Im Februar 2009 hielt ich in Mararaba, einem Vorort der nigerianischen Hauptstadt Abuja, Ausschau nach Motorradfahrern, besonders nach solchen mit getrockneten halben Melonenschalen auf dem Kopf. Kurz zuvor war in Nigeria die Helmpflicht verschärft worden. Die Fahrer der unzähligen Mopedtaxis, die Achabas, mussten von nun an nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Passagiere Helme bereithalten. Ein Aufschrei der Empörung war die Folge. Die Fahrer galten seit jeher als Draufgänger. Trotzdem kamen die neuen Regeln auch bei den Fahrgästen schlecht an. Vor allem aus einem Grund: Sie waren für die Polizei eine neue Möglichkeit, die Leute zu schikanieren.
Langstrecke
Selbst in einer Wochenzeitung kommen viele Storys zu kurz. Deshalb hat der „Freitag“ nun den „Robinson“ – mit großen Reportagen, Interviews und Features, präsentiert auf mehreren Seiten.
Einer der Fahrer erzählte mir, zwei Helme würden etwa 10.000 Naira kosten (rund 50 Euro), und da er pro Tag nur zwischen 300 und 400 Naira verdiente (kaum mehr als zwei Euro), konnte er es sich schlicht nicht leisten, das Gesetz zu befolgen. Es war klar, was geschehen würde: Die Polizei würde die Helmsünder an Marktplätzen und Durchgangsstraßen stoppen, sie malträtieren, wenn nicht gar niederknüppeln.
Die Achaba-Fahrer stehen ganz unten in Nigerias Gesellschaftsordnung. Es sind ausnahmslos Männer, sie haben weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung. Viele von ihnen schlafen unter Brücken oder auf ihren Mopeds, um ihre Einnahmequelle zu bewachen. Auch die Fahrgäste sind zumeist arm. Die Menge der Achabas auf den Straßen ist auch ein Gradmesser der wirtschaftlichen Misere im Land.

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Als das Helmgesetz in Kraft trat, versuchten sich die Fahrer mit einem improvisierten Kopfschutz zu behelfen: mit Dosen und Eimern, manchmal auch mit Kalebassen. Und sie hofften, dass die Polizei bald die Lust daran verlieren würde, Jagd auf sie zu machen.
Im abgelegenen Nordosten des Landes jedoch hatte das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Ordnungshütern und Achabas ungeahnte Konsequenzen. In Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaats Borno, löste es einen blutigen Konflikt mit einer bis dahin international weitgehend unbekannten radikalislamistischen Sekte aus, der das Land in einen bis heute andauernden Krieg mit tausenden Opfern stürzte.
Schmuggler aus den Bergen
Zwei Jahre später. Ein schmächtiger Bursche wird von zwei Beamten in Zivil in das Hauptquartier von Maiduguris Spezialeinheit gegen Raubüberfälle geführt. Das Gebäude heißt im Volksmund „The Crack“, nicht nur wegen der Elitetruppe, die dort residiert. Es ist ein Ort, aus dem mancher, der dort hineingebracht wird, nicht mehr lebend herauskommt. Der junge Mann, er heißt Mohammed Zakariyya, ist ein paar Tage zuvor an einem Kontrollpunkt verhaftet worden. Sein pinkfarbener Kaftan ist mit getrockneten Blutspritzern übersät. Ich darf Zakariyya befragen. „Sie haben Waffen gefunden, die wir unter einem Autositz versteckt hatten“, erzählt er. Als die Polizisten ihn und den Fahrer zum Aussteigen aufforderten, versuchte sein Begleiter durchzustarten. Die Beamten eröffneten daraufhin das Feuer und erschossen den Mann. Zakariyya erzählt freimütig, es sei seine dritte Waffenschmuggelmission gewesen. Jedes Mal seien sie von Maiduguri aus etwa 120 Kilometer aufs Land gefahren, um einen Schmuggler zu treffen, der mit einem Kanu aus den Bergen an der Grenze zu Kamerun kam. Und jedes Mal gab er ihnen sechs Kalaschnikows und einige Schachteln Munition. Sie verstauten sie unter dem Rücksitz, dann fuhren sie zurück, durch Maiduguri hindurch bis in einen Vorort von Damaturu, der Hauptstadt des benachbarten Bundesstaats Yobe.
