Aus der Distanz betrachtet ähnelt das Brexit-Großbritannien einer Fliege, die sich immer wieder gegen eine Glasscheibe wirft, während daneben ein Fenster offen steht. Fast ein Jahr ist vergangen, seit Theresa May einen Weg aus der EU verhandelt hat, doch war dieses Fenster offenbar nicht gut genug für all jene Brexit-Anhänger, die lieber das Glas zertrümmern wollen. Und weiter ging es: summ, rumms, summ, rumms; ein Land in irrer Aufregung, das nicht von der Stelle kommt.
Dann übernahm Boris Johnson und versprach den Austritt zum 31. Oktober „auf Biegen oder Brechen“. Summ, summ, rumms. Erschöpfung, Frustration und fehlende Vorstellungskraft haben dazu geführt, dass sich nun das Parlament aufgelöst hat und am 12. Dezember neu gewählt wird. Nur sind Vorweihnachtstage keine klassische Wahlkampfzeit, zudem hat der Brexit schon jetzt tradierte Parteiloyalitäten aufgehoben. Es gibt keinen klaren Ausschlag des Pendels hin zu den Tories oder zu Labour. Fest steht allerdings, dass Johnson ein exzellenter Wahlkämpfer ist und eine Kampagne plant, die schon seit Monaten in einer Schublade auf ihren Einsatz wartet. Es wird ein Präsidentenwahlen ähnliches Rennen gegen Jeremy Corbyn geben. Johnsons Strategen sind überzeugt, dass Labours Chancen mit jedem anderen Spitzenkandidaten besser wären. Johnson setzt überdies auf seinen Vorteil, bereits über einen Brexit-Deal zu verfügen – also einen sicheren Weg aus dem Sumpf, während alle anderen Bewerber nur fortgesetzte Unklarheit zu bieten haben.
Freilich sehen viele Tories diesen Plan mit Besorgnis. Johnsons Versprechen gelten nicht unbedingt als harte Währung. Auch seine Integrität ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Und die angeblich so große Anziehungskraft auf Wähler wurde nie in Labour-Hochburgen getestet, in denen theoretisch Stimmen von Brexit-Befürwortern zu holen wären. In solchen Wahlkreisen wirkt eine kulturelle Immunisierung gegen die Tories, die auf Vor-Brexit-Zeiten zurückgeht. In Schottland verschlechtert Johnsons prahlerische Eton-Schüler-Masche das ohnehin schwache Tory-Image
Wallung statt Planung
Corbyns Weg ist noch steiniger, weswegen viele Unterhausabgeordnete von Labour gegen die Wahl waren. Manche fürchten sich davor, in einem Wahlkampf von sich geben zu müssen, Jeremy Corbyn solle Premier werden – egal, für wie realistisch sie das halten. Für den Labour-Chef selbst ist ein Wahlkampf reizvoll. Das ist die Art von Politik, die ihm liegt: In einer Stadthalle stehen und die Anhänger mit lautstarken Warnungen vor den Tories in Wallung bringen, statt mit einem verworrenen Brexit-Plan im Parlament eingepfercht zu sein. Labour-Pessimisten glauben, dass ihr Parteichef lieber den Kampf sucht und verliert – nach dem Motto: Als Märtyrer aus einem Wahlkampf hervorzugehen, das ist eine bessere Option –, als im Unterhaus zu ersticken. Corbyns Anhänger sind überzeugt, dass seine Kandidatur sich erst in der fiebrigen Atmosphäre eines Wahlkampfs entfaltet.
Johnsons bzw. Corbyns Großbritannien sind zwei völlig verschiedene Länder auf zwei deutlich auseinanderdriftenden Pfaden. Sie kommen mit Millionen von Gegnern daher, die sich eher als Dissidenten unter einem feindlichen ideologischen Regime fühlen denn als Bürger unter einer Regierung, die sie nicht gewählt haben.
Natürlich ist nach dem 12. Dezember ein Parlament denkbar, in dem die Kräfte genauso ausgewogen sind wie bis zuletzt. Vor allem wird der anstehende Urnengang nicht die ökonomischen und politischen Ängste lösen, die ein EU-Austritt verursacht. Und niemand glaubt, dass eine Wahl die, die den Brexit um jeden Preis fordern, und die, die ihn zurücknehmen wollen, mental versöhnt. Die britische Politik der letzten Dekade ist nicht dazu angetan, den Geist der Toleranz zu fördern. Und selbst wenn das Wahlgesetz Hörfunk und Fernsehen zur Ausgewogenheit vergattert, wird die unregulierte digitale Arena für eine grausame Gladiatorenschlacht offenstehen. Die Motoren der Radikalisierung und Polarisierung, die übertriebene Parteipolitik on- und offline antreiben, drehen sowieso schon durch. Ein bedrohlicheres Geräusch als das „Summ, summ, rumms“ eines endlosen Brexit-Aufschubs.
Der offene Ausgang einer Wahl sollte in einer reifen Demokratie kein Grund für Beunruhigung sein. Dennoch ist es schwierig, die Befürchtung abzuschütteln, dass die britische Politik nach diesem Votum noch wütender und noch gespaltener sein wird als jetzt. Gewiss erwartet niemand ein Ergebnis, das alle zufriedenstellt. Es muss Gewinner und Verlierer geben. Demokratie verlangt keinen Konsens, aber sie erfordert, dass Verlierer die Autorität der Gewinner anerkennen und die Gewinner die legitimen Interessen der Verlierer berücksichtigen. Diese Prämissen sind durch die zurückliegenden Jahre ausgehöhlt worden.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.