Immer lauter schwillt der Elektro-Beat an, peitscht die Menge auf. Auf den Laufsteg gerichte Scheinwerfer tauchen den dramatischsten Auftritt des Abend in gleißendes Licht. Nur mit funkelnden goldenen Hotpants bekleidet, gleitet Maykel Gonzales, eine ebenholzfarbene Schönheit mit prachtvollem Afro und neckischem Lächeln auf Rollerblades über den Laufsteg. Die Menge jubelt, johlt und pfeift.
Dabei sollte es hier bis vor kurzem eigentlich noch nicht einmal Modeschauen geben. Denn das hier ist nicht New York, Mailand, sondern Havanna, die Hauptstadt des Fidel Castro’schen Kuba. Dazu, und das ist noch viel überraschender, ist Gonzales ein Mann. Ein wohlgeformtes, muskulöses Modell, das für diese Nacht in eine Schwulenfantasie verwandelt wurde. Der kubanische Staat war einmal homophob und prüde, hier jedoch gestattet er eine schlüpfrige Show in einer erstklassigen Örtlichkeit – vor dem Museum der Revolution. „Man könnte schon sagen, dass dieses Kostüm ein bisschen schockierend ist, immerhin bin ich fast nackt. Aber heutzutage geht es sehr viel toleranter zu“, erzählt der 23jährige Gonzales während er hinter der Bühne für Fotos posiert. „Man könnte sagen, dass die Dinge sich entwickelt haben.“ Ignatio Carmona, der Designer seines Kostüms, der in seinem weißen Anzug schwer an Elton John erinnert, nickt zustimmend: „Es geht viel entspannter zu.“
Es tut sich was in Kuba kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag der Revolution. Was genau? Nun, nichts Politisches. Fidel und Raúl Castro dominieren noch immer sämtliche wichtigen Institutionen. Es hat auch nichts mit der Wirtschaft zu tun. Die im vergangenen Jahr angekündigten Minireformen sind zum Stillstand gekommen. „Warten, warten. Warten auf Veränderung, wie eh und je“, seufzt ein ehemaliger Diplomat beim Gedanken daran.
"Unsere kreativen Ideen sollten um die Welt gehen"
Einige Kubaner aber warten nicht – junge Künstler, Musiker, Designer und Filmemacher bespränkeln die kulturelle Konformität mit Regenbogenfarben. Das ist zwar noch kein Glasnost, doch diese ästhetischen Neuerer sprengen die offiziellen Toleranzgrenzen und verschaffen so einer Generation eine Stimme, die sich danach sehnt, mit dem Rest der Welt in Verbindung zu treten und neu zu definieren, was es heißt, kubanisch zu sein. „Es herrscht das Gefühl, dass wir einen historischen Moment erleben und es an der Zeit ist, die Dinge anders zu machen“, sagt Yandi Morgado, ein junger Designer, der sich ebenfalls an der Modenschau beteiligt. Das fünfundzwanzig Jahre alte Model Miel Lorenzo trägt ein aus Luftballons gefertigtes Outfit und träumt von Anerkennung: „Wir finden, unsere kreativen Ideen sollten um die Welt gehen und demonstrieren, was die jungen Kubaner können.“ Doch die Bedingungen sind entmutigend. Die meisten Künstler sind pleite und haben Mühe, Materialien und Werkzeuge zu beschaffen, ob es sich dabei nun um Stoffe, Mikrofone, Linsen oder Farben handelt. Überschreiten sie gewisse politische Grenzen, riskieren sie gefangen genommen zu werden. Durchqueren sie die Meerenge von Florida, um in die USA zu kommen, riskieren sie es zu ertrinken. Die kulturellen Restriktionen aber sind gelockert worden und die Kubaner wollen ihre Erlebnisse in der Kunst wiederfinden, -hören und -sehen.
