In dem Kleinbus, der Fahrgäste zwischen Gaziantep und der kleinen, vornehmlich kurdisch bevölkerten Grenzstadt Suruç hin- und her fährt, drehen sich alle Gespräche um ein einziges Thema. „Suruç ist voll“, sagt der 51-jährige Ersatzteilhändler Izzettin Abdi Hacirashad. „In den Parks, im Busbahnhof, auf den Straßen, überall Menschen.“
Seit einer Woche sind schätzungsweise 130.000 Flüchtlinge vor dem Ansturm der IS-Milizen geflohen, weil die selbsternannten Gotteskrieger mit einer Offensive tief in syrisch-kurdisches Territorium vordringen konnten und den mörderischen Konflikt damit noch näher an die türkische Grenze trugen.
Der türkische Vizepremier Numan Kurtulmuş nannte die Situation zu Wochenbeginn eine „von Menschen gemachte Katastrophe”. Man wisse nicht, „wie viele noch zur Flucht gezwungen sein werden. Auf der anderen Seite greift eine unkontrollierbare Kraft Zivilisten an. Das Ausmaß dieses Desasters ist größer als das von Naturkatastrophen.“
60 Schuss Munition
Der 54 Jahre alte Mehmet Üstün hält mehrere Tüten mit Brot in den Armen. „Ich nehme das hier mit zurück nach Suruç für all die Flüchtlinge. Die Menschen dort haben nichts mehr. Es ist unsere Pflicht, ihnen zu helfen.“ In seinem Haus gewährt er fünf Flüchtlingsfamilien Unterkunft. Bei einigen von ihnen handelt es sich um entfernte Verwandte. Ein anderer Mann aus Kobani, der anonym bleiben will, weil er Angst um die Sicherheit seiner Verwandten hat, die er in den Händen des IS glaubt, hat seine Familie erst vor drei Tagen nach Gaziantep gebracht. Jetzt will er zurück zur Grenze.
Seit drei Monaten kämpft er in den sogenannten Volksverteidigungseinheiten, dem bewaffneten Arm der Partiya Yekitîya Demokrat (PYD/Partei der Demokratischen Union), dem syrisch-kurdischen Ableger der besser bekannten Kurdischen Arbeiterpartei (PKK). Bislang war er an einem Checkpoint in der Nähe des Euphrat stationiert, der mittlerweile vom IS überrannt wurde. „Jeder von uns hat eine AK und 60 Schuss Munition“, erklärt er. „Das ist alles, womit wir uns gegen das gewaltige Arsenal des IS verteidigen.“
Viele syrische Kurden, die in der vergangenen Woche aus der Enklave von Kobani vertrieben wurden, berichten, der IS kämpfe mit Artillerie und schweren Waffen, die er wahrscheinlich aus irakischen Armee-Beständen habe. „Sie besitzen Militärfahrzeuge und Raketen. Was glauben Sie, kann ein Gewehr vom Typ AK dagegen ausrichten?“, fragt der Mann aus Kobani.
„Wir sind sehr müde“, gibt Händler Hacirashad zu. „Der Krieg dauert nun schon drei Jahre. Von Tag zu Tag wird es schlimmer. Auf seinem Smartphone zeigt er uns ein grausames Bild von einem kurdischen Kämpfer, der von IS-Henkern enthauptet wurde. „Sein Name war Sinur. Er war erst 40. Welcher echte Moslem würde ein solches Verbrechen begehen?“ Die Menschen hätten so große Angst vor dem IS, dass sie aus ihren Dörfern fliehen, noch bevor der erste Schuss abgefeuert werde.
Die Flüchtlinge, denen es gelungen ist, dem IS zu entkommen, berichten ausnahmslos von Gräueltaten, die Dschihadisten an den syrischen Kurden verübt haben: Enthauptungen, Steinigungen und das Abbrennen ganzer Dörfer.
