Russisch-Roulette mit dem Atomkrieg

Kuba-Krise Präsident Kennedy wird oft für sein Management der Krise gelobt. In Wahrheit ging er ein verblüffendes Risiko ein, um die militärische Hegemonie der USA durchzusetzen
John F. Kennedy am 22. Oktober 1962 warnt die Sowjetunion in einer Fernsehansprache vor Sanktionen
John F. Kennedy am 22. Oktober 1962 warnt die Sowjetunion in einer Fernsehansprache vor Sanktionen

Foto: Getty Images

Als vor 50 Jahren bekannt wurde, dass die Sowjetunion mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen auf Kuba stationiert hatte, stand die Welt eine Woche lang still, bis die Krise offiziell überwunden wurde. Was die Öffentlichkeit nicht wußte: Sie war auch wirklich nur öffentlich überwunden.

Das Bild von der stillstehenden oder stillgestellten Welt geht auf den ehemaligen Historiker in der John F. Kennedy Presidential Library, Sheldon Stern, zurück, der die autorisierten Mitschnitte der Sitzungen des Exekutivkomitees des Nationalen Sicherheitsrates (Executive Committee of the National Security Council, im folgenden als ExComm-Meetings bezeichnet) veröffentlichte, in denen Kennedy sich in kleinem Kreis beriet.

Dass der Präsident die Besprechungen heimlich aufnahm, könnte erklären, dass er im Vergleich zu anderen Diskussionsteilnehmern, die nicht wussten, dass ihre Worte der Nachwelt erhalten bleiben würden, die ganze Zeit über eine recht moderate Haltung einnimmt. Stern hat in diesem Jahr mit The Cuban Missile Crisis in American Memory: Myths Versus Reality (nach The Week the World Stood Still: Inside the Secret Cuban Missile Crisis) ein weiteres gut lesbares und genau recherchiertes Buch über diese in den Neunzigern freigegebenen Aufnahmen vorgelegt, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. „Niemals zuvor oder danach“, schließt Stern, „sei das Überleben der menschlichen Zivilisation so sehr in Gefahr gewesen wie in diesen Wochen“.

Der "gefährlichste Augenblick"

Ein Atomkrieg stand unmittelbar bevor – ein Krieg, der die „die nördliche Hemisphäre zerstören könnte“, wie Präsident Eisenhower gewarnt hatte. Kennedy selbst schätzte das Risiko eines Krieges auf 50 Prozent. In Washington wurde „der geheime Doomsday Plan in Kraft gesetzt, der das Überleben der Regierung gewährleisten sollte“, wie der Journalist Michael Dobbs in seinem unlängst erschienenen, gut recherchierten Bestseller One Minute to Midnight schreibt – auch wenn er nicht erklärt, was für einen Sinn das angesichts eines drohenden Atomkriegs gehabt hätte.

Kennedys enger Vertrauter, der Historiker Arthur Schlesinger, bezeichnete die Ereignisse als „den gefährlichsten Augenblick in der Geschichte der Menschheit“ und Verteidigungsminister Robert McNamara dachte laut darüber nach, ob er „noch einmal einen Samstagabend erleben“ werde. Wenn er später sagte, „wir haben Schwein gehabt“, trifft das den Sachverhalt wohl kaum. Wenn man die Ereignisse näher betrachtet, erhalten diese Urteile einen makaberer Beigeschmack, der sich bis in die Gegenwart hält.

Bei der Frage nach dem gefährlichsten Augenblick kommen mehrere Kandidaten in Frage. Einer von ihnen ist der 27. Oktober, als amerikanische Zerstörer, die die Blockade um Kuba durchsetzten, Übungs-Unterwasserbomben auf sowjetische U-Boote abwarfen, um sie zum Auftauchen zu zwingen. Sowjetischen Berichten zufolge, die im National Security Archive dokumentiert sind, wurden die Kommandeure der U-Boote so sehr durchgeschüttelt, dass sie anfingen, über den Einsatz von atomar bestückten Torpedos zu diskutieren, deren Sprengkraft von 15 Kilotonnen TNT an die Bombe heranreichten, die im August 1945 Hiroshima verwüstete.

Haarsträubende Berichte

Einmal wurde der Befehl, einen mit Atomsprengköpfen bestückten Torpedo kampfbereit zu machen, in letzter Minute durch das Veto des zweiten Offiziers an Bord, Wasili Archipow verhindert. Er dürfte die Welt damit vor einer atomaren Katastrophe bewahrt haben. Es besteht wenig Zweifel darüber, wie die amerikanische Reaktion ausgesehen hätte, wenn der Torpedo abgefeuert worden wäre oder wie die Russen darauf reagiert hätten, dass ihr Land in Flammen aufgeht. Kennedy hatte bereits die höchste Alarmstufe „short of launch (Defcon 2)“ ausgegeben, die „Nato-Flugzeuge mit türkischen Piloten [oder anderen]“ autorisierte, „zu starten, nach Moskau zu fliegen und eine Bombe abzuwerfen“, wie der Geostratege von der Harvard University, Graham Allison, im Magazin Foreign Affairs schreibt.

