„Es reicht nicht aus, sich zu fragen, wie erfolgreiche Menschen sind“, argumentiert Malcolm Gladwell in seinem neuen Buch Überflieger. „Wir müssen uns vielmehr fragen, woher sie kommen, um zu verstehen, warum der eine Erfolg hat und der andere nicht.“ Gladwells eigene Herkunft ist kompliziert. Sein Vater ist Mathematikprofessor in Sevenoaks (Kent), seine Mutter Familientherapeutin aus dem ländlichen Jamaika, Urgroßenkelin eines Plantagenbesitzers und einer Sklavin, die dieser sich zur Konkubine nahm.
Gladwell ist ein Weißer mit Afrofrisur. Er wuchs in Elmira auf, einer von Mennoniten dominierten Kleinstadt in Ontario, wo man stolz darauf ist, eines der weltgrößten Ahornsirup-Festivals auszurichten. Heute lebt er in einer kleinen, über und über mit Büchern zugestellten Wohnung in Greenwich Village, der geistigen Heimat der Leser des New York-Magazins, für die er einen fast mystischen Stellenwert hat.
Wenn er redet oder schreibt, merkt man Gladwell jeden einzelnen dieser familiären Einflüsse an - und zwar alle auf einmal. Die peniblen Formulierungen hat er vom Vater, die Liebe zum Erzählen und das Talent zum Hinterfragen von seiner Mutter Joyce, deren Lebensgeschichte Brown Face, Big Master er sein Lieblingsbuch nennt. Er kultiviert den objektiven Blick eines Außenseiters auf New York und legt dabei die neurotische Energie des Insiders an den Tag.
Warum es verschiedene Sorten Senf, aber nur einen Ketchup gibt
Er mag keine Schreibtische. Nach ein oder zwei Stunden zuhause rotiert er durch die Stadt – ein Café in dem jeden Tag The Smiths gespielt werden, ein oder zwei Restaurants in Little Italy, wo man sich nicht an seinem Laptop stört. Gladwell ist ein Vollzeit-Theoretiker und hat natürlich eine Theorie dafür, warum das so ist. „Die Menschen sind reich an Erfahrung aber arm an Theorien“, erklärt er. „Im Gegensatz zu Leuten wie mir, die geschäftig herumsitzen, Bücher lesen und Kaffee trinken, haben Leute, die am laufenden Band Dinge erledigen müssen, nicht die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zu ordnen und zu bewerten.“ Also ordnet und bewertet Gladwell an ihrer statt. Seine Essays geben einem das Gefühl, Amerika zu verstehen, die Gründe dafür, warum es verschiedene Sorten Senf aber nur einen Ketchup gibt und was Haarfärbemittel über den Zustand des Landes verraten. Sein Trick ist es, gerade bereits erschöpfend beschriebenen Sujets noch eine intellektuelle Überraschung abzugewinnen.
In seinem Erstling Der Tipping Point (ein Begriff der von Ökonomen der Fünfziger Jahre geprägt wurde) beschreibt Gladwell, wie nützlich Epidemiologie sein kann, um zu verstehen, wie sich Ideen und Produkte in der Gesellschaft verbreiten. Das Buch wurde nicht nur ein in 25 Sprachen übersetzter viraler Bestseller, es brachte so auch die Idee von viralen Bestsellern in die Welt. Sein zweites Buch Blink, das die Stärke spontaner und instinktiver Entscheidungen behandelte, war ein ähnliches Phänomen: aktuelle Erkenntnisse in kognitiver Psychologie, neuverpackt als eine persönliche Suche. In beiden Fällen könnte man denken, dass Gladwell letztlich einem listigen autobiographischen Impuls folgt. So bezeichnet er in Der Tipping Point jene Menschen, die Ideen epidemisch machen, als ‚Konnektoren’ und ‚Experten’. Eine Definition, die ihn mithin selbst zum Experten machte.
Was macht außergewöhnliche Leute außergewöhnlich?
Überflieger heißt nun das neueste Produkt dieser Methode. Es wird beworben wie die übliche Erfolgsgeschichten-Stapelware, garniert mit Gladwells patentiertem Mix aus viralen Begriffsdefinitionen und intuitiver akademischer Detektivarbeit. Es bringt ihn zurück zu seinem ureigensten Thema: Was macht außergewöhnliche Leute außergewöhnlich? Worin sich natürlich die Frage verbirgt, was Malcolm Gladwell zu Malcolm Gladwell macht.
