Hinter der Ironie verbirgt sich etwas Profunderes. Die höchsten Coronavirus-Todeszahlen werden in zwei Ländern verzeichnet, deren Staatschefs mit dem Versprechen an die Regierung kamen, die ihre Länder wieder „groß“ zu machen – die USA und Großbritannien. Keiner der beiden Staaten kann sich damit herausreden, überrascht worden zu sein: Beide hatten einen Zeitvorsprung, detaillierte wissenschaftliche Warnungen und abschreckende Beispiele aus China und Italien.
Die Ähnlichkeiten zwischen den Staaten und dem Königreich sind frappierend – die Schlussfolgerungen unvermeidlich. In Großbritannien hatte man sich der Illusion hingegeben, dass der possenreißende rechte Staatschef Boris Johnson zwar seine Fehler hat, aber zumindest kein Donald Trump ist. Doch am Ende gelang es ihm, sogar über die kleinsten Herausforderungen zu stolpern. Der Umgang der britischen Regierung mit der Krise hat sich als fast genauso leichtsinnig und schlecht vorbereitet erwiesen wie der der USA.
Zwei Nationen, die sich ihres außergewöhnlichen wirtschaftlichen, historischen und politischen Status rühmen, sind in die Knie gezwungen. Dabei ist ihr Fall das Ergebnis einer angeknacksten politischen Kultur und der spezifischen Form des anglo-amerikanischen Kapitalismus.
In beiden Ländern wurden in den vergangenen vier Jahren rücksichtslose politische Entscheidungen gerechtfertigt, indem man die Realität der Rhetorik unterordnete. Die Kosten für den Austritt aus der EU wären „praktisch Null“, wurde da etwa behauptet, angesichts eines auszuhandelnden Freihandelsabkommens, das zu den „einfachsten in der Geschichte der Menschheit“ gehöre. Gleichzeitig wurden imaginäre Feinde erschaffen und Scheingefechte ausgetragen, während beide Länder streitbereit daran gingen, ihre Verbindungen zu anderen Nationen und internationalen Institutionen zu kappen.
„Es gibt kein Weißes Haus mehr“
Der politische Diskurs konzentrierte sich derweil so auf große abstrakte Ideen von Wiedergeburt und Wiederaufbau, dass er wenig konkrete Ergebnisse erforderte. Die britische Tory-Regierung musste nichts weiter zu tun, als den Brexit durchzubringen, ganz gleich, wie schlampig sie diesen Job erledigte. In den USA brauchte Trump unterdessen nur ab und zu eine Mauer an der mexikanischen Grenze zu fordern, ein rassistisches Reiseverbot zu erlassen und verschiedene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Sport zu attackieren, um die Loyalität seiner Anhänger zu erhalten.
So etwas wirkt sich zersetzend aus – nicht nur auf die Qualität der öffentlichen Debatte, sondern auch auf das Kaliber der amtierenden Politiker. Werden die Regierungsgeschäfte zu populistischen Kulissen degradiert, verschwinden Macher unter den Politikern und werden durch Cheerleader ersetzt. So ist man zu der aktuellen Besetzung an vom Scheinwerferlicht geblendeten Tory-Kabinettmitgliedern gekommen. In den USA ist der Begriff „Regierung“ selbst nicht mehr ernszunehmen. Wie es der Journalistikprofessor an der New York University Jay Rosen formulierte: „Es gibt kein Weißes Haus mehr. Nicht in dem Sinne, in dem Journalisten den Begriff immer benutzt haben. Es gibt nur Trump – und Leute, die in dem Gebäude arbeiten.”
Als Covid-19 ihr Staatsgebiet traf, fehlten Großbritannien und den USA nicht nur die Politiker, sondern auch die Institutionen, um effektiv reagieren zu können. Vor der Krise hatte Trump wiederholt versucht, den Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention (CDC) die Gelder zu kürzen. In Großbritannien kam die Pandemie einem Tory-Kabinett ungelegen, das sich in einer Fehde mit seinem eigenen öffentlichen Dienst verstrickt hatte. Die intellektuelle und praktische Infrastruktur zum Umgang mit Fakten war schlicht zerstört.
