Schönes neues Lernen

E-Learning Können Computer das Klassenzimmer ersetzen? Weltweit arbeiten Firmen daran – Überwachung der Schüler inklusive
Ausgabe 21/2020
Schönes neues Lernen

Montage: der Freitag, Material: H. Armstrong Roberts/Classic Stock/Getty Images

Für ein Wunderkind fiel Derek Haoyang Li das Lernen nicht immer leicht. Als er drei war, war sein Vater – ein angesehener Pädagoge – so frustriert über seine Fortschritte in Chinesisch, dass er schwor, ihn nie wieder zu unterrichten. Aber als Li mit fünf eingeschult wurde, machte es bei ihm klick. Bereits fünf Jahre später wurde er als einer von zehn Schülern in seiner Heimatprovinz Henan ausgewählt, um Informatik zu lernen. Mit 16 Jahren setzte Li sich gegen 15 Millionen andere Jugendliche durch und gewann bei der chinesischen Mathe-Olympiade den ersten Preis. Unter den vielen Angeboten, die er daraufhin von den Elitehochschulen des Landes erhielt, entschied er sich für einen experimentellen Schnellstudiengang an der Jiao-Tong-Universität in Schanghai. Im Rahmen des Mathematikstudiums könnte er zusätzlich noch Informatik, Physik und Psychologie belegen.

In seinem ersten Jahr an der Uni war Li extrem schüchtern, es fiel ihm schwer, andere Studenten kennenzulernen. Deshalb entwickelte er einen Algorithmus, um in der Mensa Freunde zu finden. Als er damit Erfolg hatte, begann er Algorithmen auch in anderen Bereichen einzusetzen: beim Englischlernen, beim Interpretieren von Träumen, bei der Suche nach einer Freundin. Und während seine Kommilitonen nächtelang lernten, begann Li darüber nachzudenken, wie und wo er seinen algorithmischen Ansatz im Geschäftsleben anwenden könnte. Nach seinem Studienabschluss um die Jahrtausendwende beschloss er: im Bildungsbereich.

China geht voran

Heute ist dem 42-Jährigen nichts mehr von der Unsicherheit aus seiner Studentenzeit anzumerken. Li ist der Gründer von „Squirrel AI“, einem Anbieter von Online-Unterricht, der zum Teil von Menschen, aber überwiegend von intelligenten Maschinen durchgeführt wird. Li ist überzeugt, dass sie das Bildungswesen, wie wir es kennen, grundlegend verändern werden. Überall auf der Welt schießen Unternehmen mit einem ähnlichen Ansatz aus dem Boden. Und nicht nur das: Immer mehr Geld fließt in den Bereich. Im Silicon Valley in den USA arbeiten Unternehmen wie „Knewton“ oder „Alt School“ daran, das Lernen über Tablet-Computer zu personalisieren. In Indien hat sich „Byju’s“, eine Learning-App, die sechs Milliarden Dollar wert sein soll, die Unterstützung von Facebook und dem chinesischen Internetgiganten Tencent gesichert. In Europa hat das britische Unternehmen „Century Tech“ einen Vertrag unterzeichnet, um in siebenhundert belgischen und einigen Dutzend britischen Schulen eine smarte Unterrichts- und Lernplattform einzuführen. Deren Versprechen wird nun von der Coronavirus-Pandemie auf die Probe gestellt – angesichts von 849 Millionen Kindern, die im März 2020 nicht zur Schule gehen konnten, befinden wir uns mitten in einem noch nie da gewesenen Experiment zur Effizienz des E-Learnings.

Schnellere Fortschritte werden dabei aber in China erzielt. Dort hat Präsident Xi Jinping sein Land dazu aufgerufen, bis 2030 zur weltweit führenden Nation bei der Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) aufzusteigen. Allein 2018 sind mehr als 60 KI-Unternehmen auf dem privaten chinesischen Bildungsmarkt hinzugekommen. „Squirrel AI“ ist Teil dieser neuen Generation von Bildungs-Start-ups. Das Unternehmen verfügt bereits über zwei Millionen angemeldete Schülerinnen, hat 2.600 Lernzentren in 700 Städten in ganz China eröffnet und 150 Millionen Dollar von Investoren erhalten.

