goldene Morgenröte-Anführer Nikolaos Michaloliakos neben einigen Abgeordneten und Mitgliedern seiner Partei verhaftet wurde.
Die erste Reaktion des Zurückgekehrten auf das Vorgehen gegen die Partei der Goldenen Morgenröte wäre wohl eine Mischung aus Freude und Überraschung. Der Bewusstseinswandel der griechischen Behörden in Folge des Mordes an Fyssas war immerhin dramatisch. Allerdings lagen den selben Behörden seit Jahren detaillierte Informationen über die kriminellen Aktivitäten der Partei vor.
Rassistische Gewalt geschieht täglich – internationale Medien, nationale und internationale NGOs sowie der EU-Kommissar für Menschenrechte haben ausführlich darüber berichtet. Tatsächlich war sie für viele zur Normalität geworden. Justiz und Politik zeigten sich unwillens, etwas zu unternehmen. Ein Antirassismus-Gesetz wurde nie umgesetzt, vielmehr wurde gerade erst eine überarbeitete Version vom Parlament abgelehnt. Rassistisch motivierte Gewalttäter gingen straffrei aus.
Später Bewusstseinswandel
Vor weniger als einem Jahr beteuerte Nikos Dendias, der griechische Minister für öffentliche Ordnung, es bestehe keinerlei Verbindung zwischen der Polizei und der Goldenen Morgenröte. Dem Guardian, der über Folterungen von Antifaschisten durch griechische Polizisten berichtet hatte, drohte Dendias mit einer Beleidigungsklage. Nach dem Mord an Fyssas jedoch war er gezwungen, eine Untersuchung über derartige Verbindungen einzuleiten. Mehrere hochrangige Polizeibeamte wurden daraufhin entlassen oder suspendiert. Einen Tag nach dem Mord wurde in 32 Fällen – darunter auch gewalttätigen Vorfällen, teils sogar mit Todesfolge – Anklage gegen die Goldene Morgenröte erhoben.
Unserem Athener würden sich wohl naheliegende Fragen stellen: Warum haben die Behörden nicht früher eingegriffen? Und warum tun sie es jetzt? Könnte es daran liegen, dass ein Grieche ermordet wurde?
Man hätte die Partei der Goldenen Morgenröte schon vor Langem zur kriminellen Vereinigung erklären und rechtlich gegen sie vorgehen sollen. In den meisten europäischen Ländern wäre dies automatisch geschehen. Nach dem Mord an Fyssas gaben europäische Politiker ihren Unmut zu verstehen, es wurde sogar angeregt, Griechenland solle im Januar auf die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft verzichten, solange man dort nicht gegen die Neonazis vorgehe.
Das Böse lauert auf der Straße
Vielleicht allerdings war das Hauptmotiv für den Reaktionswandel der Regierung auch politisches Kalkül: Noch vor Kurzem hatten hochrangige rechte Politiker und Kommentatoren vorgeschlagen, die rechte Nea-Dimokratia-Partei (ND) solle in Erwägung ziehen, gemeinsam mit den Neonazis von der Goldenen Morgenröte eine Koalitionsregierung zu bilden, wenn diese „moderater“ würden. Die Regierung stellte die linke und antifaschistische Bewegung, ungeachtet der Tatsache, dass diese jahrelang Widerstand gegen den Nazismus geleistet hat, als eins von zwei gewaltbefürwortenden „Extremen“ dar.
Diese historisch ignorante und moralisch perverse „Theorie der zwei Extreme“ sollte Angst verbreiten und die Menschen dazu bringen, sich von linken Organisationen und Graswurzelbewegungen abzuwenden, die Widerstand gegen die Neonaziangriffe üben und deren Opfer unterstützen. Nun hofft die Koalitionsregierung aus Nea Dimokratia und Pasok, Wähler von der nun als kriminell geltenden Goldenen Morgenröte zurückzugewinnen.
Das Gefühl ist also bittersüß: Die öffentlichkeitswirksame Verhaftung der Goldenen Morgenröte-Führung wird, auch wenn sie verspätet war, bei vielen für Erleichterung sorgen. Bei den in Athen lebenden Migranten, die sich auf den Straßen der Hauptstadt nun vielleicht unbeschwerter bewegen können, bei Homosexuellen, Linken, Antifaschisten und überhaupt allen, die der schamlose Einzug der Goldenen Morgenröte ins das alltägliche Leben und die Politik Griechenlands entsetzte.
„Haltezentren“ für Migranten
Jeder Mensch mit dunkler Hautfarbe musste in Athen vorsichtig sein. Das Böse ging auf den Straßen der Stadt umher.
Auf institutioneller Ebene jedoch hat sich kaum etwas verändert. Dass Schläger es nun mit Strafgesetz zu tun bekommen, wird nichts am weitverbreiteten Rassismus ändern, den die ND/Pasok-Regierung anschürt. So verglich der ehemalige Gesundheitsminister Andreas Loverdos, ehemals Pasok, die Goldene Morgenröte mit einer „griechischen Hisbollah“, die bei den „großen Themen aktiv“ sei und „Vertrauen“ schaffe.
Vyron Polydoras, ein ehemaliger Minister der Nea Dimokratia, drängte auf eine Koalition mit der Goldenen Morgenröte. Und Premierminister Samaras selbst erklärte im März 2012: „Unsere Städte sind von illegalen Einwanderern besetzt worden. Wir werden sie uns zurückholen.“ Die Regierung hielt Wort und brachte die ironischerweise nach dem Gott der Gastfreundschaft getaufte Operation Xenios Zeus in Gang. Dunkelhäutige Menschen wurden massenhaft bei Razzien festgenommen und nicht erfasste Migranten in euphemistisch benannten „Haltezentren“ festgehalten.
Gedankengut verbieten
Selbige Regierung hob das im Jahr 2010 verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz auf, das Einwanderern der zweiten Generation erstmals einen Anspruch auf die griechische Staatsbürgerschaft einräumte. HIV-Patienten und Drogenabhängige wurden von Regierung und Behörden kriminalisiert; Anarchisten und Antifaschisten verfolgt und illegal inhaftiert, Löhne und Renten drastisch gekürzt.
Die Jugendarbeitslosigkeit schoss unter ihr auf über 60 Prozent, Krankenhäuser wurden geschlossen und Universitäten an den Rand des Kollaps gedrängt. Hierin liegt das große Paradox der Demontage der Partei der Goldenen Morgenröte: Die selbe Regierung, die die Demokratie bedroht und sich dem Faschismus gegenüber nachsichtig zeigt, verschafft sich selbst demokratische Legitimation, indem sie vermeintlich den Extremismus eindämmt.
Die Goldene Morgenröte ist eine politische Partei und eine Gang – und Verbote politischer Parteien erweisen sich oft als problematisch und ineffektiv. Faschistisches Gedankengut kann man per Gesetz verbieten, aber nicht aus der Welt schaffen. Es muss vielmehr politisch bekämpft werden. Der Kampf gegen die Goldene Morgenröte ist nicht auf die begrüßenswerte, aber theatralische Verhaftung ihrer Parteiführung begrenzt. Der Antifaschismus ist ein politisches Ringen darum, welches Leben wir führen wollen. Es wird jeden Tag ausgetragen von Bürgern, Aktivisten, zivilgesellschaftlichen Gruppen und Migranten-Communities. Es ist ein Kampf für Demokratie, Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Dieser kann nicht gewonnen werden, solange die systemische Ungerechtigkeit der Austerität nicht besiegt ist.
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