In der Region Lwiw ist die Energieversorgung kurz vor dem bevorstehenden Winter gestört

Ukraine Im Raum Lwiw können Kraftwerke nicht von heute auf morgen wiederaufgebaut werden. Bürgermeister Andrij Sadovyi schwört die Bewohner:innen deshalb auf harte Monate ein, in denen Strom und Wärme knapp sein werden
Ausgabe 44/2022
Zerstörte Infrastruktur: Für die Menschen in Lwiw wird es ein harter und kalter Winter werden
Zerstörte Infrastruktur: Für die Menschen in Lwiw wird es ein harter und kalter Winter werden

Foto: Imago/Zuma Wire

Der Bürgermeister versucht erst gar nicht, die Lage zu beschönigen. Da in Lwiw die Straßenbahnen stillstehen, die Beleuchtung der Stadt ausgefallen ist und das Mobilfunknetz nicht funktioniert, gibt es auch wenig Grund dazu. „Wir müssen uns auf harte Zeiten einstellen“, sagt Andrij Sadowyj in einem Gebäude am Rynok-Platz vor lokalen und ausländischen Journalisten. Der Winter sei auf dem Vormarsch und mit ihm „vielleicht die schlimmste Zeit für unser Land“. Sadowyj rät der Stadtbevölkerung, Feuerholz einzulagern, Heizöfen und -geräte zu kaufen. Sollten die russischen Raketenangriffe weitergehen, sei es an der Zeit, auf „altbewährte Methoden zurückzugreifen“. Vier Umspannwerke sind außer Betrieb. Damit sie wieder ans Netz gehen, sind Transformatoren notwendig, die nicht zur Verfügung stehen.

Im westukrainischen Lwiw – es liegt gut 80 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt – hatte man in den vergangenen Monaten manchmal das Gefühl, die Stadt stehe irgendwie außerhalb des Krieges. Direkte Angriffe gab es nur selten. Nach dem anfänglichen Schock über die „Spezialoperation“ der russischen Armee ging es in Bars und Restaurants schnell wieder so lebhaft zu, wie man es von einer alten Universitätsstadt erwartet. Meldeten die Sirenen, dass russische Raketen mit unbekanntem Ziel in der Luft waren, schien man die Gefahr in Lwiw kaum wahrzunehmen. Auf den Frühling folgte ein relativ sorgenfreier Sommer. Doch die russische Reaktion nach dem Anschlag auf die Krim-Brücke am 8. Oktober veränderte alles. In den Tagen danach gingen mit den Schlägen gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine allein 15 Raketen auf Umspannwerke in der Lwiw-Region nieder. Zwar war die Strom- und Wasserversorgung relativ schnell wiederhergestellt, aber dann wurden weiter Dutzende Geschosse aus der Luft und von Schiffen im Schwarzen Meer auf Lwiw und Umgebung abgefeuert. Von zwei Umspannwerken in den Vororten der Stadt blieb nicht viel übrig. „Um ganz ehrlich zu sein, sie sind von Grund auf zerstört“, sagt Maxim Kosytskyj, Chef der regionalen Militäradministration. „Wir bitten die Leute, so viel Energie wie möglich zu sparen. Rund 30 Prozent der Region Lwiw sind derzeit vom Stromnetz abgeschnitten.“

Die Schulen bleiben geschlossen, zugleich wird alles versucht, um die Geschäfte offenzuhalten. „Gestern mussten viele Läden schließen, weil sie keinen Strom hatten“, erzählt Bürgermeister Sadowyj. „Einige sind geöffnet, weil sie Dieselgeneratoren haben und wir verhindern wollen, dass Panik ausbricht.“ Sadowyj versucht, der Situation etwas Positives abzugewinnen. Sie diene immerhin dazu, Lwiw aus einer selbstbezogenen Bequemlichkeit zu rütteln. „Es ist Krieg – wir müssen begreifen, dass der Feind uns schwer schaden will. Die zurückliegenden Wochen haben dazu eine Lektion erteilt und uns ein besseres Gefühl für die Realität gegeben.“ Die Einwohner der Stadt erfuhren, dass eine Zeit bevorsteht, in der es sehr dunkel werden kann, nicht nur weil die Temperaturen sinken.

Kohle und Brennholz

Der 34-jährige Yuri Blahin, der neben seiner Frau Vladislava über den Rynok-Platz läuft und die fünfjährige Tochter auf den Schultern trägt, erzählt, er habe sich einen Dieselgenerator gekauft. Die Angst sei da, dass seine Familie im Winter frieren müsse. Der 26-jährige Artem Levchenko erzählt, er wolle aus der Ukraine ausreisen und zurück nach Polen, wo er vor dem Krieg studiert habe. Doch sei kein Visum zu bekommen. Sorge bereitet auch der Zustand der etwa 6.000 Bunker in der Region. „Ich fordere alle Einwohner dringend auf, sämtliche Unterstände mit Kohleöfen und Brennholz auszustatten“, so Bürgermeister Sadowyj, „damit wir uns vor dem Erfrieren retten. Für die Reparatur des Stromnetzes werden wir stets von Neuem Tage brauchen. In der Zwischenzeit müssen wir überleben. Wir müssen die Waffen des Feindes überleben: die Kälte, die Angst und die Zerstörung.“

Daniel Boffey ist Chefreporter des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Daniel Boffey | The Guardian

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