Der führende KI-Verantwortliche des Unternehmens ist der frühere Dekan für Informatik an der US-amerikanischen Carnegie Mellon University, Tom Mitchell. Außerdem stehen auf der Gehaltsliste des Unternehmens eine Reihe chinesischer Spitzentalente, einschließlich Dutzender „Super-Lehrer“ – eine offizielle Bezeichnung, die den kompetentesten Lehrkräften des Landes verliehen wird. Auf dem Höhepunkt des Pandemie-Ausbruchs in China kooperierte das Unternehmen mit dem Bildungsministerium in Schanghai, bot den Schülerinnen und Schülern der Stadt kostenlosen Unterricht an und testete diverse neue Features.

Für das Unternehmen war es ein voller Erfolg. Auf einem Video der Firma sind niedergeschlagene Lehrer zu sehen, die alle bei der Vermittlung von Mathematikkenntnissen an Schüler in direktem Vergleich mit Computern den Kürzeren gezogen hatten. Die Maschinen hatten wesentlich mehr Stoff besser vermittelt. Aber stimmt das auch? Ist Unterricht mithilfe von Robotern wirklich besser als Lernen durch Interaktion und Zuwendung durch qualifizierte Lehrer?

Im Lernzentrum von „Squirrel AI“ in der chinesischen Stadt Hangzhou, das in einem der oberen Stockwerke eines Bürogebäudes untergebracht ist, bewegt sich ein Cursor zögerlich über den Satz: „Die moderne Technik hat uns für vieles die Augen geöffnet.“ Der 14-jährige Huang Zerong sitzt an einem sechseckigen Tisch und hat etwa die Hälfte einer 90-minütigen Englischlektion absolviert. Während er die Aufgaben auf seinem MacBook durcharbeitet, sitzt eine junge Frau neben ihm und beobachtet seine Fortschritte.

Auf Huangs Bildschirm, auf dem eine virtuelle Tafel sein aktuelles Englisch-Niveau, seine erreichte Punktzahl und seinen Lernschwerpunkt anzeigt, poppt zusammen mit dem schlichten Eichhörnchen-Symbol von „Squirrel AI“ eine Frage auf:

„India is famous for ________ industry.“

Huang liest sich die drei möglichen Antworten durch, entscheidet sich gegen „treasure“ und „typical“ und tippt stattdessen „t-e-c-h-n-o-l-o-g-y“ in das Feld.

„T____ is changing fast“, lautet die nächste Eingabeaufforderung.

Huang sieht die junge Frau an und gibt aus dem Gedächtnis „e-c-h-n-o-l-o-g-y“ ein. Sie schlägt die Hände zusammen und ruft „Gut!“, während eine weitere Eingabeaufforderung aufblinkt.

Vor einigen Monaten hat Huang seinen einsemestrigen Englischkurs mit einem Einstufungstest begonnen. Dazu loggte er sich über seinen Laptop auf der „Squirrel“-Plattform ein. Dann beantwortete er online jede Menge Fragen, um sein Sprachniveau zu bestimmen. Auf Grundlage der Antworten erstellte die Software dann einen auf ihn zugeschnittenen Lernplan. Darin wird festlegt, welche Texte er lesen soll, welche Videos er sich ansieht und welche Tests er absolviert.

Die Mutter zahlt 12.500 Euro

Huang sagt, im Lernzentrum sei er weniger abgelenkt als in der Schule und fühle sich mit der Technik wohl. „Es macht Spaß“, sagt er nach dem Unterricht. „Es ist viel einfacher, sich auf das System zu konzentrieren, weil es ein Gerät ist.“ Da seine Noten sich verbessern, hat seine Mutter gerade umgerechnet 12.500 Euro für ein weiteres Jahr bezahlt: jeweils zwei Semester- und zwei Ferienkurse in vier verschiedenen Fächern, insgesamt an die 400 Stunden.

Die Idee zu „Squirrel AI“ hatte Li 2015. Nach zehn Jahren mit seinem Nachhilfeunternehmen „Only Education“ war er ziemlich frustriert, denn die Grenzen des klassischen Lernens waren klar sichtbar geworden: Für einen besseren Lernerfolg bei einem Schüler hing alles davon ab, eine gute Lehrkraft zu finden. Doch die sind rar gesät. Die Fluktuation ist groß, die besten Lehrer werden schnell von anderen Unternehmen wieder abgeworben. „Only Education“ musste deshalb jedes Jahr rund 8.000 neue Lehrkräfte finden und ausbilden. Das hemmte nicht nur den Lernerfolg der Schüler, sondern auch das Wachstum des Unternehmens.

