Sie taumelt durch die Straßen der Stadt, ihre Augen in einem Augenblick unkoordiniert – sie nimmt ein Durcheinander aus grauen, braunen und roten Parallelogrammen wahr, von denen sie weiß, dass sie schrecklich schwer sind, von denen sie aber gleichzeitig das Gefühl hat, sie seien so körperlos wie Löwenzahnsporen –, dann sind ihre Augen wieder so fest auf die Gesichter der Entgegenkommenden gerichtet, dass sie, wenn sie sich auf ein einziges Gesicht konzentriert, das Gefühl hat, sie wäre mit nur etwas mehr Anstrengung in der Lage, alles über die betreffende Person aus dem Gesicht ableiten zu können: Alter, Interessen, sexuelle Vorgeschichte, politische Haltung, die Namen von Verwandten und Freunden. Für die Dauer von Millisekunden ist sie von der Einzigartigkeit einer Person wie gelähmt, bevor diese wieder von der Menge erfasst wird. Auf der Straße neben ihr fließt laut der Verkehr. Doch sie hört keinen mechanischen Lärm, die Parallelogramme aus Eisen überlappen, vermischen sich und fügen sich begleitet von elektronischem Piepsen, Rauschen und Trommeln zu einer Montage zusammen. Sie kann den ganzen Verkehr, Menschen wie Fahrzeuge, zu diesem Soundtrack synchronisieren, ihre wild blickenden Augen ordnen das Chaos, so dass alles sich ihrem Beat unterwirft. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist: Sie könnte keine einzige Straße benennen und kein einziges Gebäude identifizieren.
Trotzdem bewegt sie sich in einer perfekten Flugbahn durch den urbanen Raum: Sie blickt in das leuchtende, vielschichtige Juwel in ihrer Hand, auf dem ihre Finger weitere Parallelogramme entstehen lassen. Das Juwel sagt ihr, wohin sie zu gehen hat, so dass sie wiederum ihre schwankenden Beine nach rechts, links oder geradeaus lenken kann, bis sie schließlich auf ein Gesicht trifft, das sie erkennt – aber wird sie das wirklich? Unwillkürlich schießen ihr dessen Alter, sexuelle Vergangenheit, politische Haltung, die Namen der Verwandten und Freunde durch den Kopf. Und wiederum Millisekunden bevor sie sich wirklich treffen, ist sie gelähmt von dem schrecklichen Gefühl, wie stereotyp seine Persönlichkeit doch ist – dann erbarmt sich die Masse und spuckt ihn aus, direkt in ihre Arme. „Sorry, bin zu spät“, bringt sie keuchend hervor. Ich musste eine Ewigkeit zu Fuß gehen von der U-Bahn hierher.“ Tatsächlich ist sie exakt 723 Meter gegangen.
Dieser literarisch leicht verdichtete Bericht wirkt einerseits recht normal, weist aber, auf diese Weise dargestellt, ohne Zweifel Analogien zu einem klinisch definierten psychotischen Zustand auf. Wie jemand, der an einer Psychose leidet, weicht die Realitätswahrnehmung unserer jungen Frau radikal von der sie umgebenden Wirklichkeit ab: Sie ist von tatsächlichen Gebäuden umgeben, die Namen tragen; die Menschen, an denen sie vorübergeht, sind weder Klone, noch sind sie ihr persönlich bekannt, sondern eine Menge Fremder; weder diese Leute noch deren Fahrzeuge bewegen sich synchron zur Musik, die sie hört. Ihr Sinn für Entfernungen ist gestört, und sie kann sich nur mithilfe von Systemen in ihrer Umwelt zurechtfinden, die außerhalb ihres Bewusstseins liegen und ihr bei all ihrer technischen Leistungsfähigkeit so unverständlich bleiben wie die magischen Rituale eines Schamanen. So lange sie nur ihren Freund findet, wäre es unserer jungen Frau wohl gleichgültig, ob sie zu diesem Zweck einen Fetisch zu Rat ziehen oder eine Handvoll Knochen auf den Bürgersteig werfen und ihre Schritte nach deren Fallbild ausrichten muss.
Urbane Entfremdung
Die Beobachtung der Entfremdung in einer industrialisierten – und jetzt post-industriell organisierten Umwelt ist natürlich nichts Neues. In den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts schrieb Friedrich Engels, die „brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen“ trete „umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir auch wissen, dass diese Isolierung des Einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt“.
Ähnliche Erfahrungen finden sich etwa bei De Quincey oder Edgar Allan Poe, der in seiner Kurzgeschichte Der Mann in der Menge (1840) das Gefühl der urbanen Entfremdung des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Poes Epigraf für Der Mann in der Menge stammt von La Bruyère: „Das größte Unglück ist es, nicht allein sein zu können.“
Einige werden dem entgegenhalten, dass die Stadt uns von der moralischen und politischen Kontrolle befreie, die in kleinen, abgeschotteten Gemeinschaften herrscht, und die urbane Existenz dadurch Selbstverwirklichung und infolge dessen das psychische Wohlbefinden fördere. Aber die Beispiele von Engels, De Quincey und Poe stammen aus einer Phase der Urbanisierung, in der die Stadt noch immer zu Fuß erschlossen werden konnte. Es ist nicht zu weit hergeholt zu sagen: Das Genie dieser Autoren des frühen 19. Jahrhunderts liegt darin, dass sie die westlichen Ballungsgebiete des frühen 21. Jahrhunderts vorhergesehen haben, in denen nur noch Überwachungskameras die Menge sporadisch und willkürlich überblicken, während die Messung von Entfernungen und Orientierung von der physischen Welt abstrahiert worden ist.
