Als in Kenia im Januar die Schulen wieder geöffnet wurden, kehrten Tausende Mädchen nicht ins Klassenzimmer zurück – sie waren während des Corona-Lockdowns, bei dem die Schulen zehn Monate geschlossen waren, schwanger geworden. Mit mehr als 150.000 gibt das „African Institute for Development Policy“ die landesweite Zahl der Schwangerschaften bei Mädchen im Teenager-Alter zwischen Mai und Januar an. In der Hauptstadt Nairobi wurden fast 12.000 solcher Schwangerschaften registriert. Die Beschäftigten des städtischen Gesundheitswesens gehen davon aus, dass die tatsächlichen Fallzahlen höher liegen. Denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass viele schwangere Mädchen erst gar kein Krankenhaus aufsuchen.
Nach den Schulschließungen im März seien viele Eltern nicht in der Lage gewesen, ihren Töchtern sauberes Wasser, Seife und Binden zu finanzieren, berichtet Mercy Chege. Sie ist Programmdirektorin beim Kinderhilfswerk Plan International. Diese Situation mache Teenager zu leichten Opfern für ältere Männer, die über das nötige Geld verfügten. „Es ist eine Schattenpandemie“, sagt Chege. „Ohne Schule hatten die Mädchen viel unbeaufsichtigte Zeit, und die Versuchung, gegen Sex an Binden zu kommen, war groß. Die Regierung verteilt normalerweise Hygieneartikel in den Schulen. Aber sie hat es versäumt, die Mädchen auch zu Hause damit zu versorgen.“
Dadurch seien die Mädchen der „Gnade“ von „Freunden mit finanziellen Mitteln“ überlassen worden. „Manchmal bekamen sie so wenig wie die 15 kenianischen Schilling, die einmal Duschen in einem öffentlichen Bad kostet. Manche Mädchen hatten tagelang keine Möglichkeit, ein Bad zu nehmen, und hätten alles getan, um jemanden zufriedenzustellen, der ihnen eine solchen kleinen Luxus versprach.“
Von der Tante fortgejagt
Chege berichtet auch von Fällen von Kinderpornografie: „Die Täter sagten den Mädchen, sie täten nichts Falsches, weil sie das Gezeigte ja nicht selbst praktizieren würden. Den Mädchen war nicht klar, dass sie sexuell missbraucht wurden.“
Im weitläufigen Stadtteil Dandora am Stadtrand von Nairobi sitzt die 16-jährige Jackie nachdenklich auf einer Bank vor einem provisorischen Lebensmittelladen. Sie sollte eigentlich mit Freundinnen quatschen oder sich darauf vorbereiten, nach fast einem Jahr wieder in die Schule zurückzukehren. Aber das Mädchen ist im sechsten Monat schwanger. Sie ist müde und findet es schwierig, ein langes Gespräch zu führen. Die Sorge, wie es in ihrem Leben weitergeht, ist ihr ins Gesicht geschrieben. Bevor Jackie 2018 nach Nairobi kam, lebte sie mit ihrer Mutter in der Hafenstadt Kisumu am Victoriasee. Ihr Vater starb, als sie klein war. „Meine Tante in Nairobi versprach, mich auf die Schule zu schicken, weil meine Mutter dazu nicht in der Lage war. Aber als ich im Juli schwanger wurde, hat meine Tante mich fortgejagt“, erzählt sie. Schwanger werden war das Letzte, das Jackie wollte, als sie ihren gleichaltrigen Freund in Dandora kennenlernte. „Wir hatten einfach Spaß. Mein Freund schien es gut zu meinen und gab mir 50 Schilling, damit ich mir Damenbinden kaufen konnte.“ Ein Verhütungsmittel benutzte er nicht. „Keiner von uns dachte, dass das, was wir taten, mich schwanger machen würde“, erzählt Jackie und schüttelt den Kopf. „Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles anders machen. Aber jetzt ist es zu spät.“
Als Jackie ihrem Freund von der Schwangerschaft erzählte, schlug er sie und warf ihr Leichtsinn vor. Allein und ohne Arbeit oder eine Familie in der Nähe fürchtet sie sich davor, was sein wird, wenn das Baby da ist. Laut Schätzungen des UN-Bevölkerungsfonds, der in mehr als 150 Ländern Aufklärungs- und Frauengesundheitsprogramme unterstützt, sind nach sechs Monaten anhaltenden globalen Lockdowns „47 Millionen Frauen in Ländern mit niedrigem und mittelhohem Einkommen nicht in der Lage, moderne Verhütungsmittel zu nutzen. Sieben Millionen zusätzliche nicht geplante Schwangerschaften sind zu erwarten.“ In Kenia war die Zahl der Teenager-Schwangerschaften mit 13.000 Mädchen, die jährlich die Schule verließen, weil sie ein Baby bekamen, schon vor der Pandemie hoch.