Die Männer, für die Zakariyya arbeitete, hatten ihn Ende 2010 angesprochen. Damals verkaufte er Schuhe und Ladekabel für Handys. „Sie predigten öffentlich, jeder wusste, wer sie waren“, sagt er. Es handelte sich um Mitglieder einer islamistischen Sekte von Hardlinern, die sich zwischen 2005 und 2009 in einem großen Haus um die Ibn-Taymiyyah-Moschee im Bahnhofsviertel von Maiduguri eingenistet hatte. Ihr Name: Boko Haram, was so viel heißen soll wie „Westliche Bildung ist verboten“. Nach und nach hatte diese Gruppierung immer mehr Anhänger gewonnen.
Eigentlich war ich nach Maiduguri gereist, um ein Mitglied von Boko Haram über die Ursprünge der Sekte zu interviewen. Er nannte sich Abu Dujana. Ein Kampfname nach einem Gefährten des Propheten Mohammed. Als ich ihn etwas später traf, schwärmte er mir mit einem beängstigenden Fanatismus von dem Leben in der weitläufigen Anlage vor. Das gesamte Leben richtete sich nach dem charismatischen Anführer Mohammed Yusuf aus. Er allein legte die äußerst strengen religiösen Standards und ihre Auslegung fest. „Man findet keine zweite Moschee in ganz Nigeria, an der man so viel Wissen vermittelt bekommen kann“, sagte Abu Dujana stolz.
Es gibt einen elementaren Wendepunkt in der Geschichte der heutigen Terrororganisation Boko Haram. Am 20. Februar 2009 war eine große Gruppe der Sekte zu der Beerdigung eines Mitglieds in einem Vorort Maiduguris unterwegs. Sie fuhren im Mopedkonvoi und sie wurden von der Polizei gestoppt, weil niemand einen Helm trug. Die Beamten gehörten zur Spezialeinheit Operation Flush, die einige Monate zuvor zur Bekämpfung von Extremisten gegründet worden war. Schnell eskalierte der Wortwechsel zwischen beiden Seiten. Was dann geschah, ist bis heute unklar. Einige berichteten, die Polizisten hätten zuerst das Feuer eröffnet. Andere erzählten, dass ein Mann aus der Trauergemeinde einem Polizisten die Pistole entrissen habe. Gesichert ist nur, dass mehrere Mitglieder der Reisegruppe getötet oder verwundet wurden. Es war nicht das erste Mal, dass sich die Wege der Spezialeinheit und Boko Harams kreuzten. Die Anführer der Islamisten waren schon seit längerem davon überzeugt, die Operation Flush diene nur dazu, sie unter Druck zu setzen und zu drangsalieren.
In den Wochen nach dem Zwischenfall hielt Mohammed Yusuf mehrere Reden, in denen er die Muslime aufrief, sich zum Dschihad bereit zu machen. Sie wurden über Kassetten, DVDs und über Smartphones verbreitet. Zu den Aufgaben sollten die „konkrete Vorbereitung wie Schießtraining und der Kauf von Waffen und Bomben ebenso wie die Ausbildung islamischer Soldaten zum Kampf gegen die Ungläubigen“ gehören. Yusuf schärfte seinen Anhängern ein: „Ihr solltet eure Seelen, eure Häuser, eure Autos und Motorräder für die Sache Allahs opfern.“
Auf die Predigten des Fanatikers reagierte die Regierung mit Razzien, Hunderte von Boko-Haram-Mitgliedern wurden festgenommen und etliche weitere getötet. Auch das Hauptquartier der Sekte in Maiduguri wurde abgeriegelt und belagert. „Sie griffen uns nicht frontal an, sondern versuchten uns zu provozieren, indem sie mit Jeeps vor der Ibn-Taymiyyah-Moschee auf und ab patroullierten“, berichtete Dujana. „Wir warteten ab, bis unsere Chance da war. Und dann schlugen wir los.“
In kleine Gruppen aufgeteilt
Der richtige Moment war gekommen, als sich die Polizei und die Spezialeinheiten ein Stück zurückgezogen hatten. Die Boko-Haram-Anhänger im Hauptquartier griffen zu ihren Waffen und machten einen Ausfall. Anschließend teilten sie sich in kleinere Gruppen auf. Dujana führte eine davon an. Er und die anderen durchstreiften die Stadt auf der Suche nach Militär- und Polizeieinheiten, bereit, sie zu töten. Vier Tage lang wüteten Boko-Haram-Anhänger in den Straßen von Maiduguri. Dabei wurden nicht nur Polizisten und Soldaten ihre Opfer, sondern auch Dutzende Zivilisten, denen sie wie Vieh die Kehlen durchschnitten.