Aber die Unfähigkeit beider Nationen, adäquat auf die Pandemie zu reagieren, ist auch auf eine lange, nicht an eine spezifische Partei gebundene Geschichte zurückzuführen. Die spezielle Beziehung zwischen den beiden Ländern ist nicht nur durch sprachliche und kulturelle Nähe geprägt, sondern auch durch eine ideologische Partnerschaft, die in der Ära nach dem Zweiten Weltkrieg geschmiedet wurde. Der anglo-amerikanische Kapitalismus wurde sowohl von rechten wie Mitte-links-Parteien verfolgt. Auf geringe Eingriffe der Regierung setzend und angetrieben durch Ausnahmeregelungen hatte er den Rückbau des Staates zur Folge. Keine Ankündigung oder Warnung hätte die Regierungsmaschinerie schnell genug umgestalten können, um Leben zu retten. Ein von Privatisierung, Liberalisierung und der Einschränkung von Arbeitnehmerrechten abhängiges ökonomisches und politisches System ist anfällig für regelmäßige Krisen, auch wenn solche Schocks als Ausrutscher dargestellt werden.
Krisen sind Teil des Systems
Ihre wirtschaftliche und regulatorische Verwandtschaft wurde des Weiteren durch die Anpassung des britischen Finanzsektors an die aggressiven Märkte der USA gestärkt. London holte zur Wall Street auf.
Dazu kam eine nach außen hin moralistische, aber insgeheim zynische, interventionistische Außenpolitik. Sie gab dem Modell einen expansionistischen Ansatz, der beiden Nationen half, im Ausland Macht auszuüben und ihre eigenen finanziellen und politischen Interessen zu schützen. Zwar führten die Kriege in den Morast und die schnell wachsenden Finanzsektoren zu wirtschaftlichen Nahtod-Erfahrungen. Aber nichts von dem löste ein entscheidendes Umdenken oder Reflektion aus. Nach der Finanzkrise von 2008 entschieden zwei Mitte-Links-Staatschefs, die Infrastruktur zu stützen, die ihre Ökonomien an den Rand des Abgrunds gebracht hatten. Sie statteten die Banken mit neuem Kapital aus, belebten die Märkte und wählten stärkere Regulierung anstatt einer grundlegenden Reform.
Der Finanzcrash wurde als ein nicht funktionierender, nicht überwachter Programmfehler betrachtet – anstatt als fixer Bestandteil des Systems. Ebenso wird das Versagen, mit der Pandemie klarzukommen, als unvorhersehbares, von außen vorgegebenes Ereignis dargestellt – anstatt als Ergebnis einer Ideologie, die es dem Staat ermöglicht, nie da gewesene große Ressourcen zusammenzukratzen, wenn es darum geht, Banken, aber eben nicht um Leben, zu retten. Krankenschwestern werden in den USA länger Müllbeutel als persönliche Schutzausrüstung tragen müssen, als eine Pleite-Bank ohne frische Finanzmittel auskommen muss.
Ein derartiges System ist zunehmend prädestiniert für leeren Triumphalismus – sei es über ein erstarktes Amerika oder Großbritanniens wiedergewonnene Macht. Trump und die Tories beriefen sich auf diese Formeln nicht nur aus Verlogenheit oder ideologischen Gründen. Wollen sie den anglo-amerikanischen Kapitalismus nicht radikal verändern, haben sie ihren Wählern nichts anderes zu bieten. Und so müssen sie die wirtschaftliche Misere von der Politik trennen und versuchen, Immigranten und Fremden die Schuld zu geben. Und für das Gefühl der Hilflosigkeit ihrer eigenen Bürger müssen sie andere Länder und internationale Institutionen, wie die EU, die Weltgesundheitsorganisation WHO oder die Nato, verantwortlich machen. Die Prahlerei ist nichts als Fassade. Dahinter verbirgt sich zunehmend der Verfall eines Landes.
Während Leichen sich stapeln, wird Versagen in den USA und Großbritanniens irgendwie zu einem Sieg gesponnen werden. Der Triumphalismus wird weiter zunehmen, so viel ist sicher. Die Frage ist nur, wie viele noch an ihn glauben werden.
