Russland: Putins Regime könnte stürzen – aber was käme dann?
Kreml Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich in den Ukraine-Krieg verstrickt und zu Hause mit Unruhen zu kämpfen. Es ist Zeit, dass der Westen versucht, einen Rückweg vom Abgrund zu verhandeln
Sie müssen das strategische Versagen Wladimir Putins jetzt ausbaden – Reservisten der russischen Armee
Foto: Stringer/AFP via Getty Images
Putins Verkündung einer Teilmobilmachung ist ein Zeichen für das komplette Versagen der russischen Ukraine-Strategie seit der Invasion im Februar. Dass der russische Präsident so lange mit einer Mobilmachung gewartet hat, hat zum Teil damit zu tun, dass er damit nicht nur dieses Versagen anerkennt, sondern auch die Tatsache, dass die „Spezialmilitäroperation“ in Realität ein ausgewachsener Krieg ist, den Russland zu verlieren scheint. Ein weiterer Grund ist, dass Putin – zu Recht – eine heftige Gegenreaktion der russischen Öffentlichkeit befürchtete. Sein Regime ist jetzt ernsthaft in Gefahr. Eine weitere größere Niederlage wäre wahrscheinlich das Ende seiner Regierung.
Viel gefährlicher als die Mobilmachung selb
#223;ere Niederlage wäre wahrscheinlich das Ende seiner Regierung.Viel gefährlicher als die Mobilmachung selbst aber könnte die Verbindung dieser Ankündigung mit der Entscheidung sein, Referenden im östlichen Donbass, den Russland im Februar als unabhängig anerkannte, und anderen, im Lauf der Invasion von russischen Truppen besetzten Gebieten abzuhalten.Dabei kommt es nicht auf den Ausgang dieser „Abstimmungen“ über den Anschluss an Russland an, der von vornherein fest steht. Entscheidend ist, ob die russische Regierung und das russische Parlament dann diese Gebiete sofort annektieren. Wenn sie das tun, wäre das ein Zeichen dafür, dass Moskau jede Hoffnung auf Frieden aufgegeben hat und bereit ist, auf unbestimmte Zeit zu kämpfen. Weder die Ukraine, noch der Westen könnten eine solche Annektierung akzeptieren. Sie könnte auch nicht Teil eines auszuhandelnden Abkommens sein. Das Beste, was man dann noch für die Ukraine hoffen könnte, wäre eine Reihe instabiler, von Krieg unterbrochener Waffenstillstände, wie sie in Kaschmir seit 75 Jahren der Fall sind.Wladimir Putins Plan ist gescheitertEs wird sich in der kommenden Woche zeigen, ob das wirklich Moskaus Intention war oder ob die Referenden stattdessen ein Schritt sind, um für künftige Verhandlungen Trümpfe in der Hand zu haben. Man darf nicht vergessen, dass die separatistischen Donbass-Republiken ihre Unabhängigkeit von der Ukraine bereits 2014 erklärt hatten. Erst acht Jahre später, am Vorabend des Krieges im Februar dieses Jahres, erkannte Moskau ihre Unabhängigkeit offiziell an. In der Zwischenzeit verhandelte Moskau mit der Ukraine und dem Westen im Rahmen des Minsk II-Abkommens von 2015 gegen Garantien für komplette Autonomie über die Rückkehr dieser Gebiete in die Ukraine.Auch dieses Mal könnten die Referenden kein Auftakt für eine sofortige Annektierung sein, sondern eher eine Drohung einer Annektierung unterstreichen, falls der Westen keinen Kompromiss sucht. Einige Hoffnung, dass das der Fall sein könnte, machte eine Rede Putins in der vergangenen Woche, in der er sich zustimmend auf das Friedensangebot der Ukraine im März bezog, das etwa einen Neutralitätsvertrag und eine Vertagung der territorialen Streitigkeiten auf zukünftige Verhandlungen vorsah. Die Gründe für den Abbruch dieser Friedensverhandlungen sind stark umstritten. In Russlands Version der Ereignisse wurden sie vom Westen blockiert und seitens der Ukraine abgebrochen.Moskaus Gründe für das Streben nach einem Waffenstillstand liegen auf der Hand. Putins ursprünglicher Plan, Kiew einzunehmen und die Ukraine zu einem Klientelstaat zu machen, ist komplett gescheitert. Plan B, nämlich die russischsprachigen Gebiete im Osten und Süden zu erobern, wurde an vielen wichtigen Zielen gestoppt. Russland läuft ernsthaft Gefahr, durch