Selbst Kabul kann fallen

Afghanistan Die mühsam aufrechterhaltene staatliche Ordnung steht vor dem Zusammenbruch
Ausgabe 27/2021

Ein militärischer Rückzug vom Hindukusch ist eine heikle Angelegenheit. Das erfuhr ein britisches Heer bereits 1842, die Rote Armee Anfang 1989 (siehe hier). Am Khyber-Pass, der wichtigsten Gebirgstrasse zwischen Afghanistan und Pakistan, finden sich Denkmäler und Erinnerungstafeln, die abziehenden oder besiegten fremden Truppen gelten. Der Ausstieg der USA und ihrer Alliierten in diesem Jahr ist weniger gefährlich, immerhin können sich diese Verbände zurückziehen, ohne beschossen zu werden. Die Taliban sind darauf bedacht, jede Konfrontation zu vermeiden.

Die meisten Amerikaner begrüßen das beschleunigte Ende eines unpopulären Krieges, für viele Menschen in Afghanistan hingegen, deren Zukunftshoffnung auf westliche Unterstützung im Kampf gegen die Taliban angewiesen ist, kündigt sich eine Katastrophe an. Es erweist sich als schwerer Fehler, an das Nation-Building-Versprechen des früheren US-Präsidenten George W. Bush und anderer geglaubt zu haben. Derzeit rücken die Taliban von Provinz zu Provinz vor, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Es gibt kein Friedensabkommen, keine Machtteilung, keine innerafghanische Waffenruhe – es schwelt die Angst, dass ein Bürgerkrieg unausweichlich sein könnte, falls die Nationalarmee nicht kapituliert und sich auflöst. Trotzdem verlassen die Amerikaner das Land.

Provinzen überrannt

Zwei Fragen sind unvermeidlich: Welches Ergebnis von anhaltender Bedeutung hat die ausländische Präsenz bewirkt, nachdem so viel Blut vergossen und so viel Geld ausgegeben wurde? Und was – bitte sehr – passiert als Nächstes? Als Präsident Joe Biden die Deadline für den Rückzug auf den 11. September festsetzte, genau 20 Jahre nach den Al-Quaida-Angriffen auf die Twin Towers in New York, mit denen Bush seine Intervention in Afghanistan begründet hatte, gilt die Devise des Pentagon: Rückzug so schnell wie möglich. Es ist davon auszugehen, dass fast alle fremden Truppen zusammen mit etwa 17.000 zumeist amerikanischen privaten Einsatzkräften bis Mitte Juli das Land verlassen haben.

Die Aussichten für die große Mehrheit der Afghanen, die nicht zu extremen religiösen Ansichten neigen, sind schlichtweg erschreckend. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der zivilen Opfer von Januar bis März um fast 30 Prozent. Im Mai gab es laut Regierungsangaben 4.375 „terrorismusbedingte Todesfälle“, verglichen mit 1.645 im April. Unter den zivilen Opfern waren 50 Schulmädchen aus dem schiitischen Hazara-Viertel in Kabul, die gezielt von sunnitischen Kämpfern angegriffen wurden.

Unterdessen kämpft die vom Westen ausgebildete afghanische Armee mit dem Rücken zur Wand. Aus Mangel an Munition und Nachschub mussten sich allein im Juni 26 Stützpunkte den Aufständischen ergeben. Kürzlich wurde ein Elitekommando in der Provinz Faryab vernichtet. Noch hält die Nationalarmee die Lufthoheit. Doch wie viel wird davon übrigbleiben, wenn die logistische Hilfe der Amerikaner entfällt? Provinzen wie Urusgan und Provinzhauptstädte wie Kandahar drohen überrannt zu werden. Selbst Kabul ist nach düsteren Bewertungen der US-Geheimdienste nicht mehr lange sicher. Vorstellungen, nach denen die USA künftig Kampfjets und bewaffnete Drohnen aus Nachbarstaaten schicken, um afghanischen Bodentruppen beizustehen, wurden mittlerweile verworfen. Selbst wenn Kabul zu fallen drohe, so jüngst General Frank McKenzie, Kommandeur des US-Zentralkommandos, würden nach dem US-Rückzug Luftangriffe darauf beschränkt, Terrorkomplotte zu bekämpfen, „die das Gebiet der USA bedrohen“. Die ostentative Zurückhaltung spiegelt das Unvermögen des Pentagons, alternative Militärbasen zu finden. Pakistan, das seit jeher die Taliban unterstützt hat und seit 2011 mit den USA zerstritten ist, will die Amerikaner nicht zurück. Kirgisien und Usbekistan, die früher US-Truppen Standorte boten, werden das kaum wieder tun. Warum sollten ausgerechnet sie sich exponieren? Und der Iran steht außer Frage.

