Sehnsucht nach Freiheit

Alternativen Stellt Euch eine andere Gesellschaft vor: Warum die Proteste in London, Berlin und anderswo erst der Anfang einer wachsenden Gefolgschaftsverweigerung sind

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung. Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie

Der bußfertigen Rhetorik der Herrschenden vom Wiederaufbau der globalen Finanzarchitektur und ihrem scheinheiligen Gerede von der Chance, die in der Krise liege, fehlt es an jeglicher Überzeugungskraft. Die Menschen haben genug von ihrer Nebenrolle, die ihnen bislang im Drama der Globalisierung zugewiesen wurde. Bisher kamen sie in den planlosen Projekten der „Architekten“ der Globalisierung nur als passive Opfer oder Nutznießer eines Systems vor, das zu kontrollieren ihnen nicht obliegt. Das wird sich ändern. Die Demonstrationen in London und anderswo waren nur ein Vorspiel einer stetig wachsenden politischen und ökonomischen Gefolgschaftsverweigerung.

Wir stehen am Beginn einer neuen Befreiungsbewegung. Wie stets in der Geschichte, ist sie in ihren Anfängen zerfahren und uneinheitlich. Aber das kollektive Aufbegehren hat ein gemeinsamen Gegner: die Tyrannei, die keinen Gesetzen folgende Willkürherrschaft der von uns Menschen hergestellten und ersonnenen Dinge über uns Menschen selbst, eine Willkürherrschaft, die den Menschen zum Mittel degradiert und nicht als Zweck setzt. Sie hat im Kapitalismus den Charakter eines religiösen Fetischs angenommen, dem zu dienen die Menschen bei Strafe des Untergangs gezwungen werden – ob als frei verfügbare Arbeitskräfte in den Sweatshops, Minen und Plantagen dieser Welt oder als menschliche Kollateralschäden eines Lebens im materiellen Überfluss, eines auf Mehrwertabschöpfung basierenden Elends, das in dieser Welt immer noch als Privileg betrachtet wird.

Reflex der Revolte

Wenn in den reichen Ländern des Westens ein ungewohntes Geräusch zu hören ist, könnte dies das wachsende Bewusstsein sein, ein Reflex der Revolte und des Ekels gegen die Umstände, unter denen Industrialisierung und Menschheit zusammengefunden haben. Die Menschen haben etwas verstanden, das nie bewusst ausgehandelt, sondern stillschweigend auferlegt wurde: dass wir mit dem Genuss einer immer größer werdenden Zahl von Waren, die auf dem Weltmarkt zu haben sind, in quasi fatalistischer Weise auch alles akzeptieren müssen, was mit dieser Produktion von Waren zum Tausch auf dem Markt zwangsläufig einhergeht. Angefangen bei den Kriegen und den sozialen Verwerfungen bis hin zu den psychischen Schäden und all den Krankheiten sozialer, emotionaler und geistiger Natur, die alle untrennbar mit dazu gehören.

Wer von der Notwendigkeit von Befreiung spricht, wird von denjenigen angefeindet, die der Auffassung sind, wir lebten in der besten aller nur denkbaren Welten. Die Nutznießer der Ungleichheit, die Treuhänder der überkommenen Ideen, diejenigen, die Tag für Tag Bewegung simulieren, damit alles so bleiben kann wie es ist, werden alle ideologischen und materiellen Mittel zum Einsatz bringen, um diejenigen, die sich für eine Befreiung einsetzen, lächerlich zu machen, herabzusetzen und als Verrückte und Ketzer zu denunzieren.

Wenn die Demonstranten dieser Tage ein Gefühl der Befreiung und Euphorie umgab, dann weil das nicht ernst gemeinte Mantra vom „Wandel“ dem Schrei nach Emanzipation Platz gemacht hat. Die Leute, die auf die Straße gehen, sehen für sich eine andere Zukunft, in der die durch die Kaufhäuser schlurfenden Massen ihre Blicke von den Displays erheben, die unsere verführbaren Begierden in Geisel-Haft halten und sich stattdessen ihren Mitmenschen zuwenden. Werden sie staunen? Darüber, was auf einmal alles möglich ist? Wie viel wir aus freien Stücken füreinander tun können? Eine Zukunft, in der das Geräusch der Mündungsfeuer an den von uns errichteten Grenzen nicht mehr länger zu hören und das Aufblitzen von Messern in unseren Straßen nicht mehr länger zu sehen sein wird? Eine Zukunft, in der die Schlösser und Riegel, hinter denen sich die Alten heute noch in ihren Wohnungen verstecken, verrostet auf den Schrottplätzen liegen werden?

Vorweggenommener Jubel

Die Proteste von heutes nehmen den Jubel und die Freude des Tages vorweg, an dem die bewusstseinsverändernden Substanzen – sowohl die verordneten als auch die verbotenen - mit deren Hilfe die im materiellen Wohlstand lebenden Menschen sich ihr Leben im „goldenen Käfig“ erträglich machen, auf die Scheiterhaufen gekippt werden, deren Flammen als Freudenfeuer in den Himmel steigt; die Freude, wenn die Alkoholbestände – die uns in unserem jetzigen Zustand so unverzichtbar scheinen wie das Benzin, das unsere Mobilität gewährleistet – in die Gosse gekippt werden.