Die 35-jährige Newroza beschreibt, wie IS-Leute einem 15-jähriges Mädchen mit einem Stein den Schädel brachen. „Nur weil sie Kurdin war. Am liebsten würde ich auch in den Kampf ziehen. Hätte ich eine Waffe, würde ich losgehen, um sie zu töten.“
Jetzt schläft Newroza zusammen mit ihren vier Kindern in einem Park in Suruç. „Wir werden nicht zulassen, dass sie uns Kobani nehmen.“ Auf diesem Gelände vor dem städtischen Kulturzentrum, wo viele Familien aus Kobani vorübergehend Zuflucht gefunden haben, kleben Dutzende von Männern und Frauen gebannt an einem Flachbild-Fernseher, der aus einem der darüber liegenden Fenster heruntergelassen wurde. Es läuft Nuce TV, der aus Brüssel sendende Nachfolger des in der Türkei verbotenen Pro-PKK-Kanals Roj TV.
„Was da gerade im Fernsehen gezeigt wird, ist mein Dorf“, sagt der 29-jährige Ahmed aus Kobani und zeigt auf den Bildschirm. „Sehen Sie, die Kämpfer der PYD haben den IS vertrieben! Aber jetzt sind sie weiter nach Westen gezogen und bombardieren schon das nächste Dorf.“
Worst-Case-Szenario
Vor drei Tagen brachte Ahmed seine Familie in der Türkei in Sicherheit. Jetzt will er nach Syrien zurück, um gegen den IS zu kämpfen. „Aber die türkischen Grenzsoldaten lassen mich nicht passieren. Sie sagen, das sei nicht erlaubt. Aber ich will doch nur mein Land und mein Dorf verteidigen. Jetzt muss ich einen anderen Weg finden, um über die Grenze zu kommen.“
Einer seiner Freunde stimmt ihm zu. Es sei schwierig geworden, die türkische Grenze zu passieren. Mittlerweile kontrollierten die Türken viele der illegalen Passagen. „In vielen Gegenden gibt es Landminen. Da kann man nicht einfach irgendwo durchmarschieren. Aber ich will trotzdem nach Kobani zurück, egal, ob ich leben werde oder sterbe“, lässt Ahmed keinen Zweifel.
Am Montag verschärften sich die Spannungen auf der türkischen Seite der Grenze. Es kam zu Zusammenstößen zwischen türkischen Sicherheitskräften und Kurden, die zu ihren Verwandten auf der anderen Seite der Absperrung oder nach Syrien hinüber wollten. Die türkische Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer gegen sie ein.
„Wir sind den ganzen Weg aus Mardin gekommen, um unsere Leute aus Kobani zu unterstützen, sagt ein älterer Mann, dessen Gruppe an einem Kontrollposten der Polizei in der Nähe der Grenze gestrandet ist. „Wir wollen nur unsere Familien finden. Sind müssen hier irgendwo sein, auf der anderen Seite des Zaunes. Sie brauchen Hilfe.“
An einem kleinen Tisch im Park haben türkische Ärzte aus dem nahegelegenen Sanliurfa damit begonnen, alle Kinder gegen Masern und Polio zu impfen. „Bislang haben wir 32 Kinder immunisiert. Aber es reicht für alle.“
Nach Aussage eines Mitarbeiters des türkischen Roten Halbmondes hat sich die Türkei auf ein Worst-Case-Szenario und weitere Flüchtlingsschübe aus Kobani vorbereitet. „Wir werden nahe der Grenze eine Zeltstadt errichten.“
Die zehnjährige Silva Ali zieht eine Grimasse, während sie den ihr zugeteilten Polio-Impfstoff schluckt. Dann streckt sie die Zunge heraus, sagt „nicht gut“ und lacht. Sie ist gerade erst mit ihrer Mutter Asya, ihre Großmutter Fatma und ihren drei Geschwistern in Suruç angekommen. „Der IS hat unser Dorf mit Raketen beschossen“, erzählt ihre Mutter. „Sie haben Militärfahrzeuge und so viele Waffen. Als wir die Bomben hörten, sind wir einfach nur losgerannt. Es war sehr schlimm.“
Jetzt schlafen sie im Park, ohne zu wissen, wo sie als nächstes hinsollen.
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