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Porträt Andrei Swjaginzews Epos „Leviathan“ wurde für die Oscars eingereicht. Dabei könnte man den Russen als Regimekritiker bezeichnen
Ausgabe 11/2015
Überleben im korrupten, verkommenen System: Elena Lyadova als Lilya
Überleben im korrupten, verkommenen System: Elena Lyadova als Lilya

Foto: Wild Bunch Germany

Höflich soll er sein, aber zugeknöpft – verständlicherweise. Sein Leviathan ist die schärfste filmische Attacke gegen das derzeitige politische System in Russland. Und doch sagte Andrei Swjaginzew, er habe sich „ganz sicher nicht gegen die Mächtigen richten“ wollen. Zwar erzähle Leviathan davon, wie normale Russen von einer korrupten Bürokratie zermalmt würden. Angeregt sei der Film aber durch einen Fall in den USA und gedacht als universelle Parabel.

Als ich im schnieken Moskauer Büro seines Produzenten eintreffe, bin ich auf weitere Vernebelungen dieser Art gefasst, doch sobald wir reden, ist es, als wäre bei Swjaginzew ein Damm gebrochen. In 90 Minuten pausiert er ein einziges Mal – für den Anruf eines Freunds, dessen Frau krank ist.

Dass die russische Filmbehörde Leviathan für die Oscars eingereicht hat, obwohl der Film so gar nicht der von der Regierung gewünschten patriotischen Agenda entspricht, löste weithin Erstaunen aus. Hat es ihn auch selbst überrascht? Swjaginzew antwortet mit einem Monolog über die Schwierigkeiten, sich heute in Russland eine Karriere aufzubauen. Leise und bedächtig, aber mit unverhohlener Wut. „Wie auf einem Minenfeld, so fühlt es sich an, hier zu leben. Es ist schwer, überhaupt Perspektiven zu entwickeln, im Leben wie im Beruf, wenn man sich nicht den Werten des Systems unterwirft. Diese bescheuerte Gesellschaftsordnung ist der ewige Fluch unseres Landes. Über Konzepte wie Rechtsstaat oder Gleichberechtigung wird kaum geredet. Mir kommt es völlig sinnlos vor, in gleich welcher Situation, auf das Recht zu pochen. Ich bin jetzt 50 und in meinem Leben noch nie wählen gegangen. Weil ich mir sicher bin, dass es nichts nützt.“ Er holt Luft. „Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich war angenehm überrascht.“

In Leviathan spielt Alexej Serebrjakow Nikolai, einen kräftigen Kerl mit zerfurchtem Gesicht, dessen Familie seit je in einem kleinen Haus am Meer lebt. Das Grundstück will sich der örtliche Bürgermeister unter den Nagel reißen, ein feister, spirituosengetränkter Bandit. Er lässt seinen Einfluss bei der Polizei und beim Gericht spielen und erwirkt einen Räumungsbefehl mit lächerlicher Entschädigungszahlung.

Vertikale der Unterordnung

Der Film beginnt damit, dass Nikolais Einspruch gegen den Befehl von einer Richterin abgelehnt wird, die ihr langatmiges Urteil stumpfsinnig herunterrattert – ein kafkaeskes Ritual, das jedem vertraut ist, der schon einmal in einem russischen Gerichtssaal war. Nikolai sucht Hilfe bei einem alten Freund, der in Moskau als Anwalt Karriere gemacht hat. Damit beginnt eine Schlacht von epischen Ausmaßen.

Leviathan ist Swjaginzews vierter Film. Bis er 40 Jahre alt war, wollte er Schauspieler werden. Seine Schulzeit in Nowosibirsk verbrachte er damit, „wie besessen vom Theater zu träumen“. Beim Wehrdienst spielte Swjaginzew in der Theatertruppe der Roten Armee, 1986 kam er nach Moskau. Arbeit war rar in dieser Zeit der Umwälzungen. Jahrelang schlug er sich als Putzmann, Laubkehrer und Schneeräumer durch, in seiner Freizeit verschlang er Bücher und Filme. „Ich sah Al Pacino in Bobby Deerfield und konnte es nicht fassen. In Russland wurde der Film in Schwarzweiß gezeigt. Als ich ihn später in Farbe sah, hatte er eine ganz andere Wirkung. Aber ich sah, wie Pacino spielte, und staunte – ich begriff nicht, wie er das hinkriegte.“

Swjaginzew übernahm kleine Rollen in Werbespots und Seifenopern. Ein Freund verhalf ihm zu seiner ersten Regiearbeit, einem Webefilmchen für ein Möbelhaus. In den frühen Nullerjahren stand Swjaginzew immer noch vor der Kamera, hatte aber auch schon Erfahrung dahinter gesammelt. Zähneknirschend drehte er halbstündige Folgen für eine TV-Krimiserie. 2001 wurde ein Produzent auf ihn aufmerksam und bot ihm an, einen Spielfilm zu machen.