Nachdem die Regierung die Stadt wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatte, nahm die Armee Mohammed Yusuf fest. Verhört wurde er in Anwesenheit einiger Journalisten, die die Szene sogar mit ihren Smartphones filmen durften. Dann übergaben die Soldaten ihn der Polizei. Wenige Minuten später war er tot – erschossen bei einem Fluchtversuch, wie es hieß. Natürlich glaubte das niemand. Der von Kugeln durchsiebte Leichnam wurde den Journalisten gezeigt. Das war der Beginn einer Welle der Gewalt, die inzwischen Tausende von Opfern gefordert und mindestens 1,5 Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat.

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Sieben Jahre nach Yusufs Tod dauert der Krieg zwischen Boko Haram und dem Staat Nigeria immer noch an. Lange Zeit sah die nigerianische Armee der Ausbreitung Boko Harams fast tatenlos zu. Die Terrorgruppe ist inzwischen in Konvois gestohlener Pick-ups unterwegs, nicht mehr mit Motorrädern. In großen Kampfverbänden greifen sie kleinere und größere Städte an und folgen dabei immer der gleichen Taktik. Sie besetzen eine Moschee und verkünden, alle jungen Männer hätten die Wahl, sich ihnen anzuschließen oder zu sterben. Und die Terroristen meinen, was sie sagen: Im Februar 2014 wurden 59 Jungen vor dem Schlafsaal ihrer Schule ermordet und dann verbrannt. Oder sie entführen Menschen wie die 200 Schülerinnen aus dem Ort Chibok und verkaufen sie als Sklavinnen. Auch eine globale Protestwelle und Gegenaktionen der Regierungstruppen blieben ohne Erfolg. Von den Schülerinnen ist bis heute nur sehr wenigen die Flucht aus der Gefangenschaft gelungen.
Vor der Präsidentschaftswahl im Mai 2015 kontrollierte die Sekte etwa 70 Prozent des Bundesstaats Borno, die Regierung war bis dahin außerstande gewesen, sie aufzuhalten. Der neu gewählte Präsident Muhammadu Buhari ersetzte dann eine ganze Reihe von Generälen, und im August 2015 gelang es der Armee schließlich, Boko Haram in eher abgelegene Regionen an der Grenze zu Kamerun und Tschad zurückzudrängen. Doch ein Ende des Kriegs bedeutet das noch lange nicht. Vor einigen Wochen sprengte sich ein Selbstmordattentäter im Flüchtlingscamp für Frauen in Dikwa, im Nordosten des Landes, in die Luft. 58 Menschen starben, 80 weitere wurden verletzt. Immer wieder kommt es zu kleinen Gefechten, aber auch zu Massakern, obwohl Präsident Buhari bereits im Dezember verkündete, die Kämpfe seien „so gut wie vorbei“.
Mohammed Yusufs Boko Haram kam weder aus dem Nichts noch fing die Sekte erst an zu wachsen, als sie sich offen gegen den Staat erhoben hatte. Ihr Aufstieg begann viel früher, und er war viel breiter angelegt, als man von einer islamistischen Terrorgruppe erwarten würde. Sie gewann ihre Anhänger in allen Gesellschaftsschichten, von Straßenkindern und -händlern über unzufriedene Studenten bis zu wohlhabenden Geschäftsleuten. Viele ihrer Mitglieder kamen von der Universität Maiduguri, wo die Sprösslinge der Oberschicht studierten und keine Hemmungen hatten, ihren Reichtum offen zur Schau zu stellen. Zum „King of Campus“ wurde beispielsweise ernannt, wer die aufwendigsten Partys schmiss. Schon seit dem Ölboom in den 70er Jahren erfreute sich das Naira-Ritual großer Beliebtheit: Als Zeichen der Anerkennung – für einen Musiker, eine Tänzerin oder ein hübsches Mädchen – warfen die jungen Schnösel Unmengen von Geld in die Höhe, das die derart Geehrten dann vom Boden aufsammeln durften.

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Für manche Studenten war diese Fetischisierung des Mammons nichts anderes als ein Symbol für die Unmoral und den Niedergang des nigerianischen Staats. Empörte Studenten und Studienabbrecher wandten sich den Salafisten zu, und nicht wenige stammten aus der Oberschicht – unter anderem ein Neffe des Gouverneurs von Yobe, der Sohn eines Ministers aus Borno und fünf Söhne eines bekannten Unternehmers, der mit Staatsaufträgen reich geworden war. Die Salafisten predigten, dass die Missstände in einer spirituellen Verderbtheit wurzelten, und viele ihrer neuen Gefolgsleute verbrannten zur Feier ihres Beitritts ihre Universitätszeugnisse. Vor allem ein Mann erkannte das Potenzial dieser jungen Eiferer, die mit einem goldenen Löffel im Mund geboren waren: Mohammed Yusuf.
