Als ich in der U-Bahn stand und auf den L-Train wartete, sah ich eine Gruppe junger Männer, die in diesem leicht verlotterten, unbestimmt hippen Look daherkamen, der geradezu „Williamsburg!!!!“ schrie. Mir fiel auf, dass alle einen Bart trugen. In derselben Woche sah ich in ein und derselben Straße des East Village ungefähr ein Dutzend Männer zwischen 18 und 35, die alle Bärte trugen. Und ein paar Tage darauf sah ich die Alternative-Rock-Show New York Noise und in einer Reihe von Videos, in denen alle in der ein oder anderen Weise Haare im Gesicht hatten. Den Höhepunkt stellte "He Doesn't Know Why" von den Fleet Foxes dar.
Da wurde mir klar, dass der Bart ein entscheidendes, epoche-machendes Erkennungszeichen des Nicht-Mainstream-Rocks der Nullerjahre geworden ist.
Dies gilt insbesondere für die USA, wo Koteletten auf eine eindeutige Affinität zu Americana-Genres wie Alternative Country und Free Folk verweisen. Aber auch in Großbritannien war im vergangenen Jahrzehnt eine Hinwendung zum Haarigen zu beobachten. Nehmen Sie nur einmal die Fernsehwerbung, die Teil der Face-to-Face-Kampagne der British Airways zur Promotion von „Unternehmertum in harten Zeiten“, die sich auf die britische Musikindustrie konzentriert. Sie soll eine Art Slideshow der heutigen, heißen, hippen und angesagten Brit-Rock-Szene darstellen. Aber das Panorama aus langen, zotteligen Haaren, Bauernjoppen, akustischen Gitarren und Bärten vermittelt eher den Eindruck, als habe man eine Zeitreise in das Jahr 1972 angetreten.
Pionier? Siedler? Trapper?
Bis vor kurzem gab es sogar ein britisches Musik-Zine namens Beard, auf dessen Cover Koteletten-tragende Minnesänger wie Alasdair Roberts und Robert Wyatt zu sehen waren. Die Gründer des Magazins, Stewart Smith und Neil Jaques, entwickelten zu Beginn des Jahrzehnts beim Hören der Musik von Wyatt, Dennis Wilson und Will Oldham ein „Faible für Bärte“. Am bekanntesten in seinem Bonnie-„Prinz“-Billy-Outfit, war Oldham der Vorreiter der neuen Bärtigkeit. Und er sieht tatsächlich aus wie ein Pionier, Siedler oder Trapper. Sehen Sie sich nur einmal sein sepia-farbenes Foto auf dem Cover seines 2003er Albums Master and Everyone an, das im Stile der Daguerreotypie- oder Calotypie-Porträts aus dem amerikanischen Bürgerkrieg daherkommt. Bei seinen Live-Auftritten betont Oldhams kahles Oberhaupt das Dickicht, das die untere Hälfte seines Gesichts bedeckt, noch deutlicher.
Mit Bezugspunkten wie Harry Smiths Anthology of American Folk Music aus dem Jahr 1952 oder John Fahey ordnet sich Oldham der Free-Folk-Szene zu, einem ganzen Gebiet der US-amerikanischen Underground-Musikszene, die komplett Gillette-frei ist. Matt Valentine vom Duo MV ist so etwas wie die Gallionsfigur der unberührten Bürste. Er und seine Partnerin Erika Elder leben in den Wäldern bei Brattleboro, Vermont, einem Gebiet, das seit den Tagen der Hippies ein Anziehungspunkt für Ostküsten-Bohemians darstellt. Wenn Sie Valentines hervorragenden Adlerfarn sehen wollen, werfen Sie einen Blick auf die Videos von MV Auftritten mit der Canada Goose Band. Oder dieses kurze Interview, in dem das Duo seine politischen Überzeugungen diskutiert (Elder beschreibt darin den Output ihres Plattenlabels Child of Microtones als „Ernte“. )
Die Gesichtsbehaarung als epochales Markenzeichen...