Die Antwort auf diese Probleme bestand für Li in adaptivem Lernen: Intelligente, computergestützte Systeme stellen sich automatisch auf die beste Methode für einen individuellen Lernenden ein. Neu war die Idee des adaptiven Lernens nicht. Aber Li war zuversichtlich, dass durch die schnelle Entwicklung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz bedeutende Fortschritte in greifbare Nähe rückten. Anstatt zu versuchen, die allgemeine Intelligenz des menschlichen Verstandes nachzubilden, erzielte die Forschung beeindruckende Ergebnisse, indem sie KI für spezialisierte Aufgaben einsetzte.

Beispielsweise kann künstliche Intelligenz Röntgenbilder mittlerweile deutlich besser auf bestimmte Krankheiten hin analysieren als der Mensch. Auch juristische Recherchen werden heute zuverlässig von Robotern übernommen. Solche Fortschritte ließen Li hoffen, dass auch im Bildungsbereich Ähnliches möglich sein könnte. Er beschloss, seine Lehrkräfte durch einen unermüdlichen, perfekten, virtuellen Lehrer zu ergänzen: „Stellen Sie sich einen Kursleiter vor, der alles weiß – auch über Sie.“

In Hangzhou kämpft Huang in seiner Englischstunde unterdessen mit dem Wort „eilen“. Auf dem Computerbildschirm erscheint ein eleganter junger Lehrer, der mit einer Videolektion beginnt. In nur drei Minuten erfährt Huang alles rund um die Nutzung des Wortes und verwandter Ausdrücke, etwa „in Eile“.

Momente, in denen ein kurzer Lehr-Input zu einem kleinen Lern-Output führt, werden „Nuggets“ genannt. Li träumt davon, dass mithilfe von KI eines Tages die perfekte individualisierte Lernerfahrung möglich sein wird. Dass dem Lernenden je nach Bedürfnis der richtige Lehrinhalt auf die richtige Weise zum richtigen Zeitpunkt angeboten werden kann.

„Squirrel AI“ verbessert seine Ergebnisse unter anderem dadurch, dass es ständig Daten über seine Nutzer aufsaugt. Während Huangs Unterrichtseinheit speicherte das System jeden Tastendruck, jede Cursor-Bewegung, richtige oder falsche Antworten, welche Texte er gelesen und welche Videos er geguckt hat. Diese Daten erhalten einen Zeitstempel. So lässt sich erkennen, wo er eine bestimmte Aufgabe übersprungen oder zögerlich bearbeitet hat. Jedes „Nugget“ wird ihm dann basierend auf der Analyse der gesammelten Daten kombiniert mit den Daten von zwei Millionen anderen Schülern angeboten. „Computer-Tutoren haben mehr Lehrerfahrung zur Verfügung, als Menschen jemals sammeln könnten, selbst nach einhundert Jahren Lehrtätigkeit“, sagt „Squirrel“-Chef Tom Mitchell .

Der Traum von einer perfekten Bildung mithilfe einer Maschine ist nicht neu. Mindestens seit einem Jahrhundert sagen Visionäre immer wieder vorher, dass der technische Fortschritt das Lernen transformieren wird. „Filme sind dafür gemacht“, schrieb der amerikanische Erfinder Thomas Edison im Jahr 1922, „unsere Schulen zu revolutionieren.“ Er war überzeugt, die Fähigkeit, den Zuschauer ins Geschehen eintauchen zu lassen, würde den Lernprozess beschleunigen. Andere machten ähnliche Voraussagen für Radio, Fernsehen, Computer und das Internet. Kleine Erfolge sind auch zu verzeichnen: die Open University, TV-Universitäten in China in den 1980ern oder die Khan Academy, die aktuell mit ihren Youtube-Lektionen Millionen Studierende erreicht. Aber im Großen und Ganzen unterrichten Lehrer und lernen Schüler weiter, wie sie es schon immer getan haben.

Technikenthusiasten sind aus zwei Gründen bei der künstlichen Intelligenz davon überzeugt, dass sich dieses Mal alles ändern wird. Erstens betrachten sie KI nicht einfach als Innovation, sondern als „Universaltechnologie“ – eine epochale Erfindung, wie etwa die Druckerpresse im 16. Jahrhundert –, die die Art und Weise, wie wir lernen, grundlegend ändern wird. Zweitens sind sie überzeugt, dass KI ein neues Licht darauf wirft, wie das menschliche Gehirn arbeitet – etwa wie Wiederholung Kompetenz verbessert oder Verschachtelung (Lücken zwischen dem Lernen zu lassen) dabei helfen kann, den Lernstoff zu beherrschen.