„Ein Künstler muss einen Weg finden, zu protestieren, Menschen zu erreichen und sie zum Nachdenken zu bringen,“ findet Giordano Serrano. Der gepiercte 32jährige mit dem kahlrasierten Kopf ist Mitbegründer der Band Qva Libre, die zu den beliebtesten Gruppen der Insel gehört und deren Erfolg sich schon an der Zahl der Fans ablesen lässt, die Serrano auf unserem Spaziergang Havannas Bohemehochburg, der G Street hinunter, anhalten. „Wir protestieren, aber auf subtile, fast poetische Weise.“ Qva Libre – die Schreibweise ergibt sich daraus, dass der Name Cuba Libre copyrightgeschützt ist – haben Rock, Pop, Jazz, Hardcore und Hip Hop zu einem unverwechselbaren Sound zusammengeführt, der die Versäumnisse auf der Insel kritisiert, ohne die allzeit wachsamen Behörden zu provozieren. „Die Revolution hat viel Gutes gebracht“, sagt Serrano. „Manchmal muss man sich aber auch für die andere Seite stark machen.“
Das kulturelle und intelektuelle Leben blüht - auch Dank der Bildung der Bevölkerung...
Künstler genießen größere Freiheit als Journalisten und sie profitieren davon, dass die kubanische Bevölkerung zu den gebildetsten in der Region zählt. „Kulturell gesehen sind wir hier besser gestellt als das übrige Lateinamerika“, bestätigt Gabriel Calaforra, ein ehemaliger Botschafter, Linguist und Gelehrter. Der agile 75jährige mit den strahlenden Augen hält seit über zehn Jahren in seiner Wohnung, die in schlechtem Zustand, aber voll mit Büchern ist, Versammlungen junger Leute ab, die sich der „Montags-Club“ nennen. Man spielt Gitarre, tauscht Romane aus, unterhält sich über Philosophie und handelt mit ausländischen Film- und Musikleckerbissen. Wendet die Unterhaltung sich der Politik zu, so sehen die Regeln es vor, sollte sie auf dem Balkon weitergeführt werden. „Zweifelsohne gibt es einen Informanten im Club“ sagt Calaforra mit einem schiefen Lächeln. „Aber ich weiß nicht wer es ist und will es auch gar nicht wissen. Oft ist es die Person, von der man es am wenigsten vermutet.“ Trotzdem wird er bald den „Donnerstags-Club“ ins Leben rufen, in dem Reformen der Revolution diskutiert werden sollen.
...und staatlicher Förderung
Für Teenager wie Jorge, einem Tänzer, dem die Aufnahme in die nationale Ballettschule bevorsteht, ist der Staat keine Überwachungsinstanz, sondern ein großzügiger Sponsor. „Hier erhält man die Möglichkeit zu tun, was immer man möchte. Wenn man hart arbeitet und etwas wirklich will, steht einem der Weg offen.“ Dieser Sicht schließt sich auch ein westlicher Diplomat an, der der Revolution sonst eher kritisch gegenüber steht: „Die Kunst lebt und jeder hat Zugang zu ihr. Ganz normale Menschen besuchen die Oper.“
Bei einem durchschnittlichen Monatslohn von 17 Dollar kann es große Anstrengungen bedeuten, täglich etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Cineastische Augenschmäuse sind aber kein Problem, da die Kinos bezuschusst werden und der Eintritt nur wenige Cent kostet. Das Programm umfasst die üblichen Hollywoodstreifen ebenso wie Dokumentationen aus Europa, Asien und Lateinamerika. Beim 30. Havanna Festival des Lateinamerikanischen Kinos besuchten im Dezember 1.5000 Zuschauer die Premiere des Che Guevara-Biographiefilmes Che von Steven Soderbergh. Auch Benicio del Toro, der die Revolutions-Ikone im Film verkörpert, war da. Der Film The Broken Gods, ein düsteres Portrait von Prostituierten und Zuhältern in Havanna, wurde sowohl vom Publikum als auch von der kommunistischen Jugendzeitung Juventud Rebelde gefeiert. Dem Kino sind in Bezug auf sensible Themen größere Freiräume gestattet als anderen Medien. Sogar Das Leben der Anderen wurde gezeigt, wenn auch nur ein einzigen Mal. In den Neunzigern brachte das tolerantere Klima dann filmische Blüten wie Erdbeeren und Schokolade, in dem es um die Rechte Homosexueller geht, oder Guantanamera, der sich mit Korruption auseinandersetzt, hervor.