Valentine rümpft die Nase über die „kommerzielleren“ Vertreter des Freak-Folk wie Joanna Newsom, die, wenn nicht im wörtlichen, so doch im spirituellen Sinne eine bärtige Lady ist. Sie sind ihm musikalisch zu geschniegelt. Dabei kann kaum ein Zweifel an dem erheblichen Beitrag bestehen, den Devendra Banhart in diesem Jahrzehnt zur Zurückdrängung der Haarlosigkeit geleistet hat. Weitere bekannte Haarmenschen der Nullerjahre, die den Wilkinson-Shareholdern das Fürchten lehrten, sind Bon Iver, Band of Bees, Daniel Bejar von Destroyer, Sam Beam von Iron, Band of Horses und Broken Social Scene. Merkwürdigerweise bevorzugen Grizzly Bear den Rasierapparat und nur ein Drittel von Animal Collective trägt einen Pelz im Gesicht.
„Was ist denn mit Wayne Coyne?“, höre ich Sie rufen. Er ist nicht nur eine der angenehmsten Erscheinungen in der zeitgenössischen Rockmusik, sein zerzauster Bart und grau-melierter Bart passen irgendwie zur Musik der Flaming Lips. Aber ich glaube, sein Bart steht für eine etwas andere Einfärbung des Nu-Folk der Nullerjahre, die mehr an Laurel Canyon und das Los Angeles des Soft-Rock 1976 erinnert: Andrew Gold, vielleicht sogar der Michael McDonald der Doobie-Bros-Ära. Mit seinen für gewöhnlich gepflegten Jackets wirkt Coyne zeitgemäß und urban, nicht wie eine Provinznase von gestern. Der gut-gepflegte (und gewaschene) Soft-Rock-Bart der Siebziger tauchte im Laufe des vergangenen Jahrzehnts auch in Elektro-Musik-Kreisen auf, von der einen Hälfte von Air bis hin zum „Space-disco“-Produzenten Lindstrom.
...und als Mittel visueller Rhetorik
Wenn nun aber die Gesichtsbehaarung wirklich zum epochalen Markenzeichen des Jahrzehnts geworden ist, was genau soll dann mit ihr ausgedrückt werden? Lassen Sie uns noch einmal einen Blick auf Fleet Foxes "He Doesn't know Why" werfen, in dem die Band klingt wie Engel, aber aussieht wie Satyre. Bärtigkeit ist hier ein Mittel visueller Rhetorik, nahezu eine Form der Authentifizierung – als trüge die Band ihre Musik im Gesicht mit sich herum. Das Video ist eine Symphonie aus braunen Schatten. Es mischen sich sogar Tiere unter die Bandmitglieder. Die buschigen Hälse der Gänse betonen die Bärtigkeit der Musiker noch zusätzlich.
Das ganze erinnert an eine heilige Epoche der Rockmusik: die Jahre 1968/69, als die Rockmusik sich zum ersten Mal einen Bart wachsen ließ. "He Doesn't Know Why" ist musikalisch wie visuell zu gleichen Teilen Crosby, Stills Nash und The Band. Wenn man sich das Debütalbum der Fleet Foxes aus dem Jahr 2008 ansieht, auf dem Lieder über Eichhörnchen und Wiesenlerchen zu hören sind, die Titel wie "Ragged Wood" und "Blue Ridge Mountains" tragen, muss man kein Roland Barthes sein, um die Bärte der Bandmitglieder als Amerikas immerwährende Sehnsucht nach der Wildnis zu entschlüsseln – ein Bedürfnis, das anscheinend am stärksten bei denjenigen ausgeprägt zu sein scheint, die nicht in ländlichen Gegenden aufgewachsen sind. In einem Akt stiller und dennoch beredter Auflehnung gegen die Moderne, haben die Fleet Foxes ihre Kinne in Miniaturen der Appalachen verwandelt.
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