Ein weiterer Kandidat ist der Vortag, der 26. Oktober. Ihn nennt der Pilot einer B-52 als „den gefährlichsten Augenblick“: Major Don Clawson, der am Steuer eines dieser Nato-Flugzeuge saß, liefert einen haarsträubenden Bericht über die Details der während der Krise durchgeführten Chrome Dome (CD) Missions, bei denen sich mit Atomwaffen bestückte B-52s in der Luft in Alarmbereitschaft befanden.

Der 26. Oktober war Clawson zufolge der Tag, „an dem die Nation einem Atomkrieg“ am nächsten war, wie er in seinen „respektlosen Anekdoten eines Air Force Piloten“ Is That Something the Crew Should Know? schreibt. An diesem Tag befand Clawson selbst sich in einer guten Ausgangspostion, um eine wahrscheinlich endgültige Katastrophe herbeizuführen. Er kommt zu dem Schluss: „Wir hatten verdammtes Glück, dass wir nicht die Welt nicht in die Luft gejagt haben – und das ist nicht das Verdienst der politischen oder militärischen Führung dieses Landes.“

Keine Sicherungssysteme

Die Fehler, Verwechslungen, Beinahe-Unfälle und Unverständnisse auf Seiten der Führung, von denen Clawson berichtet, sind zwar schon erstaunlich genug, werden in dieser Hinsicht von den operativen Kommando- und Kontrollregeln – oder besser gesagt, deren Abwesenheit – noch übertroffen.

Clawson, der an 15 24-stündigen DC-Missionen (so viele, wie erlaubt waren) teilnahm, schreibt in seinem Buch, die offiziellen Befehlshaber hätten keine Möglichkeit gehabt, Einzelne oder die ganze Crew daran zu hindern, ihre Waffen auch ohne oder gegen ihren Befehl auf eigene Faust abzufeuern. War die Crew erst einmal in der Luft, wäre es ohne weiteres Zutun vom Boden aus möglich gewesen, alle Raketen scharf zu stellen und abzuwerfen. Keines der Systeme habe über ein Sicherheitssystem verfügt, das dies hätte verhindern können.

Clawson zufolge wurde die zivile National Command Authority vom Strategic Air Command über vieles im Unklaren gelassen. Die ExComm-Entscheider, die über das Schicksal der Menschheit berieten, wussten also nicht einmal alles, was sie hätten wissen können und müssen. Was General Burchinal, der den Planungsstab im Hauptquartier der Luftwaffe leitete, erzählt, ist ebenso haarsträubend und offenbart eine noch größere Verachtung für die zivilen Befehlshaber. Ihm zufolge habe es nie Zweifel an einer Kapitulation der Sowjets gegeben. Die CD-Operationen sollten den Russen eindeutig vor Augen führen, dass sie in der militärischen Konfrontation kaum mithalten und schnell vernichtet werden könnten.

Brief von Chruschtschow

Stern zieht aus den ExComm-Aufzeichnungen den Schluss, dass Präsident Kennedy am 26. Oktober dazu neigte, die in Kuba stationierten Raketen militärisch zu beseitigen. Darauf sollte eine Invasion folgen, wie sie in den Plänen des Pentagon vorgesehen war. Es war offenkundig, dass diese Strategie zu einem Endkrieg hätte führen können – eine Annahme, die sich sehr viel später bestätigte, als bekannt wurde, dass taktische Atomwaffen im Spiel und die Kontingente der russischen Streitkräfte viel umfangreicher waren, als die US-Geheimdienste berichtet hatten.

Als die ExComm-Sitzungen sich gegen sechs Uhr abends dem Ende entgegen neigten, traf ein direkt an Präsident Kennedy gerichteter Brief des Premierministers Chruschtschow ein. Dessen „Botschaft schien eindeutig“, schreibt Stern: „Die Raketen würden abgezogen, wenn die USA versprächen, nicht in Kuba einzufallen.“

Am nächsten Morgen um zehn Uhr schnitt der Präsident wieder heimlich mit und verlas laut den Bericht einer Nachrichtenagentur, der ihm gerade übergeben worden war: „Premier Chruschtschow teilte Präsident Kennedy heute mit, dass er die Offensivwaffen aus Kuba abziehen werde, wenn die Vereinigten Staaten ihre Raketen aus der Türkei abziehen.“

Bei diesen handelte es sich um Jupiter-Raketen mit Nuklearsprengköpfen. Die Authentizität dieses Berichtes wurde schnell bestätigt. Auch wenn das Komitee reagierte, als sei völlig unerwartet aus heiterem Himmel ein Blitz eingeschlagen, war man doch vorbereitet gewesen: „Wir wussten seit einer Woche, dass das kommen könnte“, informierte Kennedy die anderen Mitglieder des Ausschusses. Ihm war klar, dass es schwierig sein würde, eine öffentlichen Einwilligung zu verweigern. Die betreffenden Raketen waren obsolet, sollten ohnehin abgezogen und durch viel tödlichere und quasi unangreifbare, auf U-Booten stationierte Polaris-Raketen ersetzt werden.

