Selten die Glocken erklingen

Krise Geburtenrückgang, Abwanderung: Die Italiener werden immer weniger. Kleine Orte wie Acquaviva leeren sich unaufhaltsam
Ausgabe 40/2019

Die Geburt eines Kindes ist für die Kleinstadt Acquaviva Platani ein derart seltenes Ereignis, dass zur Feier des Ereignisses die Kirchenglocken läuten. Mit gerade einmal 800 Einwohnern gehört Acquaviva zu Tausenden von italienischen Städten, die mit den kommenden Jahrzehnten vom Aussterben bedroht sind. Das Land erlebt einen bislang so noch nicht da gewesenen Bevölkerungsschwund. Zum ersten Mal seit 90 Jahren ist die Zahl der Staatsbürger laut Nationaler Statistikbehörde (ISTAT) auf unter 60 Millionen gesunken. Von 2014 bis Ende 2018 war ein Rückgang von gut 680.000 Personen zu verzeichnen. Zwei Faktoren sind geltend zu machen: stetig fallende Geburtenraten und die Abwanderung jüngerer Italiener in andere EU-Länder auf der Suche nach Arbeit, was bereits Ende der 1960er Jahre begann. ISTAT zufolge haben allein im Vorjahr fast 157.000 Menschen das Land verlassen. Nach UN-Berichten ist Italien das einzige Land mit einer großen Volkswirtschaft, dessen Bevölkerung in den kommenden fünf Jahren rapide schrumpfen wird. Es rangiert mit einem Verhältnis von 169 Menschen, die über 65 Jahre alt sind, auf 100 junge Leute unter 30 nach Japan auf Platz zwei, was den Anteil älterer Bürger angeht. In Acquaviva wiederum sind so gut wie alle Bewohner über 60, und die Sterblichkeit liegt zwischen 20 und 30 Personen pro Jahr. Die Glocken, mit denen die Geburt eines Kindes verkündet wird, dröhnen im gleichen Zeitraum hingegen lediglich zwei- oder dreimal.

„Was will man machen? So ist das Leben!“, meint Giuseppe Li Pani, der gerade mit seinen Freunden in der Bar an der Piazza Plado Mosca unter der herbstlichen Nachmittagssonne Karten spielt. „Die Jungen gehen weg und die, die bleiben, entscheiden sich in der Regel, keine Kinder zu bekommen. Wie sollte man ihnen das übel nehmen? An diesem Ort gibt es so gut wie keine Arbeit. Wie soll man da ein Kind versorgen?“, fragt der 81-Jährige. Ökonomen warnen, dass Italiens weiter abnehmende Einwohnerzahl einen Teufelskreis heraufbeschwört: Eine latente Wirtschaftskrise beschleunige den Bevölkerungsrückgang, was wiederum zu weiteren wirtschaftlichen Konflikten führt.

Antonio ging nach Sheffield

Unter diesen Umständen ist die Kommune Acquaviva in eine Sackgasse geraten. In den 1950er Jahren zählte die Kleinstadt noch fast 4.000 Einwohner. Einige arbeiteten in der Landwirtschaft, der Rest verdingte sich in den Salzminen der Provinz Caltanissetta. Zu ihnen zählte auch Giuseppe Li Pani, der schon mit 18 Jahren Material und Abraum auf Traktoren aus dem Bergwerk fuhr. „Das war harte Arbeit“, erinnert er sich. „Wir fuhren 150 Meter tief ein, und als wir zurückkamen, waren wir kaputt, aber hatten oft ein Lächeln im Gesicht, weil man gut bezahlt wurde und es genug Arbeit gab, die nicht auszugehen versprach. Innerhalb weniger Jahre hat sich das stark zu unseren Ungunsten verändert.“ Wie in anderen ländlichen Gegenden Siziliens begannen die Rückschläge mit der Industrialisierung des Agrarsektors. Die Salzminen wurden geschlossen und dies durch die Produktion von Meeressalz kompensiert, das viel leichter und kostengünstiger zu gewinnen war. Wenig überraschend begannen die Menschen auszuwandern, um in Großbritannien, in Belgien, Frankreich oder Deutschland in einer Fabrik zu arbeiten. Acquaviva begann sich langsam, aber unaufhörlich zu leeren. „Ich bin nach Sheffield gegangen“, erzählt der 81-jährige Antonio Piletto, der in den 1960ern als Kellner auf dem Schiff Queen Mother zum Servicepersonal zählte. „Im Spätsommer kam ich stets nach Acquaviva zurück, und es war traurig zu sehen, wie mein Dorf jedes Jahr leerer wurde und den Glauben an sich selbst verlor.“

„Die meisten hier leben von ihren Renten. Weil die Grundschule nur noch zwei Klassen hat, ist das Altersheim einer der wenigen Arbeitgeber für jüngere Leute im Ort. Da unterscheidet sich das Schicksal Acquavivas nicht von dem anderer Städte Italiens“, kommentiert Bürgermeister Salvatore Caruso die Lage seiner Gemeinde. Im nahe gelegenen Campofranco, einem Hügelort an der Straße von Agrigento nach Palermo, sind auf der Suche nach Arbeit in den vergangenen fünf Jahren über 400 Menschen weggezogen. Derzeit hat diese Kommune noch 2.850 Einwohner. „Wir tun alles, um diesem permanenten Rückgang zu widerstehen“, sagt Rosario Pitanza, Gemeindevorsteher von Campofranco. „Doch was soll man tun, wenn eine Fabrik nach der anderen schließt?“ Um ihre Städte wiederzubeleben, verkaufen einige Bürgermeister verlassene Häuser an jeden, der einziehen will. Besser gesagt: Sie vergeben diese Immobilien für den symbolischen Preis von einem Euro. Andere Kleinstädte wie Sutera haben leer stehende Häuser für Asylbewerber geöffnet, die über das Mittelmeer ins Land kamen. Bis auf ein paar hundert Menschen sind aus Sutera alle weggegangen, um in anderen EU-Staaten Arbeit zu finden. Sie brauchen nicht mehr, was sie zurückließen. Besteht die Chance, Sutera durch Migranten wieder Leben einzuhauchen?

Geflüchtete als Hoffnung

„Sich für Flüchtlinge zu öffnen, kann die einzige Lösung sein, damit vom Aussterben bedrohte Städte überleben“, meint Francesco Giavazzi, Wirtschaftsprofessor an der Bocconi-Universität in Mailand. „Wenn Sie sich die Geschichte der USA und Frankreichs anschauen, werden Sie feststellen: Migration ist eine Lösung, um Bevölkerungsrückgang zu bekämpfen.“ Hoffnung für gefährdete Dörfer ruht auch auf den wenigen jungen Italienern, die noch geblieben sind, wie dem 31-jährigen Vincenzo Li Grigoli, der mit seiner Frau Alessia in Acquaviva eine Bar betreibt.

„Jene Wahrheit, die alle kennen, aber sich nur wenige eingestehen, lautet, dass die Tage von Acquaviva gezählt sind. In 30 Jahren kann hier alles restlos verschwunden sein“, prophezeit der 81-jährige Guiseppe Li Pani und fügt mit Blick auf Vincenzo Li Grigoli hinzu: „Aber in der Zwischenzeit, während unser Aussterben näher rückt, werden im Oktober wieder die Glocken läuten.“

Lorenzo Tondo ist Guardian-Korrespondent

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Lorenzo Tondo | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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