ukrainische Gegenoffensiven zurückgedrängt zu werden. Putins Regime wurde von der Niederlage in Charkiw stark erschüttert. Würde die Ukraine Russland aus der südukrainischen Region um die Hafenstadt Cherson oder großen Teilen des Donbass vertreiben, stünde Putins Überleben an der Macht infrage.Russland hätte die Mittel zur EskalationWenn es nicht zum Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen kommt, hat Russland die Mittel für eine ernste Eskalation der Lage. Es könnte die verbleibenden besetzten Gebiete verteidigen und gleichzeitig die bereits begonnenen Angriffe auf ukrainische Infrastruktur verstärken. Sollte Russland die besetzten Gebiete annektieren, ist sogar möglich, dass Putin atomare Angriffe androht, um das zu verteidigen, was Moskau dann als russisches Staatsgebiet definieren würde. Derweil gibt die Regierung von US-Präsident Joe Biden immer deutlicher zu erkennen, dass sie die Ein-China-Politik der USA ändert. Daher kann Moskau auch darauf hoffen, dass China im Gegenzug seine militärische und finanzielle Hilfe für Russland deutlich erhöht.Unterdessen wird, wie bereits jetzt zu beobachten ist, die Unruhe in der russischen Gesellschaft zunehmen. Die Unzufriedenheit besteht aus einer Mischung aus Opposition gegen den Krieg an sich und Ärger über die inkompetente Kriegsführung durch Putin und sein Gefolge, wobei beide Komponenten in den Köpfen vieler Russen gleichzeitig bestehen.Wenn es so weiter geht, wird ein Sturz Putins zu einer realen Möglichkeit. Ein möglicher Coup müsste dabei nicht unbedingt gewaltsam erfolgen und könnte sogar nicht öffentlich gemacht werden. Stattdessen könnte eine Abordnung etablierter Politiker zu Putin aufsuchen und nahelegen, dass zur Erhaltung des Regimes sein Rücktritt notwendig sei (und der einiger anderer führender Köpfe, die mit der militärischen Niederlage verknüpft werden, wie Verteidigungsminister Sergei Shoigu). Im Gegenzug könnten sie ihm Immunität gegen Strafverfolgung und Sicherheit seines Eigentums garantieren. Etwas ganz Ähnliches lief ab, als der frühere Staatschef Boris Jelzin 1999 die Macht an Putin übergab.Der Westen muss auf Gesprächsangebote eingehenMitglieder des russischen Establishments, die einen solchen Schritt unternehmen, würden allerdings sehr große Risiken eingehen: für sich selbst, falls der Versuch scheitert, aber auch für das russische Establishment und Russland, wenn ein Führungswechsel zu einer Spaltung der Elite, politischem Chaos und einer radikalen Schwächung des Zentralstaates führen würde.Sie bräuchten daher für ein solches Vorgehen sehr wahrscheinlich eine Art Deckung für die Zeit, in der Putin weg ist; eine gewisse Versicherung, dass der Westen seinem Nachfolger ein Angebot macht, das der neuen Regierung erlauben würde, ein gewisses Maß an russischem Erfolg zu verbuchen. Andernfalls müsste sie einen geschwächten Staat und ein geschwächtes Militär regieren und wäre damit konfrontiert, was die Menschen in Russland als westliche Forderungen bei bedingungsloser Aufgabe verstehen würden. Damit hätte die neue Regierung eine ähnlich katastrophale Bürde zu tragen wie die Regierung in der Weimarer Republik in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Sie wäre auf Dauer als das Regime der Aufgabe und der nationalen Erniedrigung gebrandmarkt.Angesichts dieser Aussicht würde ein Nachfolger Putins sehr wahrscheinlich den Präsidenten persönlich für alles verantwortlich machen, was in der Ukraine schiefgelaufen ist. Gleichzeitig würde er den wachsenden Rufen russischer Hardliner folgen, indem er die komplette nationale Mobilmachung anordnet und den Krieg stark intensiviert. Das könnte den Krieg über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweiten.Wenn wir solche möglichen Entwicklungen vermeiden wollen, hat der Westen jetzt noch Zeit, auf Putins implizite Gesprächsangebote einzugehen; viel Zeit allerdings nicht mehr.
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