Teeschlürfend erläutert er mir, als ich ihn in seiner Wohnung besuche, diese spezielle Auseinandersetzung in den Begrifflichkeiten einer schnell improvisierten Theorie über zwei Arten von Journalisten: solchen, die mit dem Offensichtlichen beginnen und denen etwas Interessantes dazu einfällt, und solchen, die sich auf die Suche nach Themen abseits der normalen Erfahrung begeben. Sich selbst zählt er zu ersteren.
Er glaubt, dass sein Bedürfnis, mehr von Erfolgsgeschichten zu verstehen und davon, warum manche der Menschen um ihn herum versierter oder glücklicher sind als andere, von seiner Zeit als Mittelstreckenläufer herrührt. Im Verlauf des Gesprächs vergleicht er immer wieder Laufen und Schreiben. Beides, so meint er, seien aufrichtige Ausdrucksweisen für persönlichen Leistung. In beiden Disziplinen war er eine Art Wunderkind. Den Moment, als er, inzwischen Teenager, von anderen im Laufen geschlagen wurde, hat er in einem Essay über Sportler und Wettkämpfe beschrieben:
Laufen und Schreiben
„Ich hörte auf, mich als Läufer an Wettkämpfen zu beteiligen als ich 16 war – gleich nach dem Sommer, als ich mich für das Ontario-Auswahlteam meiner Altersklasse qualifiziert hatte. Ende August waren wir zu den kanadischen Meisterschaften nach St. John’s, Neufundland, gefahren … Ich hatte zwei weiße Freunde in diesem Team, beides Mittelstreckenläufer wie ich. Jeden Morgen liefen wir drei durch die Straßen von St. John’s, kämpften uns die Hügel hoch und flogen auf der anderen Seite wieder hinab. Einer dieser Freunde machte später am College eine ordentliche Läuferkarriere, der andere wurde ein Weltklasse-1000-Meterläufer; ich selbst hielt in jenem Sommer den kanadischen Rekord über 1.500 Meter in meiner Altersklasse. Wir hatten nicht den geringsten Zweifel an unserer Begabung, und haben beim Laufen immer herumgewitzelt, nur um zu zeigen, wie lachhaft leicht uns das Laufen erschien. Ich dachte die ganze Zeit, wir wären uns ebenbürtig. Dann, am letzten Tag unseres Aufenthalts in St. John’s, sind wir zum Signal Hill gelaufen, der größten Erhebung der Stadt. Wir hielten am Anstieg an, die beiden wandten sich zu mir um und erklärten, wir sollten den Hügel nun rückwärts hoch laufen. Ich weiß nicht, ob ich eine größere läuferische Begabung hatte als die beiden oder ob meine afrikanische Abstammung mir einen genetischen Vorteil verschaffte. Ich weiß nur, dass solche Fragen keine Rolle spielten, denn ich kapierte auf einmal, dass die beiden willens waren, weit größere Strecken zurückzulegen, um ihr Talent zu entwickeln. Sie liefen den Hügel rückwärts hoch. Ich lief heim.“
Den Grenzen seiner eigenen Einsatzbereitschaft begegnet zu sein, war eine prägende Erfahrung für Gladwell. Als jüngster von drei Söhnen hatte er immer die Konkurrenz gesucht. Sein Vater beschrieb ihn als „von Ehrgeiz zerfressen“. Aber was war mit jenen Menschen, denen der Erfolg noch wichtiger war als ihm? Wie tickten sie? Gladwell entwickelte eine Obsession für Obsessionen. Man könnte also denken Überflieger sei ein Handbuch für den Selfmademan, eine Neuformulierung des Traums vom amerikanischen Individualismus; tatsächlich ist es das absolute Gegenteil. Gladwells Behauptung ist nicht nur, dass Erfolg das Resultat einer komplizierten Mischung sozialer Vorteile ist, sondern auch, dass die Annahme, manche Persönlichkeiten hätten besondere Begabungen und Fähigkeiten, sich destruktiv auf jede Idee von Gesellschaft auswirkt.