Mit seinem Debüt The Return – Die Rückkehr gewann er 2003 den Goldenen Löwen in Venedig und handelte sich Vergleiche mit Andrei Tarkowski ein. Weniger begeistert aufgenommen wurde sein zweiter Spielfilm, Die Verbannung (2007). Mit Jelena (2011), einem grüblerischen Familiendrama, in dem Reiche wie Arme gleichermaßen unsympathische moralische Entscheidungen treffen, konnte er wieder überzeugen. Der Film zeigt Moskau als seelen- und grenzenlose Dystopie.

Damals ließ sich noch argumentieren, es sei ein Film über allgemein Menschliches, der zufällig in Russland spiele. Soll das wirklich auch für den neuen Film gelten? „Die Ideen, um die der kreist, sind überall relevant“, lächelt der Regisseur. „Aber natürlich ist es ein Film über Russland. Ein sehr russischer Film.“

In der Tat: Von den Gerichtssälen über die Kirchen bis zu den Verkehrspolizisten ist alles in Leviathan unverkennbar russisch. Den letzten Zweifel, ob damit das echte oder ein fantasiertes Russland gemeint ist, räumen Anspielungen auf Pussy Riot und das Putinporträt im Büro des korrupten Bürgermeisters aus. Das Bild hing schon an der Wand, als das Filmteam eintraf; gedreht wurde in einem echten Regierungsgebäude eines nördlichen Provinznests, nichts wurde verändert. „Wir leben in einem Feudalsystem, wo alles in den Händen eines Menschen liegt und alle anderen sich in einer Vertikale der Unterordnung befinden.“ So erklärt Swjaginzew die den Film prägende Machtstruktur des heutigen Russlands: nach oben buckeln, nach unten treten.

Die größte Wut entfesselt Leviathan gegen scheinheilige Moralisierer. Auf die Frage nach dem neuen Gesetz gegen Blasphemie im Kino und Theater, dessentwegen der Film für eine Freigabe drastisch beschnitten werden musste, sagt Swjaginzew: „Das ist eine dumme, idiotische, überhaupt nicht durchdachte Regelung. Wie so viele andere Gesetze. In letzter Zeit verblüfft uns das Parlament immer wieder. Sie nennen sich ‚Kämpfer für die Moral‘, und vielleicht sind sie ja moralisch vollkommen. Aber dann verkennen sie, dass es ihre Aufgabe ist, das Leben der Menschen zu verbessern, und nicht, es sittlicher zu machen.“

An der Kirche lässt Leviathan kein gutes Haar. „Wir erwecken die Seele des russischen Volkes wieder“, salbadert der herrische Bischof im Film, und die Stimme bebt vor selbstgerechtem Zorn, als er eine Liste von Feinden herunterspult, die das Land zersetzen. So klingen die Nachrichtensprecher im kremlkontrollierten Fernsehen.

Die systematisch korrupte Kirche, das verkommene politische System und die vor sich hin dämmernde Gesellschaft, die Leviathan zeigt, sind denkbar weit entfernt von dem Russlandbild, das die Obrigkeit vermitteln möchte. Dabei wurde der Film vom russischen Kulturministerium mitfinanziert; die neuen Regelungen laufen darauf hinaus, dass solche Gelder künftig nur noch an patriotische Filme fließen. „Niemand hat etwas gegen Propagandafilme, die die Fundamente des Staats stärken wollen. Aber man muss sich auch um die anderen kümmern, sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu. Dann wird es den Menschen hier gehen wie in Nordkorea, sie werden zu Geiseln eines Staats, der ihnen einbimst, ihr Weg sei der einzig richtige.“

Swjaginzew schwimmt entschlossen gegen den Strom. Eine Bemerkung von Kulturminister Wladimir Medinski erzürnt ihn besonders: „Medinski sagte: ‚Alle Blumen dürfen wachsen, aber gießen werden wir nur die, die uns gefallen.‘ Nach diesen Worten hätte man ihn feuern müssen. Man darf der Kunst keine Regeln aufzwängen. Alle sollten gleich behandelt werden, auch bei der staatlichen Förderung, ohne die Kunst nicht funktionieren kann.“

Leviathan dramatisiert den Zwiespalt eines einzelnen Mannes, der nicht sicher ist, ob er den Kampf mit dem Monster Staat aufnehmen soll. Was meint der verzweifelt aufbrausende Nichtwähler Andrei Swjaginzew? „Viele Leute sagen, man soll sich an die Theorie der kleinen Aktionen halten, also von der eigenen Position aus tun, was man kann. Meine Position ist die eines Kinoregisseurs. Ich bin nicht politisch aktiv.“

Info

Leviathan Andrei Swjaginzew Russland 2014, 140 Minuten

Zum Autor

Shaun Walker ist Moskaukorrespondent des Guardian. Zuvor war er von der russischen Hauptstadt aus für den Independent tätig

Übersetzung: Michael Ebmeyer

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Shaun Walker | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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