„Sie werden mich töten“

Belarus Passagiere berichten von der Situation an Bord des Ryanair-Fliegers und der Festnahme von Roman Protasewitsch. Der hatte schon vorher das Gefühl, beschattet zu werden
Als der Ryanair-Flieger schließlich in Vilnius landete war Roman Protassewitsch nicht mehr an Bord
Als der Ryanair-Flieger schließlich in Vilnius landete war Roman Protassewitsch nicht mehr an Bord

Foto: Petras Malukas/AFP via Getty Images

Als der Ryanair-Flieger, in dem Roman Protasewitsch saß, zum Landeanflug auf Minsk ansetzte, geriet der 26-jährige belarussische regimekritische Blogger zunehmend außer sich, gab sein Handy und sein Laptop seiner Freundin und versuchte den Flugbegleiter zu überzeugen, das Flugzeug von der Landung abzuhalten.

„Tun Sie das nicht. Man wird mich töten. Ich bin ein politischer Flüchtling“, sagte er laut einem Mitpassagier. „Wir müssen, wir haben keine Wahl“, habe der Flugbegleiter geantwortet.

Kurze Zeit später wurde ein sichtlich zitternder Protasewitsch, der den vergangenen Sommer damit verbracht hatte, Berichterstattung über die Massenproteste gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko zu organisieren, von der Rollbahn weg abgeführt. „Mir droht hier die Todesstrafe“, sagte er. Seine Freundin Sofia Sapega wurde ebenfalls verhaftet.

Der Ryanair-Flug sollte eigentlich von Griechenland direkt nach Litauen gehen, wo der belarussische Blogger im Exil lebt. Kurz bevor er an Bord gegangen war, hatte Protasewitsch Freunden von seinem Verdacht berichtet, dass ihn in Athen ein russischsprechender Mann mit Glatze und Lederkoffer beschattet habe. „Lol, es sieht aus, als würden mich die Sicherheitskräfte am Flughafen verfolgen“, schrieb er einem Freund auf Russisch. „Ich glaube, sie haben sogar versucht, meine Papiere zu fotografieren. Ganz sicher bin ich nicht. Jedenfalls ein ganz schön verdächtiger Scheiß’.“

Im Stile eines Schurkenstaates

Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kaum Anzeichen auf die außergewöhnlichen, historischen Ereignisse, die kurz darauf folgen sollten. In Manier eines Pariastaates erzwangen die belarussischen Behörden eine Änderung der Flugroute: Sie begründeten sie mit einer Bombenwarnung und ließen einen Kampfflieger aufsteigen, um die Maschine zum Flughafen Minsk zu eskortieren. In der belarussischen Hauptstadt gingen vier weitere Passagiere von Bord, was nahelegt, dass Protasewitsch mit seinem Verdacht, dass ihn der lokalen KGB beschattete, richtig lag. „Das hat Lukaschenko großartig hingekriegt“, schrieb Margarita Simonyan, Chefin des russischen staatlich finanzierten Nachrichtensenders RT.

Häufig als Europas letzter Diktator bezeichnet, unterdrückte Lukaschenko im vergangenen Jahr brutal Proteste gegen das Regime. Das führte zu Sanktionen gegen das Land. Nach dem jüngsten Ereignis, das Ryanair-CEO Michael O’Leary als „staatlich-finanzierte Entführung“ bezeichnet hat, haben die EU-Regierungschefs weitere Sanktionen verhängt.

Protasewitsch hatte sich in Griechenland aufgehalten, um über eine Rede der im Exil lebenden belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja beim Internationalen Wirtschaftsforum in Delphi zu berichten. Im Anschluss machte er einige Tage Urlaub, bevor er an Bord des Fliegers zurück nach Vilnius stieg, wo er derzeit lebt. Swetlana Tichanowskaja und ihr Mitarbeiter Franak Viačorka hatten eine Woche zuvor die selbe Route über Weißrussland genommen – ohne Zwischenfall.

Angst und Schrecken beim Landeanflug

Passagiere an Bord des Fluges am Sonntag berichteten davon, wie mit dem Landeanflug Angst und Schrecken bei Protasewitsch wuchsen, erkannte er doch, dass das Flugzeug in dem Land landen würde, aus dem er 2019 aus Angst um sein Leben geflohen war und in dem ihm Terrorismus und Anstiftung zu Massenprotesten vorgeworfen werden.

Die Maschine befand sich näher an Vilnius als an Minsk, als um 12:50 Uhr Ortszeit ein Notsignal aktiviert wurde. Weißrussland behauptet, der Pilot habe entschieden, in Minsk zu landen, aber laut Ryanair kam die Entscheidung von den belarussischen Fluglotsen.

„Als angekündigt wurde, dass das Flugzeug zurück nach Belarus fliegt, sah ich seine Reaktion“, berichtete der griechische Passagier Nikos Petalis, der ein Fast-Food-Geschäft in Litauen führt, Mega TV am gestrigen Montag. „Er fasste sich an den Kopf, als würde ihm gleich etwas Schreckliches geschehen. Er schien Angst zu haben... Man sah ihn an und dachte: ‘Irgendwas ist mit ihm los.’“

„Wenn ein Fenster offen gewesen wäre, wäre er rausgesprungen. Das war jedenfall der Eindruck, den man bekam“, sagte Edvinas Dimsa, eine andere Passagierin, der französischen Nachrichtenagentur AFP.

Während des Landeanflugs bereitete sich der Blogger, der ein Hoodie, schwarze Kappe und Gesichtsmaske trug, offenbar schon auf seine Verhaftung vor. „Er stand auf und griff nach seiner Tasche, gab seinen Computer und sein Handy seiner Freundin, so als wollte er Informationen verstecken“, erzählte ein Passagier, der einige Reihen hinter Protasewitsch saß.

„Wie in einem Horrorfilm“

Die Passagiere ließ man über die Gründe der Flugumleitung in Dunkeln, während belarussische Kampfjäger das Flugzeug auf seinem Weg zur Notlandung flankierten. „Die Fluggesellschaft schickte uns mehrere Nachrichten. Aber seitens des Piloten gab es keine Ansage, warum das Flugzeug die Notlandung macht“, berichtete Passagier Nikos Petalis.

Sobald die Boeing 737-800 in Minsk gelandet war, wurden die Passagiere eine Stunde lang an Bord festgehalten, während sich draußen Grenzpolizei mit Hunden sammelte. Dann wurden für eine Sicherheitsprüfung Spürhunde an Bord gebracht und schließlich die Menschen aus dem Flugzeug in einen Wartesaal eskortiert, in dem sie sich laut Petalis „nicht bewegen durften, nicht einmal aufs Klo gehen“.

Ein anderer Passagier berichtete, die Insassen der Maschine seien Körperkontrollen unterzogen worden. „Ganz nach der alte Tradition der russischen Sicherheitsbehörden aus Sowjetzeiten.“ Er habe seine Schuhe ausziehen müssen und sei „überall“ mit der Hand abgesucht worden. „Es war sehr unangenehm.“

Zuvor untersuchten Sicherheitsbeamte Protasewitsch getrennt von seinen Mitpassagieren, während diese die Szene beobachteten. Dann wurde er ohne große Erklärungen abgeführt. „Es war wir im Film“, erinnert sich Petalis. „Wie in einem Horrorfilm“.

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Geschrieben von

Andrew Roth, Helena Smith | The Guardian

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