Als junger Mann zeigte Fidel Castro wenig Interesse für Kunst. „Ich habe ein schlechtes Gehör für Musik“, sagte er einst. Und als er im Jahr 1959 New York besuchte und Freunde auf einen Abstecher in das Museum of Modern Art drängten, ging er statt dessen in den Zoo. Ein Bücherwurm hingegen, der Belletristisches, genau wie Werke über Geschichte, Wirtschaft und Philosophie verschlang, ist er immer gewesen. Die Revolution wurde anfangs von Künstlern und Intellektuellen begeistert begrüßt, die Leidenschaft kühlte sich allerdings schnell ab, als Dichter wie Heberto Pallida ins Gefängnis gesteckt wurden und unabhängige Zeitungen wie Lunes durch Sprachrohre der Kommunisten wie Granma ersetzt wurden, die „journalistisch so attraktiv waren, wie das Telefonbuch einer Kaserne“, so Castro-Biograph Volker Skierka.
Für die Homosexuellen Kubas verschlechterte sich die Situation, als sie mit der Begründung, sie leisteten konterrevolutionären Gefühlen Vorschub, verfolgt wurden. In den Neunzigern ließen die Repressionen dann aber nach und heute strahlt sogar das Staatsfernsehen Brokeback Mountain aus und Raúl Castros Tochter Marielle setzt sich als Vorsitzende des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung für die Rechte Homosexueller ein. Ihren Vater habe sie früher als „einen homophoben Macho“ betrachtet, berichtet sie Reportern. „Aber ich bin als Person gewachsen und habe mich verändert und auch sehen können, dass er sich verändert hat.“
Für Homosexuelle sind die Erleichterungen also immens. „Ich bin mir nicht sicher, ob es an Raúl, den vermeintlichen Reformen oder woran auch immer liegt, aber wenigstens werden wir nicht mehr bedroht“, sagt Yosmani, 27, der mit seinem sechs Jahre älteren Freund Héctor die Flaniermeile El Prado hinunter schlendert. „Sehen Sie nur, ich kann jetzt sogar auf der Straße seine Hand halten.“
Auch das offene Zur-Schau-Stellen von Wohlstand trifft heutzutage auf größere Akzeptanz. Im vergangenen Jahr wurden die Einschränkungen über den Besitz von Mobiltelefonen, DVD-Playern und Computern gelockert, was bei einer privilegierten Minderheit von Kubanern mit harten Währungen im Portemonnaie wahre Einkaufsorgien auslöste. „Wir kaufen gerne gute, schöne Sachen, wie ihr in euren Ländern auch“, sagt der 20jährige Miguel, der mit einem Handy in der Hand vor einem Adidas-Laden in der Neptuno Straße ansteht.
Unbequemen Kommentatoren wird die Leitung gekappt
Die politischen Kontrollen jedoch bleiben rigide und wer die Schranken durchbricht, hat den Preis zu zahlen. So wie Gorki Guila. Der Sänger der Gruppe Porno para Ricardo nimmt kein Blatt vor den Mund, saß schon im Gefängnis und lebt nun unter ständiger Überwachung. In Liedern wie El Comandante beschimpft er Fidel und Raúl, die er für betagte Tyrannen hält. Dieses Jahr stand Gorki, wir er genannt wird, eigentlich erneute Haft bevor, weil „soziale Gefahr“ von ihm ausgehe und er gegen die „kommunistische Moral“ verstoße. Nachdem es aber zu internationaler Empörung kam, wurde er freigelassen und musste lediglich ein Busgeld zahlen.
Ein Telefoninterview mit Gorki wird immer wieder von staatlichen Lauschern unterbrochen. „Ich kann nicht genau sagen, wann wir Konzerte geben, weil diese Arschlöcher – ja, ihr Aaaarschlöööcher – dann vorbeikommen und uns das Leben schwer machen.“ Dann ist die Leitung tot. Bei einem erneuten Anruf führt Gorki aus: „Wir spielen also viel im Untergrund, vielleicht vier Konzerte im Jahr. Ich war im Gefängnis. Da war es scheiße, aber als ich dann herauskam, war ich wieder in der Scheiße, in einem anderen Gefängnis. Ich werde immer beobachtet.“ Click, brr – Leitung unterbrochen. Nach erneutem Wählen fährt Gorki fort: „Es gibt eine Jugendkultur, die versucht etwas zu tun, aber dafür gibt es keinen Raum, weswegen die Leute nicht weiterkommen. Wir sind hier isoliert. Die Kultur steckt fest, die Musik steckt fest.“ Click, brrr - nochmal wählen. „Aber wir tun, was wir können. Wenigsten tun wir was. Und wir werden nicht aufhören. Wenn man am Arsch ist, versucht man einen Weg zu finden, auf dem man weiter machen kann.“ Die Leitung wird wieder gekappt.
