Schweigen tötet

WikiLeaks Was auch immer man von Julian Assange halten mag, seine Auslieferung an die USA kann man nur ablehnen
Hier geht es um die Verteidigung des Journalismus und der Freiheit der Medien
Hier geht es um die Verteidigung des Journalismus und der Freiheit der Medien

Foto: Jack Taylor/Getty Images

Staaten, die Verbrechen im Ausland begehen, sind auf zumindest stillschweigende Duldung angewiesen. Es gibt verschiedene Wege, diese zu erreichen. Besonders beliebt ist es, die Opfer dieser Verbrechen zu den „Anderen“ zu erklären und ihnen ihr Menschsein abzusprechen – weil ihr Leid und ihr Tod nicht hinnehmbar wären, würde man sie sich als ganz normale Menschen vorstellen, die sich in nichts von den eigenen Nachbarn unterscheiden. Oder man stellt sie als Verräter dar, die mit feindlichen Mächten im Bunde stehen. Oder man verschleiert die Folgen von Kriegen im Ausland und stellt sicher, dass die Bevölkerung möglichst nichts von den Verbrechen erfährt, die in ihrem Namen begangen werden.

Darum geht es bei der versuchten Auslieferung von Julian Assange an die USA. 2010 lud die damalige Soldatin Chelsea Manning hunderttausende geheimer Dokumente runter, die in Zusammenhang mit den Kriegen der USA im Irak und Afghanistan, Depeschen des US State Department und Gefangenen in Guantanamo Bay standen. Assange soll Manning dabei geholfen haben, ein verschlüsseltes Passwort zu hacken, um Zugang zu dem Computernetzwerk des US-Verteidigungsministeriums zu erhalten. Die wahre Heldin dieser Geschichte ist Manning. Letzten Monat wurde sie verhaftet, weil sie sich weigerte, vor einer Grand Jury auszusagen, die den Fall WikiLeaks untersucht. Deshalb sitzt sie seit vier Wochen in Einzelhaft. Wir müssen uns für ihre Freilassung einsetzen.

Die damaligen Enthüllungen offenbarten einige der Kriegsgreuel, die auf den elften September folgten. Eine Aufnahme zeigte, wie eine US-amerikanische Flugzeugbesatzung sich über den Tod eines Dutzend unschuldiger Zivilisten amüsierte, unter denen sich auch zwei irakische Reuters-Mitarbeiter befanden. Die Besatzung hatte ihren Angriff mit der falschen Behauptung gerechtfertigt, sie seien Zeuge eines Feuergefechts geworden. Andere Dokumente enthüllten, wie die von den USA geführten Kräfte in Afghanistan hunderte von Zivilisten töteten, deren Tod andernfalls schlicht aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit ausradiert worden wäre. Ein weiteres Kabel, das Korruption und Skandale am Hofe des damaligen vom Westen unterstützten tunesischen Diktators Zine al-Abidine enthüllte, befeuerte die Proteste gegen ihn, die ihn schließlich zu Fall brachten.

Schweden könnte neu aufgerollt werden

Assange muss sich in einem Fall verantworten, doch dabei handelt es sich nicht um diesen. Im Internet ist immer wieder davon zu lesen, dass der Fall einer Schwedin, die Assange vorwirft, sie vergewaltigt zu haben, von den Behörden verworfen worden sei. Diese Darstellung ist irreführend: 2017 kamen die Strafverfolgungsbehörden zu dem Schluss, dass „an diesem Punkt alle Möglichkeiten, die Untersuchung weiterzuführen, ausgeschöpft sind“. Weil Assange sich in der ecuadorianischen Botschaft verkrochen hatte und Ecuador nicht kooperieren wollte, musste die Untersuchung eingestellt werden. Sie kann aber wieder aufgenommen werden, wenn Assange „sich zur Verfügung stellt“.

Unabhängige Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe einer weiteren Frau wurden von den schwedischen Behörden 2015 fallengelassen, als sie verjährt waren. Als Linker kann man die Vergewaltigungsvorwürfe einer Frau nicht abtun, nur weil man denjenigen, gegen den sich diese Vorwürfe richten, bewundert. Eine solche Frau als Lügnerin zu bezeichnen, die versuche, einen großen Mann zu Fall zu bringen, ist schlicht frauenfeindlich. Wenn der Fall wieder aufgenommen wird, muss Assange zu den Vorwürfen in Schweden Stellung beziehen, ohne Gefahr zu laufen, an die USA ausgeliefert zu werden.

Der schwedische Fall muss vollständig von dem Auslieferungsgesuch der USA abgekoppelt werden. Und während es völlig akzeptabel ist, Assanges rechtslibertären Politikansatz abzulehnen, ist das für die hier zugrundeliegende Frage völlig irrelevant. Es gibt noch immer elitäre Unterstützer Hillary Clintons, die unfähig sind, das Scheitern ihrer „zentristischen“ Politik in politisch unruhigen Zeiten zu akzeptieren und noch immer nach Sündenböcken für die Niederlage von 2016 suchen. Sie werden es begrüßen, Assange unter Trump in einem Gefängnis verrotten zu sehen. Doch der Auslieferung Assanges an die USA muss in jedem Fall widersprochen werden. Selbst die Regierung Obama kam zu dem Ergebnis, dass es die Pressefreiheit gefährden würde, Assange wegen der Veröffentlichung von Dokumenten zu verfolgen.

Assanges Auslieferung muss verhindert werden

Ja, hier geht es um die Verteidigung des Journalismus und der Freiheit der Medien. Doch es geht auch um den Versuch, diejenigen einzuschüchtern, die Verbrechen publik machen, die von der letzten verbleibenden Supermacht der Welt verübt werden. Die USA möchten ihre Verbrechen gern geheim halten, um sie auch weiterhin straffrei begehen zu können. Deshalb hat Donald Trump im vergangenen Monat eine präsidiale Verfügung unterschrieben, um den Tod von Zivilisten, die durch Drohnen getötet werden, zu verschleiern – deren Einsatz in Afghanistan, Somalia, Jemen und Pakistan weiter extrem ansteigt.

Schweigen tötet, denn eine Öffentlichkeit, die nicht über das Abschlachten Unschuldiger durch ihre Regierung informiert ist, kann nicht darauf drängen, dass dieses Morden ein Ende nimmt. Um Verbrechen, die noch nicht begangen wurden, zu verhindern – und wegen der abschreckenden Wirkung, die sie hätte und die beabsichtigt ist – muss diese Auslieferung verhindert werden.

Owen Jones ist ein britischer Journalist, Autor und Aktivist der politischen Linken

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Owen Jones | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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