Es heißt, er sei anfangs eines der vielen tausend Almajiri-Kinder gewesen, Koranschüler, die sich ihren Lebensunterhalt zusammenbetteln müssen. Ab Mitte der 90er Jahre reiste Yusuf dann im Nordosten herum, predigte in Moscheen, knüpfte Kontakte und sammelte eine Schar von Jüngern um sich. Er hielt Reden über den ungläubigen Staat und debattierte in lokalen Fernseh- und Radioprogrammen mit Islamgelehrten. Anfang der Nullerjahre leitete er die salafistische Jugendgruppe an der vielbesuchten Al-Hadschi-Muhammadu-Ndimi-Moschee in Maiduguri.
Muslime, die sich an irgendeiner Form von demokratischen Systemen beteiligten, seien vom Glauben abgefallen und sollten von den Rechtgläubigen getötet werden, erklärte Yusuf seinen Anhängern. Der Ursprung der Verderbtheit sei das Bildungssystem, das dem Land während und nach der Kolonialherrschaft vom christlichen Großbritannien aufgezwungen worden sei. Seine öffentlichen Predigten hielt Yusuf an normalen Markttagen, nicht freitags – ein Bruch mit der Tradition, der die islamische Geistlichkeit erzürnte. Aber der Zulauf war enorm.
Über Nacht wie verwandelt
In den Jahren vor dem Aufruhr von 2009 waren viele Beobachter bereits erschrocken, wie weit Yusufs Einfluss reichte. Der Anthropologe Gerhard Müller-Kosack etwa forschte jahrelang in einem Dorf in den Mandara-Bergen, nahe der Grenze zu Kamerun. Er erzählt, dieses Dorf habe sich „geradezu über Nacht“ verwandelt. Bei seinem letzten Besuch 2008 war er vor allem von dem veränderten Auftreten der Frauen überrascht: „Plötzlich waren sie voll verschleiert. Vor allem die Frauen waren von dem radikalen Wandel betroffen.“ Das Ehepaar Müller-Kosack hatte in dem Dorf eine Schule gegründet und bei Freunden und Kollegen Spenden gesammelt, um Lehrbücher zu kaufen. Nun war die Schule geschlossen. „Die Frauen hatten all die Bücher vor dem Gebäude auf einen Haufen geworfen und verbrannt.“
Von Anfang an bereitete Mohammed Yusuf seine Anhänger auf den Kampf vor. Schon unter seinen frühen Unterstützern waren viele, die gewaltsam gegen den Staat, gegen das muslimische Establishment und gegen alle ihrer Ansicht nach Ungläubigen vorgehen wollten. Sie bildeten eine Art Gegenelite, vereint im Hass auf die weltliche Regierung und im Glauben, aus Nigeria durch gnadenloses Blutvergießen ein Scharia-Wunderland machen zu können.
Einen ersten Versuch, auf nigerianischem Territorium einen islamischen Staat zu gründen, gab es bereits 2003. Verärgert von dem bedächtigen Tempo, mit dem Yusuf seine Pläne vorantrieb, führte ein Mann namens Mohammed Ali eine Gruppe von 200 Männern und Frauen in die Wildnis, um dort eine neue Gesellschaftsordnung zu gründen. Von einem Gebiet namens Kanamma aus, unweit des ausgetrockneten Flussbetts, das im Norden des Bundesstaats Yobe Nigeria und Niger trennt, wollten sie einen von der reinen islamischen Lehre durchdrungenen neuen Staat schaffen.
Schnell gerieten die großstadtmüden Bilderstürmer in Streit mit den Menschen, die bereits in Kanamma lebten, aber genau darauf hatten sie es angelegt. Sie verschanzten sich in einem Gehölz an einer Wasserstelle und starteten von dort aus ihre Überfälle auf die Polizeiposten, um ihr Waffenarsenal zu vergrößern. Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Die Armee überrannte das Camp und erschoss die meisten Anhänger Alis. Das Gefecht machte sogar international Schlagzeilen, denn sie hatten sich „nigerianische Taliban“ genannt. Allerding hatte die Gruppe sehr wahrscheinlich keine Verbindungen nach Afghanistan.