Sogar Bands, die nach Behördenmeinung auf der richtigen Seite stehen, wie Qva Libre werden kontrolliert. Nachdem die Band beim kontroversen Film Havanna Blues mitgewirkt hat, in dem eine junge Band von ausländischen Produzenten verführt wird, holte die Realität die Story ein. Die Produzenten des Filmes wollten Qva Libre für Promotion nach Europa holen, die Truppe erhielt aber keine Ausreisevisen. „Das System tötet Künstler mit seinen unsinnigen Regeln,“ findet deshalb auch Serrano. „Sie wollen, dass jeder im Mainstream mitschwimmt.“
"Die Avantgarde gibt den Ton an" - von der Kunst zu leben ist aber auch in Kuba schwer
Für einige ist die Verlockung, von angeblicher künstlerische Freiheit und lukrativen Verträge unwiderstehlich – und stellt sich am Ende als tragisch heraus. Elvis Manuel, ein aufgehender Stern am Himmel des Raggaeton, einer populären Mischung aus Rap, Raggae und Latino-Pop, wurde das große Geld versprochen, wenn er nach Miami zöge. Das Schmugglerboot kenterte, der 18-Jährige ward nie mehr gesehen. Seine Mutter und zwei seiner Kollegen überlebten und wurden im vergangenen April zurück nach Kuba gebracht. „Uns wurde gesagt, wir würden innerhalb von zwei Monaten zu Millionären werden“, erzählte Alejandro „DJ Jerry“ Rodríguez später Reportern.
Künstler die bleiben, sehen zu, dass sie über die Runden kommen. Oft genug bedeutet das, dass sie ihr Talent an Touristen verkaufen und immer und immer wieder dasselbe spielen. „Sie finden uns ziemlich jeden Tag hier“, bestätigt ein Mitglied der Tradiciones del Son, einer Salsagruppe à la Buena Vista Social Club, die in der Bar San Carlos in der San Ignacio Straße auftritt. Nach jedem Lied verhökern sie CDs an Mojito-schlürfende Touristen in Shorts und Flip-Flops. Die Musiker, die ihren kreativen Drang nicht dämmen können, finden Wege und Möglichkeiten zur Innovation. Nicht selten komponieren und spielen sie experimentelle Stücke für Freunde. „Der Kubaner ist kreativ und findet immer einen Weg,“ weiß Serana. „Die Autodidakten, die Avantgarde – das sind diejenigen, die hier der kulturellen Bewegung den Ton angeben.“
In einem ähnlichen Dilemma wie die Musiker finden sich die Maler. Die Touristen wollen Che Guevara-Portraits und Straßenszenen aus Havanna, also werden diese gemalt und das ohne Unterlass. „Es gibt einige gute junge Maler, die versuchen ihre Nische zu finden, aber das ist nicht einfach. Immerhin müssen wir auch etwas essen“, schildert Eduardo, 20, auf einem Open Air-Kunstmarkt. Nikaoly Alayo, ein etwas älterer Künstler, drückt es weniger zurückhaltend aus: „Die Touristen wollen Mist, also geben wir ihnen Mist. Wir haben Geld in der Tasche und alle sind glücklich. Echte Künstler allerdings schaffen echte Kunst. Sie machen das für sich selbst.“ Sein Arbeitsraum ist voll von abstrakten, körperlosen Portraits. „Ich male, was ich will“, trotzt er. „Niemand kann mich davon abhalten.“
Und in den neuerdings so pulsierenden Ateliers, Studios und Theatern von Havanna tun immer mehr es ihm nach.
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