In Dandora teilt Jackie ihr aus einem Raum bestehendes Wellblech-Zuhause mit Liz, deren Vermieter sie rausgeschmissen hat, nachdem sie drei Monate lang die Miete nicht zahlen konnte. Liz ist 17 Jahre alt. In Kenia gelten alle unter 18 als minderjährig und sollten unter der Obhut eines Elternteils oder Vormunds stehen. Aber Liz muss arbeiten, um für ihr vor Kurzem geborenes Baby zu sorgen. Der Corona-Lockdown kam, als Liz gerade mit Verspätung die erste Klasse der Oberschule besuchen sollte, weil ihr vorher das Geld für die Schulgebühren gefehlt hatte. „Dann schlossen die Schulen und ich lernte diesen Jungen kennen. Ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn liebte. Als er erfahren hat, dass ich schwanger bin, ist er abgehauen“, erzählt Liz. Ihre kleine Tochter nimmt zu wenig zu sich. „Das Baby kriegt praktisch nichts. Ich habe nicht genug gegessen. Es kommt keine Milch.“
Drei Wochen nach der Geburt ging Liz in der Nachbarschaft auf die Suche nach Gelegenheitsarbeiten wie Kleider waschen. „Aber dann begann ich zu bluten, weil die Wunden noch nicht richtig verheilt waren. Außerdem bin ich oft ohnmächtig geworden. Da haben mich die Leute nicht mehr eingestellt.“ Mangelnde Aufklärung über Sexualität und reproduktive Gesundheit unter jungen Menschen machen den Kampf gegen Teenagerschwangerschaften schwer. Laut einem aktuellen Bericht aus Homa Bay im Westen Kenias, wo jedes Jahr ein Drittel aller Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren schwanger wird, ist es Eltern und Teenagern unangenehm, über sexuelle Themen zu sprechen. Junge Väter sagten, sie wüssten wenig über Empfängnis und seien überrascht gewesen, von den Schwangerschaften ihrer Freundinnen zu erfahren.
Spott über „Covid-Babys“
Einer dieser jungen Väter ist der 17-jährige Karis. Als seine Freundin ihm von der Schwangerschaft erzählte, dachte er, es sei ein Witz. „Sie kam und sagte, ihre Periode sei ausgeblieben. Ich fragte sie: ,Was hat das mit mir zu tun?‘ Ich dachte, sie braucht vielleicht Binden. Dann zeigte sie mir den Schwangerschaftstest mit den Streifen, die angeblich bedeuteten, dass sie schwanger war. Ich glaubte ihr erst Monate später.“
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist für viele junge Frauen und Mädchen in Kenia schwierig. Corona hat die Lücken noch vergrößert. Dabei war die Gesundheitsversorgung in Nairobis Slums wie Kibera, Mathare, Mukuru und Kawangware, wo 75 Prozent der Stadtbevölkerung leben, schon in besseren Zeiten unzureichend. Liz muss ihr zehn Wochen altes Baby noch gegen Tetanus, Lungenentzündung und Rotavirus impfen lassen, während Jackie im sechsten Schwangerschaftsmonat noch nicht bei einer Vorsorgeuntersuchung in einer Klinik war. Aber am meisten schreckt die Mädchen der Gedanke, wieder zur Schule zu gehen.
Das Bildungsministerium hat 2019 zwar eine Verordnung erlassen, die es Teenager-Müttern ermöglichen soll, ohne Diskriminierung weiter die Schule zu besuchen. Aber viele haben Angst vor der Verurteilung durch ihre Klassenkamerad*innen oder Lehrer*innen. „Trotz der Rückkehr-Politik kommen die jungen Mütter in der Schule in ein feindlich gesinntes Umfeld. Es wird sich über sie lustig gemacht oder sie werden beleidigt“, berichtet Chege. „Vor Kurzem forderte beispielsweise ein Lehrer eine Klasse auf, sich bei einer Frage zum Thema Sex an eine junge Mutter zu wenden, weil sie ‚eine Expertin auf dem Gebiet‘ sei. Dabei war sie ein Vergewaltigungsopfer. Schon jetzt fürchten sich einige Mädchen davor, aus dem Haus zu gehen, weil die Leute sie als Mütter von ,Covid-Babys‘ bezeichnen.“
Info
Die Namen der Minderjährigen wurden im Artikel geändert
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