Was er schreibt, ist wie ein einziges Abenteuer
„Keiner schafft es je allein“, sagt er, „weder Rockstars noch Profiathleten, Software-Milliardäre, nicht einmal Genies.“ An dieser Theorie ist zwar nichts Neues, aber Gladwells Talent für interdisziplinären Transvestismus lässt sie extrem modern erscheinen. Er besitzt das - ohne Zweifel von vielen sozialen Faktoren abhängige – Genie, alles was er schreibt wie ein unglaubliches Abenteuer erscheinen zu lassen. So verkündet er beispielsweise, mit Blick auf die Geburtsdaten professioneller kanadischer Eishockeyspieler, eine kuriose Statistik: In jedem Elite-Team wurden vierzig Prozent der Spieler zwischen Januar und März geboren, dreißig Prozent zwischen April und Juni, zwanzig Prozent zwischen Juli und September und nur zehn Prozent zwischen Oktober und Dezember. Der Grund? Der Stichtag für die Altersgruppen im Junior-Hockey ist der erste Januar, und die Kinder, die früher im Jahr geboren sind haben dadurch einen massiven Vorsprung in ihrer physischen Entwicklung. Allein dieser Faktor hebt alles angeborene Talent auf, und das gilt für jede Art von Sport.
Dies ist nur die erste Parabel in einem Buch, das allen Pädagogen ans Herz gelegt sei. Andere folgen. So wird gezeigt, dass Bill Gates nicht nur eine Begabung zum Entwerfen von Software hatte, sondern außerdem schon als Schuljunge den damals geradezu einzigartigen Zugang zu einem Großrechner, in den die Elterngemeinschaft seiner Schule 1968 investiert hatte. Auch die Beatles wurden nicht als Melodie-Genies geboren, sondern entwickelten ihre Fähigkeiten, als sie in den frühen Sechzigern „eight days a week“ in Hamburger Striplokalen auftraten und also viel mehr Zeit in die Popmusik investierten als andere. Dasselbe lässt sich über Mozart oder Tiger Woods sagen. Natürlich hatten sie Talent, aber sie hatten auch außergewöhnliche familiäre Umstände die ihnen schon in jungen Jahren einen Wettbewerbsvorteil verschafften. Vor allem aber investierten sie alle sehr viel Zeit.
10.000 Stunden konzentrierter Arbeit
Um irgendein Handwerk wirklich zu beherrschen, benötige man 10.000 Stunden konzentrierter Arbeit, führt Gladwell anhand verschiedener Recherchen aus. Wer damit frühzeitig beginnen kann, der ist ein Überflieger. Gladwells Gespür für den Zeitgeist hat ihn auch bei diesem Buch nicht verlassen. Er bringt es zu einer Zeit heraus, da gerade ein Präsident gewählt wurde, der all seine Thesen verkörpert: Obama versäumt nie zu erwähnen, mit welchem Netzwerk an Unterstützung er gesegnet war, welche Möglichkeiten er dadurch erhielt und wie glücklich er sie nutzte.
Gladwell sieht Obama als nahezu unausweichliches Produkt eines Schulsystems, das eine Zeit lang Afroamerikaner, die Einsatz und Talent zeigten, bevorzugte. „An Charakter glaube ich nicht“, erklärt er. „Ich glaube, dass sich Milieu und Situation direkt auf das Verhalten der Menschen auswirken.“ Gladwells ältester Freund Bruce Headlam, der heute für die New York Times arbeitet, erzählt mir, seiner Ansicht nach habe sich Gladwells schriftstellerischer Tonfall verändert. „Aus diesem Buch höre ich seinen Vater heraus“, erklärt er. „Sein Vater ist ein toller Typ, er konnte sehr gut komplexe Dinge erklären. Er hatte diesen englischen Sinn für Ordnung. Und dies ist wohl Malcoms englischstes Buch.“
„Meine verworrende Herkunft“, sagt Gladwell, „erlaubt mir mal hierhin, mal dorthin zu schlüpfen, und ich denke, das ist psychologisch äußerst hilfreich.“
Diese Freiheit – und dieser Einsatz – scheinen sich auch auf sein Gefühlsleben auszuwirken. Er hat immer allein gelebt, augenscheinlich aus eigenem Entschluss.
Headlam erzählt: „Manchmal erzähle ich Malcolm, wie das ist, wenn man eine Beziehung mit einer Frau hat. Dann schlägt er die Hände vors Gesicht und sagt ‚Oh mein Gott!’ Er ist sehr sozial und kümmert sich um seine Freunde. Er trifft auch oft Frauen und liebt die Kinder anderer Leute. Aber er hat immer zu tun. Dazusitzen, fünf Stunden zu schreiben und sich dann eine Tasse Tee zu machen, das macht ihn zum glücklichsten Menschen der Welt.“
Und es macht ihn selbst zum Überflieger, vermute ich.
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