Kommentare 7
»Die höchsten Coronavirus-Todeszahlen werden in zwei Ländern verzeichnet, deren Staatschefs mit dem Versprechen an die Regierung kamen, die ihre Länder wieder „groß“ zu machen – die USA und Großbritannien.«
!!! SENSATIONSJOURNALISMUS !!!
Zunächst einmal: Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA | Stand 5/15/2020, 9:32:22 p.m.
USA (328 Mio. Einwohner) 1.432.045 zertifizierte Corona-Fälle, 306.051 Tote = STERBERATE von 6,6 Prozent.
United Kingdom (66,65 Millionen) 238.003 zertifizierte Corona-Fälle, 34.078 Tote = STERBERATE von 14,32 Prozent.
Die Sensationsberichterstattung ist u.a. dadurch gekennzeichnet, dass sie manipulierend die STERBERATEN auslassen. Sie unterstützen zumindest ihre Sensationsberichterstattung für die USA nämlich nicht.
…
Und Sie befinden sich in bester Gesellschaft: Sensationsberichterstattung der Superlative!
Bei Roland Nelles hieß es am 29.04.2020, 05.48 Uhr: Amerika erreicht traurigen Corona-Rekord
Und er agitiert:
»Das heißt, obwohl die USA mit ihren 330 Millionen Einwohnern weniger als fünf Prozent der Weltbevölkerung stellen, stehen sie für ein Drittel aller bekannten Infektionen. Von den 200.000 registrierten Toten weltweit kamen bislang mehr als 57.000 aus den USA.«
Ich habe ihn per Email korrigiert: „Sie sind ja für Ihre einseitig/fanatische Agitation gegen Donald Trump seit 2016 bekannt, werden dafür bezahlt.
Lt. Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA | Stand 28.04.2020, 18 Uhr, liegt die Todesrate in den USA bei 5,7 Prozent, in Frankreich bei 14,05 Prozent, in Italien bei 13,53, in GB bei 13,36 und selbst noch in den Niederlanden bei 11,87 Prozent.“
…
Bei Hubert Wetzel hörte sich das am 1. Mai 2020, 18:08 Uhr, so an: Amerika zerbricht
»Das Coronavirus hat schon mehr Amerikaner getötet, als im gesamten Vietnamkrieg gestorben sind. Der Präsident aber führt Wahlkampf - und will Chaos säen, um zu gewinnen.« – DER VIETNAMKRIEG ALS REFERENZWERT: Welch pathologische Schlussfolgerung!
Sein Kollege von de24.news hat es gerne noch sensationeller:
»Mittlerweile sind mehr Amerikaner an Coronaviren gestorben als im Vietnamkrieg, wobei mehr als eine Million Fälle aufgetreten sind. Bei dem Konflikt von 1955 bis 1975 kamen 58.220 US-Soldaten ums Leben.« – DER VIETNAMKRIEG ALS REFERENZWERT: Welch pathologische Schlussfolgerung! Offensichtlich haben sie voneinander abgeschrieben.
Für diese abenteuerlichen Zahlen orientiert er sich an der Sensationsberichterstattung von Reuters:
»Die Zahl der US-Todesopfer seit dem ersten, am 29. Februar verzeichneten Coronavirus-Tod erreichte am Dienstag 58.233 [28.04.2020, eig. Anm.], mehr als 2.000 mehr als am Vortag. Dies geht aus einer Reuters-Bilanz hervor.«
Ganz anders die Zahlen der Johns Hopkins University (JHU), Baltimore, USA: Mit Stand vom 28.04.2020, 18 Uhr, lag die Zahl der zertifizierten Coronafälle demnach bei 990.135 und die Zahl der Todesfälle bei 56.475, liegt die Todesrate in den USA bei 5,7 Prozent.
…
Roland Nelles und Hubert Wetzel habe ich zu dem mit Emails darauf hingewiesen – und tue es das jetzt auch bei Ihnen:
Ob die hohe Zahl zertifizierter Infizierter in den USA nicht irgendwann sogar ein Vorteil sein könnte, muss sich noch erst herausstellen. Ein Virus ist bekanntlich so lange virulent, bis Bevölkerung eine ausreichende Immunisierung erreicht hat. Bei den Masern z.B. sind das 95 Prozent, eine Zahl, an der sich u.a. auch der Niederländische Ministerpräsident Mark Rutte orientiert.