Yusuf hatte sich am Aufstand in Kanamma nicht beteiligt. Als die Rebellion zerschlagen war, ging er dennoch ins Exil nach Saudi-Arabien, um sich einer möglichen Verfolgung zu entziehen – und um seine Kontakte zu salafistischen Predigern zu vertiefen. Schon nach einem Jahr war er zurück in Maiduguri. Dort gründete er die Ibn-Taymiyyah-Moschee im Bahnhofsviertel, auf einem Gelände, das er mit dem Geld seines Schwiegervaters gekauft hatte. Dieses Hauptquartier im Herzen der Metropole wurde zum Dreh- und Angelpunkt für die Neuauflage von Boko Haram.
In den Jahren zuvor war die Einwohnerzahl von Maiduguri stark angestiegen. Fortschreitende Versteppung hatte im Norden Bornos vielerorts die Landwirtschaft zerstört und trieb die Bevölkerung in die Stadt. „Aber dort merken Neuankömmlinge schnell, dass sie keine Chance haben, sich eine Existenz aufzubauen, und so wurden sie zur leichten Beute für militante Gruppen“, sagt Mohammed Kabir Isa, Dozent an der Ahmadu Bello University, Nigerias zweitgrößter Hochschule.
Ende 2008 funktionierte Boko Haram schon wie ein Staat im Staate. Die Sekte verfügte über ihre eigenen Institutionen, darunter einen Schura-Rat, der rechtliche und politische Entscheidungen traf, und eine Religionspolizei. Auch Ansätze eines Wohlfahrtssystems waren vorhanden, es gab Minidarlehen für Mitglieder, die eigene Unternehmen gründen wollten. Viele verwendeten dieses Geld, um sich ein Moped zu kaufen und Achaba-Fahrer zu werden. Auch Hochzeiten für ihre Anhänger richtete die Gruppe aus; viele der Armen hätten sich eine Heirat sonst nicht leisten können. Mohammed Yusuf und seine Gefolgsleute setzten sich nicht als Rebellen in Szene, sondern mischten sich unter die Bevölkerung. Der Anführer selbst verkehrte in allen Gesellschaftsschichten Maiduguris. Seit jeher war die Stadt wegen ihrer Nähe zu Kamerun, Tschad und Niger ein Knotenpunkt für legale wie für illegale Geschäfte gewesen. Wer mit Dünger oder Treibstoffen spekulierte, konnte ein Vermögen machen, und manch einer, der auf diese Weise reich geworden war, wandte sich Boko Haram zu, um auf diese Weise eine Art Abbitte zu leisten.
Dass er eine Moschee eröffnen durfte, verdankte Yusuf dem Vizegouverneur von Borno und einem Deal, den ein salafistischer Scheich in Saudi-Arabien für ihn eingefädelt hatte. Yusuf hatte versichert, dass er mit den Islamisten in Kanamma nichts zu tun habe und dass er nie wieder den Dschihad predigen würde. An dieses Versprechen hielt er sich zwar nicht, und er wurde deshalb auch mehrmals verhaftet – allerdings auch stets schnell wieder freigelassen. Zumindest in dieser frühen Phase wurde der Sektenführer vermutlich auch von Gouverneur der Provinz, Ali Modu Sheriff, protegiert, es gibt sogar Hinweise darauf, dass sie miteinander verbündet waren, trotz der zur Schau gestellten Verachtung für die Politik. Von der Allianz profitierten beide: Yusuf wollte eine strengere Auslegung der Scharia in Borno und Sheriff wiedergewählt werden. Heute streitet er jegliche Kungelei mit der Sekte ab.
In der Öffentlichkeit beschimpfte Yusuf den Gouverneur als Ungläubigen und forderte seinen Tod. Zugleich hofierte dieser die Salafisten und schanzte einem besonders fanatischen Boko-Haram-Mann namens Buji Foi sogar einen lukrativen Posten im Ministerium für religiöse Angelegenheiten zu. Noch unmittelbar vor dem Zwischenfall mit dem Beerdigungskonvoi hat Yusuf offenbar geglaubt, Sherif werde am Ende auf die Linie von Boko Haram einschwenken und ihn unterstützen. Doch der Gouverneur entschied sich offenbar anders und unternahm nichts, als Yusuf festgenommen und sofort hingerichtet wurde. Wem damit gedient war, den Sektenführer so eilig zu beseitigen, ist bis heute eine ungeklärte Frage.
