Man könnte sie Romnesie nennen – die Fähigkeit der sehr Reichen zu vergessen, unter welchen Umständen sie ihr Geld gemacht haben. Ihre Ausbildung, ihr Erbe, ihre familiären Verbindungen, Kontakte, die Angestellten, an deren Arbeit sie sich bereichert haben, deren Ausbildung, die Infrastruktur und Sicherheit, die Verträge, Subventionen und Staatshilfen, für die die Regierung gesorgt hat.
Jedes politische System braucht einen Mythos, der es rechtfertigt. Die Sowjetunion hatte Alexei Stakhanow, jenen Minenarbeiter, der angeblich hundert Tonnen Kohle in sechs Tagen förderte. Die USA hatten Richard Hunter, den Helden der Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Sagen von Horation Alger. Beide Geschichten haben einen wahren Kern. Stakhanow schuftete für eine Sache, an die er glaubte. Der erstaunliche Ertrag seiner Arbeit dürfte aber wohl übertrieben worden sein. Und als Alger seine Romane schrieb, waren einige arme Menschen in den USA sehr reich geworden. Doch je weiter ein System sich von seinen Idealen entfernt (Produktivität im Falle der Sowjetunion, Möglichkeiten im Falle der USA), desto inbrünstiger trägt es seine Rechtfertigungsmythen vor sich her.
Während die entwickelten Länder in extremer Ungleichheit und sozialer Immobilität versinken, wird der Mythos des Selfmade Man immer mächtiger. Dabei wird er benutzt, um das genaue Gegenteil zu rechtfertigen: eine unangreifbare Klasse von Rentenökonomen, die mit ihrem geerbten Geld die Beschlagnahmung des Vermögens anderer finanziert.
Von Erben und Rentenökonomen
Die Zeitgenossin mit der reinsten Romnesia ist die australische Bergbau-Magnatin Gina Rinehart. „Es gibt kein Monopol auf's Millionär-Werden“, behauptet sie. „Wer neidisch auf Leute mit mehr Geld ist, sollte nicht nur rumsitzen und jammern, sondern etwas tun, um selbst mehr Geld zu verdienen, weniger Zeit mir Trinken oder Rauchen oder anderen Leuten verbringen und mehr arbeiten ... Erinnern Sie sich unserer Wurzeln und sorgen Sie für ihren eigenen Erfolg.“
Sich ihrer Wurzeln erinnern – genau das macht Rinehart nicht. Sie vergaß hinzuzufügen, dass es, wenn man Millionär – oder in ihrem Fall Milliardärin – werden will, hilft, eine Eisenerzmine und ein Vermögen vom Vater zu erben und von einem spektakulären Rohstoffboom zu profitieren. Hätte sie ihr Leben damit verbracht, im Bett zu liegen und Dartpfeile gegen die Wand zu werfen, wäre sie immer noch wahnsinnig reich.
Die Listen der Reichen sind voll mit Leuten, die ihr Geld entweder geerbt oder es durch Rentenökonomie gemacht haben, also mit anderen Mitteln als Innovation und produktiver Leistung. Diese Listen sind ein Katalog der Spekulanten, Immobilienbarone, Grafen, IT-Monopolisten, Kredithaie, Bankchefs, Bergbaumagnaten, Oligarchen und Geschäftsführer, deren Gehalt in keinem Verhältnis zum Wert steht, den sie schaffen – Plünderer, kurz gesagt.
Die reichsten Bergbaubarone sind diejenigen, die von Regierungen natürliche Ressourcen zum Schleuderpreis verkauft bekommen haben. Russische, mexikanische und britische Oligarchen haben über Privatisierungen öffentliche Güter unter Wert gekauft und betreiben eine Mauthäuschen-Ökonomie. Banker bedienen sich unverständlicher Instrumente um ihre Klienten und den Steuerzahler auszunehmen.
Kaum ein republikanischer Politiker lässt in seinen Reden den Richard Hunter-Mythos aus und so gut wie jede dieser Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten stellt sich als Blödsinn heraus. „Alles, was Ann und ich haben“, behauptet Romney, „haben wir auf die altmodische Weise verdient.“ So altmodisch wie ein Pirat vielleicht. Zwei spektakuläre Enthüllungen im Rolling Stone Magazin dokumentieren die Übernahmen, die lebensfähige Unternehmen, Werte und Jobs zerstört haben und die kostspielige staatliche Rettung, die Romney politisch die Haut gerettet hat.
Ökonomischer Parasitismus
Romney personifiziert den ökonomischen Parasitismus. Die Finanzbranche ist zu einer Maschine geworden, die Arbeitsplätze und Leben zerstört und andere arm macht, um sich selbst zu bereichern. Und je fester sie die Politik im Griff hat, desto vehementer müssen ihre Repräsentanten vom Gegenteil reden: von lebensbejahenden Unternehmen, Innovation und Investment, von mutigen Unternehmern, die nur mit ihrer eigenen Hände Arbeit und Köpfchen ihr Glück gemacht haben.
Diese Erzählung hat offensichtlich eine Kehrseite. „Jeder kann es – so wie ich – ohne Hilfe“, heißt übersetzt: „Ich weigere mich, für andere Leute Steuern zu zahlen – die können sich selber helfen.“ Ob sie nun eine Eisenerzmine vom Papa geerbt haben oder nicht. In dem Artikel, in dem sie die Armen aufrief, es ihr gleichzutun, schlug Rinehart auch eine Kürzung des Mindestlohns vor. Wer braucht schon gerechte Löhne, wenn jeder Millionär werden kann?
Im Jahr 2010 teilte das reichste Prozent der US-Haushalte erstaunliche 93 Prozent der Einkommenszuwächse unter sich auf. Im selben Jahr betrug das Gehalt eines Vorstandsvorsitzenden eines amerikanischen Unternehmens im Durchschnitt 243 Mal mehr als das mittlere Einkommen eines Arbeiters (1965 lag das Verhältnis noch bei 1:24). Zwischen 1970 und 2012 ist der Gini-Koeffizient, anhand dessen Ungleichheit bemessen wird, in den USA von 0,35 auf 0,44 gestiegen. Ein verblüffender Anstieg.
In Sachen soziale Mobilität ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Einkommen eines Mannes dem seines Vaters ähnelt, in Großbritannien am höchsten, gefolgt von Italien und den USA. Wenn man in diesen Ländern arm oder reich geboren wurde, bleibt man es wahrscheinlich auch. Es ist kein Zufall, dass sie alle sich gern als Länder der beispiellosen Möglichkeiten darstellen.
Gleiche Möglichkeiten, sich selbst erfinden, heroischer Individualismus: Das sind die Mythen, die der Räuberkapitalismus für sein politisches Überleben braucht. Romnesia erlaubt den Ultrareichen, den Beitrag anderer zu ihrem Reichtum zu leugnen und denjenigen, die weniger Glück haben als sie selbst, Hilfe zu verwehren. Vor einem Jahrhundert strebten die Entrepreneure danach, sich als Parasiten auszugeben und übernahmen Stil und Gehabe der adeligen Rentiers. Heute behaupten die Parasiten Unternehmer zu sein.
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