"einseitig/fanatische Agitation gegen Donald Trump"
Endlich mal jemand, der die unredliche Medien-Propaganda gegen den "demokratisch gewählten" Präsidenten eines völlig zu unrecht kritisierten Landes zur Sprache bringt.
Es ist unredlich, die Zahl der durch Covid 19 Gestorbenen in Ländern mit unterschiedlichen Bevölkerungszahlen zu vergleichen. Erst wenn man die Anzahl der Gestorbenen auf z.B. 1 Millionen Menschen kennt, kann man vergleichen. Insofern gehören die USA und Grossbritannien nicht zu den Spitzenreitern im internationalen Vergleich. Die wahre Anzahl der Infizierten pro 1 Millionen Menschen ist in keinem einzigen Land bekannt, da bis dato noch keine flächendeckenden und vergleichbaren Tests gemacht wurden. Dies müsste die Autorin eigentlich wissen.
In Frankreich lebend, welches pro Kopf sehr viel mehr Tote durch die Pandemie als die USA zu verzeichnen hat, möchte ich trotzdem nicht in den USA leben, weil der hiesige funktionierende Sozialstaat immerhin einen gewissen Schutz vor dem Absturz ins Elend bietet.
Es geht auch dieser Autorin offensichtlich nicht um saubere analytisch/systemische Argumentation, sondern – wie den nahezu gesamten systemdevoten Medienerzeugnissen – um diskreditierende Agitation.
Es ist eben seit 2016 chique, Herrn Trump zu zerlegen und wenn man den Brexit durch Boris Johnson schon nicht verhindern konnte, darf er im Nachhinein zumindest nicht auch noch „erfolgreich“ verlaufen.
Na ja, es gibt auch noch die Jubelperser. Damit kann man den Trump zum Pausenclown adeln.
Immerhin verkündet Trump, dass das Virus von den Chinesen in ihrem Labor "erschaffen" worden sein muss. Und dann muss man die Fortsetzung in diesem Ratespiel selbst erdenken, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Chinesen aber so dumm sind, ihre Erschaffung zuerst in der eigenen Familie zu testen, um sie dann von Drohnen als Virusbömbchen weltweit zu verteilen.
Dass Trump nicht als Verlierer zur Wahl stehen will, lässt ihn auf seine "reale" Überlegung kommen, die Todeszahlen nach anderen Kriterien zu berechnen, um die Zahlen zu schönen.
Narren haben ihre eigenen Wahrheiten. Aber alle haben das Recht kritisiert zu werden.
Die Corona-Realitäten sind nicht die Zahlen, sondern die Menschen. Dabei ist es bemerkenswert, dass die Zahlen der amerikanischen Toten in Vietnam verglichen werden, statt wie sonst üblich die $-Rechnung!
Im Kapitalismus, in dem sich jeder unkritische Mitläufer im Schein seiner warenproduzierenden Realität mit jeder erworbenen oder produzierten Ware sich selbst und das System als unfehlbar wähnt, wird es bei Krisen als Ersatzhandlung statt der Einsicht eine Verlagerung des Scheiterns nach außen geben. Der Zusammenbruch der momentan in den USA, und weltweit, zu sehen ist, und der ja noch nichtmal DER Zusammenbruch [der Zusammenbruchstheorie] ist, sondern nur das klägliche Scheitern aller Gläubigen an der Realität, der kapitalistischen Zwangshandlungen der Vermehrwertung, wird ohne Reflexion und Konsequenzen im Krieg enden als ultima ratio der Irren, die die Schuld bei anderen oder überall suchen, nur nicht im eigenen Handeln des Selbstzweckes der gottgleichen Vermehrwertung.
"wird ohne Reflexion und Konsequenzen im Krieg enden als ultima ratio der Irren, die die Schuld bei anderen oder überall suchen, nur nicht im eigenen Handeln des Selbstzweckes der gottgleichen Vermehrwertung."
Falsch: Krieg ist immer gut für den Dow - Jones, ob es diesmal für den DAX reicht lassen wir mal so hingestellt.
:/