Nach Yusufs Tod tauchten seine Stellvertreter unter, doch an seinen Zielen hielten sie fest. Zunächst galt es, Rache zu nehmen. Unter dem neuen Kommandanten Abubakar Shekau nahm sich Boko Haram zunächst die Polizei vor. Kontrollpunkte wurden attackiert und hochrangige Offiziere in ihren Häusern ermordet. Dann trafen die Anschläge auch Lokalpolitiker und Stammesfürsten. Letztgenannte hatten nach dem Aufstand von 2009 den Behörden geholfen, Boko-Haram-Kämpfer ausfindig zu machen, die dann ohne Prozess hingerichtet wurden und deren Besitz die Informanten zur Belohnung erhielten. Nun schlug die Sekte gnadenlos zurück und konnte sich dabei auf bedingungslos loyale Kämpfer verlassen.
Ein Beispiel: An einem frühen Morgen im Juni 2011 steuerte der 35-jährige Berufskraftfahrer Mohammed Manga seinen Wagen von einem Camp im Umland aus nach Maiduguri. Er fuhr zum Polizeihauptquartier, raste an den Wachtposten vorbei bis zum Portal und in die Menschenmenge hinein, die dort versammelt war. Im Auto hatte er eine Bombe, gebaut entweder vom nordafrikanischen Al-Qaida-Ableger oder von der Al-Shabaab-Miliz in Somalia. Die Explosion riss fünf Menschen in den Tod und mehr als 100 wurden verletzt.
Ein Boko-Haram-Sprecher erklärte anschließend, Manga habe seiner Witwe und seinen fünf Kindern ein ansehnliches Erbe hinterlassen. Ein Foto zeigte den Attentäter, wie er lächelnd und mit umgehängter Kalaschnikow in sein Auto stieg. Nur wenige Wochen später, im August 2011, zündete Boko Haram eine weitere Autobombe, diesmal in der Zufahrt des UN-Gebäudes in der Hauptstadt Abuja. 21 Menschen wurden getötet und Dutzende verletzt. Es folgten Bombenanschläge in den Städten Maiduguri, Jos, Kaduna und abermals in Abuja sowie verheerende Attacken gegen die Sicherheitskräfte in Kano. Bei Angriffen auf Kirchen, Universitäten, Schulen, Bushaltestellen und Märkte wurden tausende Zivilisten ermordet.
Alte Rechnungen
Aus den versprengten Resten einer radikalen Sekte war eine skrupellose Terrorgruppe geworden. Je mehr Macht sie gewann – bald unterwarf sie ganze Städte –, desto zahlreicher wurde ihr Gefolge. Räuberbanden schlossen sich ihr an, um das Chaos, das sie hinterließ, auszunutzen. Anderen ging es darum, alte Rechnungen zu begleichen. Und wieder andere wurden auf der Straße angesprochen und zum Mitmachen mehr oder weniger gezwungen.
So auch Zakariyya, der junge Verhaftete, mit dem ich im Büro der Spezialeinheit in Maiduguri sprach. Aufgewachsen war er bei seiner Großmutter, seinen Vater hatte er nie kennengelernt und die Mutter lange Zeit nicht gesehen. Sie hatte nach der Scheidung ein zweites Mal geheiratet, und ihr neuer Mann wollte mit dem Kind aus erster Ehe nichts zu tun haben. Zwar sei seine Mutter irgendwann zurückgekommen, berichtete Zakariyya, doch bald sei ihr das Geld ausgegangen, und da sie auch noch jüngere Kinder zu versorgen hatte, konnte die Familie ihm den Schulbesuch nicht länger bezahlen.
Er hatte keinen Abschluss und schlug sich als Straßenhändler durch. Mit dem Verkauf von Schuhen und Ladekabeln brachte er zwischen 2.000 und 3.000 Naira pro Woche nach Hause, also nicht mehr als 15 Euro. Inzwischen sei er 22 Jahre alt, sagt er, er habe zwei Frauen und zwei Kinder und größte Mühe, sie zu ernähren – da fragten ihn die Männer von Boko Haram, ob er für sie Waffen schmuggeln wolle. „Sie versprachen mir 200.000 Naira, aber für die erste Tour zahlten sie mir nur 70.000 und für die zweite 40.000. Ich war nie ein Anhänger ihrer Ideologie. Sie drohten mir und sagten, jetzt, da du weißt, wer wir sind, tust du, was wir sagen. Ich hatte große Angst.“ Nach seiner Festnahme packte er aus. Über seine Zukunft macht er sich keine Illusionen: „Wenn sie mich kriegen, bin ich ein toter Mann.“
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