Die jüngste Parlamentswahl hat gezeigt, dass Afghanistan eine Gesellschaft im Übergang ist, die sowohl Merkmale eines echten demokratischen Fortschrittes aufweist als auch das genaue Gegenteil: anhaltende soziopolitische Stagnation. Fortschritt und Rückschlag haben in diesem Land schon immer nebeneinander existiert, und so steht das Votum eher für Kontinuität denn Veränderungen.
Da ein Großteil der Wählerschaft des Lesens und Schreibens kaum mächtig ist, war der Wahlkampf – wie alle vorherigen – eine höchst visuelle Angelegenheit. Von den Plakatwänden hoch über den Straßen starrten die Gesichter der zahlreichen Kandidaten auf das Volk herab. Unter den vielen Versprechen für eine bessere Zukunft fand sich auch der Slogan „Yes We Can“, der im staubigen Kabul seltsam deplatziert, ja geradezu ironisch wirkte.
Wie aber funktionieren Wahlen, wenn die meisten Wahlberechtigten zwar äußerst politisiert, aber nicht dazu in der Lage sind, die Namen ihrer Kandidaten zu entziffern? Ich habe mir die Wahlzettel genau angesehen, um mir ein Bild davon zu machen, womit die Wähler es bei der Stimmabgabe zu tun hatten.
Beängstigende Aufgabe
Aus dem Wahlzettel geht hervor, dass die überwältigende Mehrheit der Kandidaten unabhängig – sprich: ohne Parteizugehörigkeit – war. In einer konformistischen Gesellschaft wie der afghanischen, überrascht so viel Individualismus. Zyniker würden argumentieren, dass unabhängige Kandidaten leichter zu bestechen sind, und dass sie deshalb zögern, sich mit einer größeren Partei in Verbindung zu bringen. Wahr ist aber auch, dass die Parteien in erster Linie für diverse Kriegsverbrechen stehen, und auch deshalb schmälert es die Erfolgsaussichten der Kandidaten, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden.
Angesichts der bloßen Menge der Kandidaten müssen viele Wähler es als beängstigende Aufgabe empfunden haben, eine Entscheidung zu treffen. Da es nur wenige Hinweise auf die Ausrichtung der Kandidaten gab, blieb den Wählern nichts anderes übrig, als sich an visuellen Anhaltspunkten und möglichen Ehrentiteln in den Namen der Kandidaten zu orientieren. Wer überhaupt nicht lesen und schreiben kann, musste sich auf Fotos und Symbole verlassen – doch mit welcher Form von Politik sollen sich die Wähler identifizieren, wenn Bilder von Schaufeln, Eimern, Briefkuverts und Flugzeugen abgebildet sind? Demokratie und Analphabetismus scheinen nicht so einfach zusammenpassen zu wollen.
Auch die Fotos der Kandidaten waren kaum hilfreicher. Abheben konnte sich eigentlich nur, wer gut aussah, einen besonders ausgefallenen Bart oder eine interessante Kopfbedeckung trug. Ein paar stachen aus der Menge heraus, weil sie lächelten. Davon abgesehen stand eine lange Liste durchschnittlicher, anonym aussehender Gesichter zur Wahl. Allein die Länge der Listen muss verwirrend gewesen sein, was vielleicht zum Teil erklären mag, weshalb einige Wahlbeamte sich angeblich dazu hinreißen ließen, einzuschreiten und die Wähler zu manipulieren.
Abgesehen von den verwirrenden Listen voller quasi identisch wirkender Bewerber zeichneten sich bei den Wahlen sowohl positive als auch negative Trends ab. Als positiv kann die Kandidatur von Frauen und Angehörigen religiöser Minderheiten – darunter Hindus und Sikhs – gewertet werden. Diese ermutigende Entwicklung zeugt in vielen Fällen eher vom Mut einzelner Kandidaten, als dass sie Spiegel einer offeneren Gesellschaft wäre.
Wohlhabende Afghanen
Um es mit den Worten Partapal Singhs, eines Kandidaten aus der Sikh-Gemeinde zu sagen: Obwohl sie seit Jahren in der Stadt leben, werden Sikh in Kabul immer noch wie Gäste behandelt. Singh hat die Erfahrung gemacht, dass die wenigsten Einwohner eine Ahnung davon haben, dass Kabul früher von großer religiöser Vielfalt geprägt war. Wie bei den meisten Kandidaten wurden auch Singhs Plakate zerrissen und zusätzlich mit bedrohlichen Botschaften versehen: „Du bist ein Ungläubiger. Wie kannst du es wagen zu kandidieren?“
Während sich internationale Medien auf die Gewaltandrohungen der Taliban konzentrierten, wurden die internen Spannungen, die mit Taliban nichts zu tun hatten, vom Ausland so gut wie ignoriert – so auch die auf ethnischen Vorbehalten beruhenden Konflikte mit der Hazara-Gemeinde: Wie viele andere Gruppen, die in Afghanistan traditionell an den Rand gedrängt werden, haben auch die Hazara durch Exil und Dschihad ein ausgeprägtes Gefühl, historisch ungerecht behandelt worden zu sein. Daraus resultiert ein Verlangen nach Gleichberechtigung. Vor diesem Hintergrund hätten die Wahlvorkehrungen in den von Hazara bewohnten Orten sehr sorgfältig getroffen werden müssen, doch einigen Berichten zufolge schlossen in einigen Vierteln und Bezirken die Wahlbüros entweder zu früh oder öffneten gar nicht. Einige Wähler beschwerten sich, es habe an Wahlzetteln gefehlt.
Die Ursache dieser Fehler bleibt unklar, doch in den Augen vieler Hazara handelt es sich um einen Versuch, ihre Gemeinschaft von den Machtstrukturen des Landes fernzuhalten. Die Tatsache, dass andererseits eine große Zahl von Paschtunen wegen der Drohungen der Taliban nicht zur Wahlurne ging, konnte die Hazara nicht vom Gegenteil überzeugen. Interessanterweise wurden ganz ähnliche Vorwürfe der bewussten Manipulation der Demokratie auch gegen die Hazara selbst erhoben, besonders in Herat. Da es keine reguläre Untersuchung der Vorfälle gab, bleiben solche ethnischen Konflikte in der Regel ungelöst. So kann die Abneigung sich in Hass verwandeln, was der Demokratie zusätzlich schadet.
Laut erster Berichte waren die eifrigsten Wähler diejenigen, die traditionell ausgeschlossen waren sowie ethnische und religiöse Minderheiten, zudem Frauen in den ruhigeren urbanen Ballungsräumen im Norden und Westen. Doch auch in diesen Regionen lässt das Wahlverhalten auf dem Land auf Sammelstimmen und teils sogar auf Betrug schließen.
Beobachter haben darüber hinaus eine auffallende Präsenz einer neuen Schicht wohlhabender Afghanen bemerkt, die ihren Lebensstandard dem Wiederaufbau und diversen Verträgen mit der US-Armee verdanken. Auch Angehörige dieser neuen Schicht wurden dabei beobachtet, wie sie versuchten, Stimmen zu kaufen – entweder indem sie Handlanger dafür bezahlten, dass sie mehrere Stimmzettel abgaben, oder indem sie Deals mit den Gemeindevorständen suchten.
Welche Ironie, dass ausgerechnet jene Schicht, die von der Mission der USA am meisten profitiert, die Demokratie durch Korruption untergräbt und dadurch den Ruf der Amerikaner in Afghanistan beschädigt. Andererseits haben die Eliten in Afghanistan historisch schon immer ihren eigenen Niedergang verursacht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.