Ernsthaftes Dilemma

Kennedy erkannte, dass seine „Position unhaltbar wäre, wenn [Chruschtschow] dies anbieten würde.“ Denn die Raketen in der Türkei waren nutzlos und sollten sowieso abgezogen werden. Ein solches Angebot „würde jedem Angehörigen der Vereinten Nationen oder überhaupt jedem vernünftigen Menschen sehr fair vorkommen.“

Die Planer standen also vor einem ernsthaften Dilemma. Sie hielten zwei Angebote Chruschtschows in den Händen, die Gefahr eines katastrophalen Kriegs abzuwenden, von denen ein jedes einem „rationalen Menschen“ als fairer Handel erscheinen würde. Wie sollten sie also reagieren?

Eine Möglichkeit wäre gewesen, einen Seufzer der Erleichterung darüber auszustoßen, dass die Zivilisation überleben würde, bereitwillig auf beide Angebote einzugehen, zu verkünden, dass die USA sich an das internationale Recht halten würden, jede Androhung einer Invasion Kubas zurückzunehmen, mit dem Abzug der obsoleten Raketen in der Türkei fortzufahren und wie geplant die nukleare Bedrohung der Sowjetunion in sehr größerem Maßstab auszubauen.

Doch das war undenkbar – aus einem sehr schlichten Grund, den der Berater für Nationale Sicherheit und angeblich hellste Stern am Firmament des Kennedy'schen Camelot, McGeorge Bundy, wie folgt formulierte: Die Welt müsse verstehen, so Bundy, dass „die Bedrohung des Friedens gegenwärtig nicht von der Türkei, sondern von Kuba ausgeht“, wo Raketen gegen uns gerichtet sind.

Eine weitaus stärkere, auf einen viel schwächeren und verwundbareren sowjetischen Feind ausgerichtete US-Raketenstreitmacht kann auf keinen Fall als Bedrohung des Friedens gelten, weil wir die Guten sind, was viele Menschen in der westlichen Hemisphäre und über diese hinaus bezeugen konnten – unter zahlreichen anderen etwa die Opfer des terroristischen Krieges, den die USA damals gegen Kuba führten. Oder jene in der arabischen Welt, die Teil jener Hasskampagne wurden, über die Eisenhower so erstaunt war (nicht aber der Nationale Sicherheitsrat der USA, der sie klar zu erklären wusste.)

Internationales Recht?

Darüber hinaus war natürlich die Vorstellung, die USA seien an internationales Recht gebunden, zu lächerlich, um als erwägenswert erachtet zu werden. Der anerkannte linke Kommentator Matthew Yglesias erklärte kürzlich, „eine der wichtigsten Funktionen der internationalen institutionellen Ordnung“ sei es „eben ganz genau, den Einsatz tödlicher Militärgewalt durch westliche Mächte“ – womit die USA gemeint sind – „zu legitimieren“. Deshalb sei es „erstaunlich naiv“, tatsächlich gar ziemlich „albern“, zu meinen, die USA sollten sich an internationales Recht oder andere Konditionen halten, die wir den Machtlosen auferlegen.

In einem anschließenden Gespräch betonte der Präsident, wir würden uns „in eine schlechte Position“ bringen, sollten wir uns dafür entscheiden, einen internationalen Flächenbrand zu entfachen, indem wir Angebote ablehnten, die den Überlebenden, wenn es sie interessieren sollte, ziemlich vernünftig vorkommen würden.

Diese „pragmatische“ Haltung stellte schon das Höchstmaß der moralischen Erwägungen dar. Ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates sagte, „willkürliche“ Angriffe, „bei denen Unschuldige getötet“ würden“, „könnten in einigen befreundeten Ländern für schlechte Presse sorgen.“

Derartige Einstellungen herrschten während der gesamten, während der Kubakrise geführten internen Diskussionen vor – so warnte etwa Robert Kennedy, dass „unheimlich viele Menschen getötet würden“, wenn die USA im großen Stil in Kuba einfielen, „und wir deswegen ganz schön was einstecken müssten.“ Und sie überwiegen – mit äußerst seltenen Ausnahmen - auch heute noch, wie sich problemlos belegen lässt.

Sie lesen Teil 1 von Noam Chomskys Essay über die Kuba-Krise. Zu Teil 2 geht es hier entlang. Den dritten und letzten Teil finden Sie hier

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Mit Lust am guten Argument

Übersetzung der gekürzten Fassung: Zilla Hofman/Holger Hutt
Geschrieben von

Noam Chomsky | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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