Stellt Euch eine Gesellschaft vor, welche mit anderen Augen auf die willfährige Preisgabe ihrer Kinder an jene Kräfte blickt, welche sie vom ersten Augenaufschlag an mit den seidenen Netzen des Konsums umgarnen, sie in der Kunst der permanenten Erfahrung des Mangels und der versagten Befriedigung unterweisen und sie die ätzende Lektion lehren, dass selbst der größte Reichtum nie genug sein wird, das Gefühl des Ungenügens zu tilgen.

Stellt Euch eine Befreiung vor, welche die sexuelle Burka herunterreißt, den unsichtbaren aber allgegenwärtigen Schleier, der eine rigide Hierarchie dessen festschreibt, was begehrenswert und attraktiv ist, sodass die Schönheit der Weisen, Gütigen, Gnädigen und Ehrbaren doch noch einmal durch die fragwürdige Tugend der schönen Oberfläche dringen kann. Stellt Euch eine Gesellschaft vor, in der die Stimmen der Nüchternen und Weisen über dem Gekreische und den Schreien der Prediger des Marktes zu hören sein werden.

Was wir uns fragen werden

Die Hyperaktivität einer manischen Unterhaltungsindustrie wird sich legen und wir werden uns fragen, warum wir ein Achtel unseres Lebens hier auf Erden damit verbracht haben, vor dem unheimlichen Flimmern eines Fernsehgerätes die Leidenschaften anderer Leute zu verfolgen. Warum wir ein Jahr unseres Lebens im Stau verbracht oder zahllose Stunden angestanden haben, um uns des Geldes zu entledigen, das wir verdient haben. Warum, werden die Leute fragen, suchten wir gleichzeitig permanent Ablenkung von unserem eigenen Leben und haben uns gleichzeitig zu Tode amüsiert? Was ist nur mit unserer Fähigkeit geschehen, zu entzücken, zu verzaubern und einander zu begeistern, statt auf dem Bildschirm die Schicksale von Geistern zu verfolgen und am Aufstieg und Fall von Berühmtheiten Anteil zu nehmen und deren inszenierten Erfolg zu legitimieren?

Dies sind einige Überlegungen derer, die nicht einverstanden sind. Sie wurden durch die Krise eines Systems neu aufgeworfen, welches neben der Verfügbarkeit eines immensen sinnlichen Reichtums gleichzeitig immer mehr ebenso greifbare und reale Schlechtigkeiten hervorgebracht hat: Kriege um Grenzen und Drogen, Straßenbanden, verschwimmende Fernsehbilder von ungeklärten Verbrechen, die Jugendlichen auf der Straße, die keine wirkliche Zukunft für sich sehen, besoffenen und völlig neben sich, den widerlichen Rassismus und die Gewalt in den zugigen Wohnungen der Vorstädte, die Alters- und Jugendarmut, all die gescheiterten Beziehungen, die wir mit dem ganzen stinkenden Rest auf die Müllkippen unserer Zukunft verbannt haben.

Keine Avantgarde, kein Proletariat, keine Armee

Die Proteste der vergangenen Woche atmeten ein Vorgefühl jenes Tages, an dem das Sperrgebiet unseres Herzens und unserer Vorstellungskraft befreit werden wird. Dafür wird es keiner Armee und keiner Invasion bedürfen. Wir werden nicht im Schatten stehen und Blumen auf Uniformierte werfen. Keine überweltliche Macht wird auf den Plan treten und uns von den beschränkten und bedingten Freiheiten der Abhängigkeit von den undurchschaubaren „Gesetzen“ des Marktes befreien. Ihr dürft keine Avantgarde, kein Proletariat, keine Armee und ganz bestimmt keine himmlischen Heerscharen erwarten.

Die Sehnsucht nach Freiheit ist immer während und unsere Freiheit wird nicht von außen bedroht, etwa von Leuten, die uns unseren Lebensstil nicht gönnen würden. Sondern von der Inkohärenz, der Ungerechtigkeit und dem Chaos, welches unserer Wirtschaftsordnung im Innersten zugrunde liegt. Der bilder- und maschinenstürmerische Karneval der vergangenen Wochen war nur ein Anfang, ein euphorischer Kontrapunkt zur Eitelkeit der Herrschenden, die nicht zwei Drittel der Welt, sondern lediglich die Kredithaie und Geldleiher, die Fälscher und Betrüger derjenigen Globalisierung repräsentieren, die mit Internationalismus rein gar nichts zu tun hat.

Selbstverständlich ist der Ausgang eines solchen Kampfes nicht vorhersehbar. Wer hätte gedacht, dass diejenigen, die sich vom europäischen Kolonialismus befreit haben, in einem Sumpf von Diktaturen, Kriegen und erneuter Unterwerfung versinken würden? Wer in der Sowjetunion hätte eine von Ungleichheit und der Kriminalität der Reichen bestimmte Zukunft vorhergesehen? Wer im Westen hätte gedacht, dass die Sehnsucht nach bescheidenem Wohlstand und Sicherheit in einem krisengeschüttelten Konsumismus enden würde? Die Folgen einer solchen Bewegung lassen sich nicht vorhersagen. Das Bewusstsein, welches sie speist, ist jedoch irreversibel und es könnte gut sein, dass die öffentliche Zurschaustellung von Reue durch die Herrschenden bereits zu spät kam.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Jeremy Seabrook, The Guardian | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

The Guardian

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