Rose Luckin, Professorin am Londoner Institute of Education und Expertin für maschinelles Lernen, ist überzeugt, dass eines Tages ein „Fitbit für den Kopf” möglich sein könnte. Ähnlich wie ein Fitness-Checker für den Körper könnte es sofort erfassen, was ein Individuum weiß und wie schnell es lernt. Das Gerät würde Sensoren nutzen, um Daten zu sammeln, die eine präzise, sich ständig weiterentwickelnde Karte der Fähigkeiten einer Person darstellen. Facebook forscht bereits auf diesem Feld. Andere Unternehmen experimentieren mit Eye-Tracking, also Blickerfassung, und Helmen, die die Gehirnströme von Kindern aufzeichnen.

Körper-Monitoring

Noch ist die KI-Bildungsrevolution nicht Wirklichkeit geworden. Aber die weltweiten Schulschließungen wegen des Coronavirus könnten die Haltung der Öffentlichkeit zum Online-Lernen positiv verändern – viele Online-Unterricht-Anbieter stellen derzeit ihre Produkte kostenlos für alle Kinder zur Verfügung, die nicht zur Schule gehen können –, ganz abgesehen von den Kindern, die ohnehin keine oder nur sehr schlechte Bildungschancen haben. Geschätzt gibt es derzeit 900 Millionen junge Menschen auf der Welt, die nicht das Nötigste für ein Leben in Wohlstand lernen können. Um diesen Kindern zu helfen, muss KI-Bildung nicht perfekt sein – sie muss nur etwas besser sein als das, was sie derzeit haben.

In ihrem Buch The Future of the Professions weisen die Autoren Richard und Daniel Susskind darauf hin, dass es die Tendenz gibt, Berufe in einer Person verkörpert zu verstehen, wie etwa Schlachter oder Bäcker, Arzt oder Lehrer. Daher halten wir diese Berufe für „zu menschlich“, um von Robotern übernommen zu werden. Für jemanden, der einen Algorithmus programmiert, entspricht ein Beruf dagegen einer langen Liste individueller Aufgaben, von denen viele mechanisiert werden können. Im Bildungsbereich könnten das Notengebung oder Motivation, Vortrag oder Stundenplanung sein. Sobald eine Maschine eine dieser Aufgaben besser und billiger erledigen kann als eine durchschnittliche Lehrkraft, sei, so die Autoren, eine Automatisierung dieses Teils des Jobs unvermeidlich. Künstliche Intelligenz muss also nicht genauso hoch entwickelt wie die des Menschen sein, um nützlich oder sogar mächtig zu sein. Das ist sowohl das Versprechen künstlicher Intelligenz als auch ihre Gefahr.

In einer Klasse in der Mittelschule Nummer 11 in Hangzhou gab es kürzlich ein umstrittenes Experiment. Über der Tafel waren drei Kameras angebracht worden. Das Überwachungssystem kann sieben emotionale Zustände auf den Gesichtern der Schüler erfassen: Neutralität, Abscheu, Überraschung, Wut, Angst, Fröhlichkeit und Traurigkeit. Wenn die Aufmerksamkeit der Kinder nachlässt, wird die Lehrkraft alarmiert.

Auf der internationalen AIAED-Bildungskonferenz in Beijing im vergangenen Mai war die Klassenraumüberwachung eins der am meisten diskutierten Themen. Allerdings beschäftigte die Teilnehmer dabei eher die technische Frage, wie sich die Effektivität von Gesichts- und Körper-Monitoring im Klassenraum optimieren lasse, als die möglichen negativen Folgen, die mit der Sammlung nie da gewesener Datenmengen über Kinder verbunden sind. Fragen, die auch im globalen Maßstab immer wichtiger werden. Denn auch in Schulen in Indien, Großbritannien oder den USA wird derzeit mit Gesichtsüberwachung experimentiert.

Wenn die Technologie die Schüler den ganzen Schultag über verfolgt, jeden Tastendruck, Wissensmarker, jede Gesichtsregung registriert – dann könnte irgendwann die Aufzeichnung dieser Daten die traditionellen Klausuren überflüssig machen, nicht die Tagesform würde einen wichtigen Teil der Note mitbestimmen, sondern die Gesamtleistung eines Schülers. Andererseits könnte ein solches System Daten über jeden Entwicklungsschritt eines Kindes liefern. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, für welch dubiose Zwecke diese Informationen missbraucht werden könnten – etwa, wenn das Verhalten in der Schule für die spätere Beurteilung des sozialen Verhaltens eines Erwachsenen herangezogen würde.