Wie es keine glaubwürdige militärische Agenda für die Zeit nach dem Abzug gibt, fehlt ein belastbarer politischer Konsens im Lande selbst. Die Gespräche in Doha zwischen den Taliban und der Regierung von Präsident Ashraf Ghani haben wenig gebracht. Über Bürgerrechte und die Bildung für Mädchen gab es kein Einvernehmen. Auch die Forderung der USA, dass die Taliban al-Qaida und dem Afghanistan-Ableger des Islamischen Staates (IS) stets Paroli bieten, wurde abgewiesen. Was wollen die Taliban? Den Sieg auf ganzer Linie?

Die Befürchtung der CIA, dass Afghanistan bald wieder ein regionales Terror-Zentrum sein könnte, wird von China und Indien geteilt. Was auch damit zusammenhängt, dass eine größere Zersplitterung droht. Ethnische Gruppen, die im Bürgerkrieg der 1990er-Jahre die Nordallianz bildeten, lehnen eine erneute Machtübernahme der Taliban ab. Laut Ahmad Massoud, Sohn des Löwen von Panjshir, Ahmad Shah Massoud, der zwei Tage vor den Anschlägen vom 11. September 2001 von den Taliban bei einem Attentat getötet wurde, sind seine Mudjaheddin bereit zu kämpfen. Sollte es soweit kommen, könnte die Region über Afghanistan hinaus destabilisiert werden – es wäre dann neben Corona und einer Dürre zusätzlich mit Hunger und Vertreibung zu rechnen. Dies würde die Zahl der Flüchtlinge in die Höhe treiben und jede Hoffnung auf eine Erholung untergraben, eine durchaus reale Aussicht.

Westliche Politiker wollen nicht sehen, geschweige denn diskutieren, was in nächster Zeit passieren kann. Die NATO erklärte vergangene Woche, afghanische Sicherheitskräfte fortgesetzt ausbilden und finanzieren zu wollen. Es habe jetzt ein „neues Kapitel“ begonnen (was immer das heißen mag), man verspreche, „weiter an der Seite dieses Landes zu stehen“. Zu Afghanistan künftig auf Abstand gehen – das trifft es wohl besser.

Das afghanische Volk ist von Desastern verfolgt. So haben die USA und ihre Partner kaum belastbare Fortschritte erreicht, selbst dieses magere Vermächtnis ist jetzt bedroht. Robert Gates, US-Verteidigungsminister unter den Präsidenten Bush und Obama, formuliert schonungslos: „Die Lage wird sich zweifellos verschlimmern, wenn die US-Truppen erst einmal weg sind. Wir können uns nicht einfach abwenden.“ Aber mit diesem Appell steht er in Washington ziemlich allein da.

Inzwischen schreibe ich seit mehr als 30 Jahren über Afghanistan. Ich habe aus dem Land berichtet, persönlich die Armut und das Leid dort gesehen. Eine Antwort, wie dem zu begegnen ist, habe ich nicht. Gibt es überhaupt jemanden, der sie hat? In diesem Augenblick ohne Rücksicht auf die Folgen nach Hause zu eilen, das ist sie ganz sicher nicht.

Simon Tisdall ist Kolumnist des Guardian

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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