Sehnsucht nach dem Staatsmann

Frankreich Nicolas Sarkozy steckt viel zu sehr in den Ebenen der Tagespolitik. Die Regionalwahl ist auch eine Quittung dafür, dass ihm die präsidiale Aura weitgehend fehlt

Mag sein, dass Nicolas Sarkozy einer jener Politiker ist, die mehr Talent dafür haben, sich erfolgreich um ein Amt zu bewerben als dasselbe dann auszufüllen. Die kolossale Niederlage seines Mitte-Rechts-Bündnisses bei den Regionalwahlen erscheint wie eine persönliche Abmahnung der Wähler für einen Präsidenten, dessen kometenhafter Aufstieg in den vergangenen Jahren für viele so unaufhaltsam wie unerwünscht vonstatten ging. Doch den Staatsoberhäuptern in ganz Europa wird wohl bewusst sein, dass die jetzige Schlappe nicht allein Sarkozy anzulasten ist.

Ewiger Wahlkämpfer

Dieser Präsident erweckt oft den Anschein, bei allen beliebt sein zu wollen. Doch er scheitert daran, guten Beziehungen vor allem mit denen zu pflegen, die ihm am Nächsten stehen. Sein Bruch mit der ehemaligen Wahlkampfberaterin und Justizministerin Rachida Dati war so sensationell wie hinderlich –seine Fehde mit Ex-Premier Dominique de Villepin schlicht unappetitlich. Und dann ist der Sohn auch noch in eine Reihe von Image schädigender Fälle mutmaßlicher Vetternwirtschaft verwickelte.
„Er ist ein ewiger Wahlkämpfer, der permanent mit neuen Initiativen vorprescht und auf die Schlagzeilen schielt“, schreibt Großbritanniens ehemaliger Europaminister, der Labour-Abgeordnete Denis MacShane, in Newsweek. „ Frankreich aber möchte einen Präsidenten haben, der über dem ganzen Gerangel steht ... Unter Charles de Gaulle wurde dieses Land zu einer modernen, starken Nation – unter Francois Mitterand zu einem der wichtigsten Akteure in Europa. Sarkozy ist nur ein einfacher Politiker, doch das Land wartet sehnsüchtig auf einen Staatsmann.“
Angesichts des Ausmaßes der Wahlniederlage für die UMP, deren Stimmenanteil auf 35 Prozent sank, während die Sozialisten und ihre Alliierten 54 Prozent erreichten, traf sich Sarkozy bereits mit seinem Premier François Fillon zu dringlicher Beratung. Martine Aubry, Parteichefin der Sozialisten, hatte einen „tiefgreifenden Strategiewechsel“ gefordert. Fillon parierte, die Regierung werde mit ihrem Wirtschaftsprogramm fortfahren wie bisher. Es umfasst umstrittene Eingriffe in das Rentensystem und Sparmaßnahmen, um das Staatsdefizit zu senken, das 2010 vermutlich auf über acht Prozent des Bruttosozialproduktes (BSP) steigt.

Es überrascht kaum, dass Sarkozy so hartnäckig ist. Was seine Kritiker übersehen – die Konflikte, mit denen sich Sarkozy und die anderen europäischen Staatsoberhäupter jetzt und in Zukunft auseinandersetzen müssen, sind weder ideologischer noch persönlicher Natur. Dazu zählen die wirtschaftliche Erholung Europas, die noch immer auf sehr tönernen Füßen steht, und das Rekordniveau der Staatsverschuldung. Entscheidend ist auch, dass die europäische Öffentlichkeit sowohl auf nationaler als auch auf transnationaler Ebene das Vertrauen in ihre Politiker und die politischen Systeme verloren hat. Am Wochenende verweigerten in Frankreich 50 Prozent der Wähler den Gang zu den Wahlurnen, selbst für eine Regionalwahl eine alarmierend hohe Quote. Diese „Nichts von alledem“-Haltung, die sich überall in Europa beobachten lässt, ist für eine funktionierende Demokratie äußerst schädlich.

Alternde Generation

Die Wut der Wähler und ihre Entfremdung von der politischen Mitte schlägt sich auch in der wachsenden Unterstützung für Parteien vom äußeren rechten Rand nieder. In Frankreich holte Jean-Marie Le Pen mit seinem Front National (FN) landesweit fast zehn Prozent der Stimmen. In ihren Wahlbezirken gewannen Le Pen und seine Tochter Marine jeweils 22 Prozent. Die rechtsextreme British National Party, die sich im Blick auf die Unterhauswahl für eine große Wahlkampfoffensive im Mai rüstet, dürfte sich durch diese Ergebnisse ermuntert fühlen.

Unlängst wies die Labour-Regierung darauf hin, dass der Verzicht auf eine wirksame Strategie, aus der sich ersehen ließe, wie mit einer wachsenden Einwanderung umgegangen wird, ein wesentlicher Grund dafür sein könnte, dass sich Wähler hilflos und wütend fühlen. In ganz Europa fürchtet sich eine alternde Generation vor dem Verlust von Sicherheiten, vor sinkenden Einkommen, Wohnungsnot und Defiziten im Gesundheitssystem.
Dieses Phänomen ist nicht auf Sarkozy oder Frankreich beschränkt. Kritiker werfen der EU vor, dass sie weit mehr leisten könnte, um etwas gegen die Kernprobleme der europäischen Bürger zu unternehmen. Wenn sie das täte, könnte sie damit ihren Ruf aufbessern. Doch stattdessen verwickelt sich Deutschland als stärkstes Mitgliedsland in einen erbitterten Streit um die Frage, ob man der griechischen Wirtschaft aus der Patsche helfen soll. Inzwischen reicht der so weit, dass die Bildzeitung kürzlich titelte: „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen! Und die Akropolis gleich mit!“

Übersetzung: Christine Käppeler


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Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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