In Libyen sollte alles anders werden. Man habe die Lektion aus dem Irak und Afghanistan gelernt, behaupteten Premier David Cameron und Präsident Nicolas Sarkozy vor einem Jahr. Gegen Gaddafi gebe es eine waschechte "humanitäre Intervention". Anders als gegen Saddam Hussein werde man keine Bodentruppen, sondern lediglich die Luftmacht der NATO einsetzen, um einen Freiheitskampf zu unterstützen und ein Massaker zu verhindern. Anders als im Kosovo kämen nicht wahllos Clusterbomben zum Einsatz, sondern allein Präzisionswaffen. Dies werde ein Krieg sein, der das Leben von Zivilisten rettet.
Sieben Monate nach dem Muammar al-Gaddafi in den Ruinen von Sirte gelyncht wurde, liegen Berichte der UNO und von Menschenrechtsorganisationen über die „liberale Libyen-Intervention“ vor. Denen ist zu entnehmen, dass seither 8.000 Gefangene ohne Urteil festgehalten werden und zügellos gefoltert werden. Dass sie getötet würden, sei Routine, heißt es.
Die Stadt Tawerga, deren 30.000 Einwohner hauptsächlich dunkelhäutige Libyer sind, fiel einer ethnischen Säuberung zum Opfer, wie überhaupt in Libyen die Gewalt gegen Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara andauert. Es bleibt als Fazit, seit der Westen durch seine Einmischung zugunsten der Aufständischen versucht hat, Boden zurückzugewinnen, der ihm durch die Umbrüche in der arabischen Welt verloren ging, herrscht in Libyen Gesetzlosigkeit. Das Land befindet sich im Griff rivalisierender Warlords und Milizen, der Nationale Übergangsrat (NTC) verabschiedet Gesetze im Stil Gaddafis, schränkt die Meinungsfreiheit ein und verbietet Kritikern, bei den Wahlen zu kandidieren. So handeln politische Kräfte, bei deren Implementierung die NATO entscheidenden Einfluss hatte.
Luftwaffe der Aufständischen
Inzwischen gibt es immer mehr Hinweise darauf, was der Einsatz von Laserraketen während der Luftangriffe bedeutet hat. Die in New York ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch veröffentlichte jüngst einen Bericht über den Tod von 72 libyschen Zivilisten, ein Drittel von ihnen Kinder, die während verschiedener Bombenangriffe getötet wurden. Die Autoren kritisieren die NATO, weil die sich nach wie vor weigert, den Tod von Zivilisten anzuerkennen, geschweige denn zu untersuchen.
Angesichts von mehreren 10.000 Zivilisten, die von Amerikanern, Briten und anderen NATO-Kräften im Irak, Afghanistan, Pakistan und Jemen im zurückliegenden Jahrzehnt getötet wurden, ziehen es NATO-Befehlshaber möglicherweise vor, sich nicht mit derlei vergleichsweise geringfügigen Unannehmlichkeiten aufzuhalten. Dabei geht Human Rights Watch davon aus, dass die Zahl der direkt von NATO-Bomben getöteten Zivilisten in Libyen in Anbetracht von etwa 10.000 Einsätzen relativ gering ausfiel.
Während aber das UN-Libyen-Mandat explizit zum Schutz der Zivilbevölkerung aufforderte, stellte das Bündnis diesen Auftrag regelrecht auf den Kopf, indem es sich auf die Seite einer Bürgerkriegspartei schlug und quasi zur Luftwaffe der Aufständischen wurde. Dies führte dazu, dass die Zahl der Toten, die im März 2011, als die NATO-Intervention begann, unter 2.000 lag, bis Oktober nach Schätzung des Nationalen Übergangsrates auf 30.000 stieg, darunter Tausende von Zivilisten.
Insofern ist die NATO für mehr zivile Opfer verantwortlich als bei ihren Luftangriffen zu beklagen waren. Indirekt handelt es sich um die gleiche Verantwortung, die gerade erst zur Verurteilung des früheren liberischen Präsidenten Charles Taylor vor dem Haager Sondergericht für Sierra Leone führte. Taylor, der für 50 Jahre ins Gefängnis muss, wurde der „Beihilfe und Anstiftung“ zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Sierra Leone während des Bürgerkrieges in den neunziger Jahren für schuldig befunden. Freigesprochen wurde er hingegen vom Vorwurf, die von den Rebellen verübten Gräuel persönlich angeordnet zu haben. Das beschreibt ziemlich gut die Rolle, die von der NATO vor einem Jahr in Libyen gespielt wurde. Wie verhält es sich mit ihrer Schuld an Kriegsverbrechen, über die sie Bescheid wusste und wissentlich unterstützte?
Imperiale Interessen
Es ist natürlich undenkbar, dass NATO-Militärs für das Gemetzel in Libyen zur Rechenschaft gezogen werden. GLeiches gilt für die Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan, für die sie direkt verantwortlich sind. Der einzige Brite, der wegen eines Blutbads im Irak verurteilt wurde, ist Corporal Donald Payne, dem die Misshandlung von Gefangenen in Basra im Jahr 2003 zur Last gelegt wurde. Ex-Präsident George Bush hingegen konnte in seinen Memoiren damit angeben, das international geächtete Verbrechen der Folter angeordnet zu haben, und erhielt dafür noch nicht einmal eine Verwarnung.
Dies unterstreicht, dass internationale Rechtsnormen für die Großmächte und ihre Führer schlichtweg nicht gelten. Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens hat der Internationale Strafgerichtshof 28 Personen aus sieben Ländern wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt – es handelte sich ausnahmslos um Afrikaner. Das ist in etwa so, als würde das Strafrecht in Großbritannien nur auf Menschen angewendet, die den Mindestlohn verdienen und in Cornwall wohnen. Das internationale Recht stellt daher kein System der internationalen Justiz dar, sondern wirkt als machtpolitisches Instrument zur Durchsetzung imperialer Interessen. Der Fall Libyens macht für die arabische Welt und über hinaus deutlich: Interventionen – egal in welchem Gewand sie daherkommen – bringen keine Abkürzung auf dem Weg zum Frieden und sind weit davon entfernt, Leben zu retten.
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