Nachhilfe als Droge

Der Überwachungsstaat dringt in China bereits jetzt weit in das Leben der Menschen vor. In 2019 war dort eine deutliche Steigerung der Anmeldung von Patenten für Gesichtserkennung und Überwachungstechnologie zu beobachten. Alle neuen Mobiltelefone in China müssen heute per Gesichtsscan registriert werden. In den Hotels checken chinesische Bürger mittels Gesichtsscanner ein. Das berüchtigte Sozialpunktesystem, das bereits in einigen Städten ausprobiert wird und noch dieses Jahr landesweit eingeführt werden soll, belohnt erwünschtes und bestraft unerwünschtes Verhalten durch Punktabzug auf einem persönlichen Vertrauenswürdigkeitskonto. Der Punktestand hat Auswirkungen auf die Möglichkeit zu reisen und Geld zu leihen.

Chinesische Bildungsforscher wie Jiang Xueqin aus Chengdu bezweifeln, dass die Veränderungen so revolutionär sind, wie KI-Befürworter es gerne sähen. „Die Eltern zahlen für eine Droge“, sagte er. Seiner Ansicht nach nutzen Nachhilfeunternehmen wie „Squirrel“ die Sorge der Eltern um die Examensergebnisse ihrer Kinder aus. Sie seien nur deshalb erfolgreich, weil Prüfungsvorbereitung das am leichtesten zu automatisierende Element von Bildung sei – ein geschlossenes System mit beschränkten Variablen, die Optimierung ermöglichten. Jiang ist weder vom erzielten Fortschritt beeindruckt noch von der Art und Weise, wie die Kinder in ein verzweifeltes Rennen geschickt werden, um den vom System aufgedrückten Erfolgsmaßstäben zu entsprechen.

Doch die Entwicklung geht unaufhaltsam weiter. Auf der AIAED-Konferenz wurde bereits eine neue, ambitioniertere Vision von adaptivem Lernen präsentiert, die weit darüber hinausging, Schülern dabei zu helfen, für Tests zu pauken – auch wenn vieles noch im Test- und Entwicklungsstadium ist. Unterdessen ist Li sicher, dass sein System eines Tages junge Menschen darin unterstützen kann, auch kreativ zu sein. Noch sei ein guter menschlicher Lehrer einem Roboter überlegen, aber bald sei KI so weit, mündliche Antworten von Schülern bewerten und auf sie reagieren zu können. In weniger als fünf Jahren will er es schaffen, die Squirrel-Plattform mit einer Liste aller möglichen Fragen und Antworten zu füttern und einen Algorithmus zu schaffen, der die bevorzugt, die als „kreativ“ gekennzeichnet sind. „Das ist ganz einfach – wie Katzen taggen.“

Für Li war Lernen immer schon so – wie Katzen taggen. Aber ob er da richtigliegt? Denn es gibt einen wachsenden wissenschaftlichen Konsens darüber, dass unser Gehirn eben nicht wie ein Computer funktioniert. Eine Maschine muss sich durch Millionen von Bildern rechnen, um eine Katze als eine Gruppe von „Merkmalen“ zu identifizieren, die nur in den Bildern präsent sind, die als „Katze“ markiert sind (zwei dreieckige Ohren, vier Beine, zwei Augen, Fell). Ein Kind dagegen kann das Konzept von „Katze“ von wenigen lebendigen Beispielen ableiten – dank unserer angeborenen Fähigkeit, Dinge symbolisch zu verstehen. Während Maschinen keine Bedeutung herstellen können, lebt unser Verstand dadurch auf. Der adaptive Vorteil unseres Gehirns ist, dass es kontinuierlich durch alle unsere Sinne lernt, indem es mit der Umwelt, unserer Kultur und vor allem anderen Menschen interagiert.

Alex Beard ist Lehrer, arbeitet für die Initiative „Teach for All“ und schreibt u.a. für den Guardian. 2019 erschien sein Buch Wie Kinder gerne lernen. Internationale Konzepte für eine Schule der Zukunft auf Deutsch

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Übersetzung: Holger Hutt, Carola Torti
Geschrieben von

Alex Beard | The Guardian

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