Nachts in San Francisco
Poes namenloser Erzähler kann in einem sozialen Sinn nicht allein sein – er ist unfähig, Einsamkeit zu erfahren, weil er von der modernen, von der Masse bestimmten Urbanität abhängig ist. Die junge Frau aus unserem Beispiel ist im Gegensatz dazu schon aus physischen Gründen unfähig, an einem Ort allein zu sein: Sie weiß nicht, wo sie ist und ist auch körperlich nicht in der Lage, einen nennenswerten Teil der Stadt mithilfe ihres eigenen Bewegungsapparates zu durchmessen. Sie ist daher dazu verurteilt, mit anderen auf engem Gebiet zusammenzuleben – zu einer räumlich organisierten Existenz.
Rebecca Solnit schreibt in Wanderlust über die Bedrohungserfahrungen während ihrer nächtlichen Spaziergänge in San Francisco: „Man riet mir, nachts zu Hause zu bleiben, ausgeleierte Sachen zu tragen, mein Haar zu bedecken, mich wie ein Mann zu geben, in eine wohlhabendere Gegend zu ziehen, mit dem Taxi zu fahren, mir ein Auto zu kaufen, mich immer in Gesellschaft zu bewegen.“ Ihr wird klar, dass „viele Frauen so erfolgreich an die mutmaßlichen Gegebenheiten ihres Wohnortes angepasst wurden, dass sie sich für ein vorsichtigeres und angepassteres Leben entschlossen hatten, ohne überhaupt zu wissen, warum. Sie hatten noch nicht einmal mehr das Bedürfnis, allein spazieren zu gehen.“ Später stellt sie fest, dass männliche Schwarze heute in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wie Frauen aus der Arbeiterklasse vor einem Jahrhundert: als eine kriminelle Kategorie.
Epikur hielt den freien Willen für eine Illusion, die sich einstellt, wenn das Verhalten, das die Umstände von uns erfordern, durch einen günstigen Zufall mit dem zusammenfällt, was wir selbst wollen. Ich bin der Überzeugung, dass damit das psychotische räumliche Bewusstsein der großen Mehrheit der Städtebewohner, die grundlos restriktive Verhaltensweisen internalisiert haben, aufs Beste beschrieben ist. Ohne Fortbewegungsmittel wie Auto, Bus oder Bahn und ohne technische Hilfe, fehlt es der Mehrheit der Städtebewohner heute an Orientierung und an der Fähigkeit, sich aus eigener Kraft in der Stadt zu bewegen. Sie können noch nicht einmal das Bedürfnis dazu formulieren. Für all ihre Wege zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Freizeitgestaltung und Sozialisation nutzen sie die urbane Infrastruktur. Zu Fuß bewegen sie sich unvorbereitet nur noch innerhalb dieser Kontexte, für die das entsetzlichste Beispiel das Einkaufszentrum darstellt. Dabei haben noch vor wenig mehr als einem Jahrhundert 90 Prozent aller Londoner Einwohner Entfernungen unter sechs Meilen zu Fuß zurückgelegt. Häufig waren das Wege von und zur Arbeit, aber selbst diese stehen für die Aneignung der Umwelt und schärfen den Orientierungssinn.
Rote Liste 2050
Jahr um Jahr nimmt die Zahl der zu Fuß unternommenen Wege ab. Gegenwärtige Prognosen gehen davon aus, dass das Gehen als Mittel der Fortbewegung um 2050 sogar vollständig ausgestorben sein wird. Nicht mehr länger dem Maß des Menschen oder dessen Überblick unterworfen, hat die Stadt bereits verzerrte Züge angenommen: ausgiebig verlängerte Verkehrsstraßen, die nur noch von Sackgassen gesäumt werden und eine Architektur, die von Rem Koolhaas als „junkspace“ bezeichnet wurde. Greifbar wird die Degradierung des Menschen auch in den Vorstädten, die zu einer Ansammlung von Orten geworden sind, die kein Gefühl für den Raum mehr vermitteln.
Erinnern Sie sich an Borges’ berühmte Karte des Reichs, die ebenso groß war wie das Reich selbst? „In den Wüsten des Westens überdauern zerstückelte Ruinen der Karte, behaust von Tieren und von Bettlern; im ganzen Land gibt es keine anderen Überreste der geografischen Lehrwissenschaften.“ Borges’ Tiere und Bettler sind diejenigen, die sich immer noch um die Disziplinen der physischen Geografie bemühen. Sie verstehen, dass der Gang durch die Stadt deren Aneignung bedeutet. Der zeitgenössische Flaneur ist seiner Natur und Neigung nach eine demokratisierende Kraft, die für gleichberechtigten Zugang, Bewegungsfreiheit und die Aufhebung ihrer Kontrolle durch Staat und Privatunternehmen eintritt.
Der Text ist eine redigierte Fassung von Will Selfs Auftaktvorlesung als Professor für Contemporary Thought an der Londoner Brunel University.
Will Self, geb. 1961 in London, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, Kritiker, Zeichner und Journalist. Im Jahr 2011 erschien Die Kippe im Berlin Verlag
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