Ritualisierte Reaktionen

Amokfahrt Etwas Schrecklicheres als das in Nizza Geschehene kann man sich kaum vorstellen. Doch man sollte nicht den Eindruck erwecken, noch mehr Militär könnte uns davor schützen
Der Tatort an der Promenade des Anglais
Der Tatort an der Promenade des Anglais

Foto: Imago

Für 84 Menschen kam jede Hilfe zu spät in dieser Nacht des Grauens vom 14. zum 15. Juli. Man kann jetzt nichts tun, als Anteil zu nehmen und mit den Franzosen zu trauern. Es besteht aber die Gefahr, dass die ritualisierten, weltweiten Reaktionen auf den Anschlag ungewollt zu einem Lautsprecher mörderischer Gewalt mutieren und dessen Wirkung so verstärken. Gleichzeitig verstärken diese Reaktionen auch die öffentliche Erwartung noch, dass "etwas dagegen getan werden kann".

Frankreichs Präsident hat nun den Ausnahmezustand für weitere drei Monate verlängert, der nach den Anschlägen vom 13. November verhängt worden war. Einmal mehr erklärte François Hollande, Frankreich befinde sich "im Krieg" mit den Kräften des islamistischen Terrorismus. Auch das zählt zu den erwartbaren Reaktionen.

Noch einmal 10.000 Reservisten sollen bis auf weiteres mobilisiert werden, die französischen Militäraktionen in Syrien und dem Irak verstärkt werden. In London und New York sind die Behörden der Terrorbekämpfung in Alarmbereitschaft, Präsident Obama wird "von seinem nationalen Sicherheitsteam auf den neuesten Stand gebracht".

Vielleicht können diese Reaktionen die Menschen von Nizza in ihrem Schock ein wenig trösten. Aber es gibt keine Armee auf dieser Welt, die eine Menschenmenge vor einem Wahnsinnigen in einem schweren LKW schützen kann.

Seit ihrer Erfindung gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind motorisierte Fahrzeuge immer auch Mittel von Terror und Tod gewesen. Die erste Autobombe ging 1920 an der Wall Street in die Luft. Autos und Trucks werden deswegen aber ebenso wenig verboten werden wie Schusswaffen in den Vereinigten Staaten. Die einzig vernünftige Reaktion besteht darin, das Risiko zu akzeptieren, das sie immer mit sich bringen werden. Und man sollte nicht so tun, als könne man derart monströse Verbrechen einfach verschwinden lassen.

Fragwürdige Entscheidungen

Lobbyisten der Sicherheitsindustrie haben mittlerweile reichlich Übung darin, aus terroristischen Anschlägen Kapital zu schlagen und sie als Beleg dafür zu nutzen, dass wir immer noch mehr Geld für immer bessere Systeme und Waffen ausgeben müssen. Da mutet es an wie der blanke Hohn, dass die Menschen in Nizza kurz vor dem Anschlag eine Flugschau der Luftwaffe mitverfolgt haben. Die Kampfflugzeuge konnten die Menschen aber ebenso wenig vor dem Anschlag bewahren wie Frankreichs Atomraketen oder Flugzeugträger.

Hollande hätte besser 10.000 Psychologinnen oder 10.000 Islamwissenschaftler mobilisieren sollen. Frankreichs Rolle in den von Islamisten geführten Bürgerkriegen in Syrien und dem Irak auszuweiten, dürfte jedenfalls eher dazu führen, dass weitere junge Männer Selbstmordanschläge begehen.

Irrsinige Abenteuer

Ein LKW-Fahrer in Nizza gefährdet nicht die Sicherheit Frankreichs, der USA oder Großbritanniens. Die Identifikation des Nationalstaates mit dem willkürlichen Mord an unschuldigen Menschen ist politisch falsch. So zu tun, als könnte das politische Führungspersonal solche Anschläge in irgendeiner Weise verhindern, lenkt völlig von der Arbeit der Polizei und der Nachrichtendiensten ab, die sie zumindest zahlenmäßig eindämmen könnten.

Stattdessen institutionalisiert diese Vorstellung die Angst der Öffentlichkeit und verführt Regierungen zu hirnverbrannten Abenteuern im Ausland. Und den Menschen zuhause gaukelt sie vor, sie mit einer immer größeren Beschneidung ihrer Freiheiten beschützen zu können.

Was in Frankreich jetzt erneut geschah, ist furchtbar und verlangt nach menschlichem Mitgefühl. Darüber hinaus gibt es nichts, was wir sinnvoller Weise tun könnten – außer alles noch schlimmer zu machen.

Simon Jenkins ist Guardian-Kolumnist

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Geschrieben von

Simon Jenkins | The Guardian

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