Masud Barzani, der Anführer der Kurden im Irak, wollte den Sieg schon verkünden, bevor die Stimmen des Unabhängigkeitsvotums ausgezählt waren. Die Reaktion aus Bagdad kam prompt: Man werde intervenieren. Die Türkei hingegen verlangt von den Kurden, sie sollten „aufgeben oder hungern“. Ankara will tun, was es kann, um die Wirtschaft der Region zu lähmen, inklusive eines Abnahmeembargos für Öl aus den Kurden-Gebieten.
„Wenn Barzani und seine Regionalregierung diesen Fehler nicht so schnell wie möglich rückgängig machen, werden sie mit der Schande in die Geschichte eingehen, die Region in einen ethnischen und sektiererischen Krieg gezogen zu haben“, warnt Präsident Recep Tayyip Erdoğan. „Das Ganze ist vorbei, sobald wir die Ölhähne zudrehen. Dann haben sie keine Einnahmen mehr. Sie haben nichts mehr zu essen, wenn unsere Lastwagen nicht mehr in den Nordirak fahren.“
Auf Erdoğans Kommentare und eine Rede des irakischen Premiers Haider al-Abadi reagiert Barzani mit einem Appell für „Frieden und Dialog“ für die Zeit nach dem Votum. „Wir versichern der internationalen Gemeinschaft, dass wir einen Dialog mit Bagdad führen wollen“, erklärt er. „Drohungen bringen keine Lösung.“
Der bilaterale Handel zwischen der Türkei und der Autonomen Region Kurdistan beläuft sich vom Finanzvolumen her auf rund 8,5 Milliarden Euro im Jahr. Öltrassen sind die Lebensader der Wirtschaft in der um die Existenz ringenden Region, wobei der Hauptteil über Pipelines in die Türkei und von einem Mittelmeerhafen aus weiter geschickt wird. Die Türkei wiederum exportiert Lebensmittel in die Region. Das heißt, eine Einstellung des Handels würde auch ihr wirtschaftlich einen Schlag versetzen.
Als das Referendum näher rückte, war Ankara davon ausgegangen, Barzani spiele nur mit dem Feuer. Um so mehr war man in Bagdad wie Ankara davon überrascht, als das Votum durchgeführt wurde. Aber die engen wirtschaftlichen Beziehungen und das Risiko, dass jede Form der Eskalation aus dem Ruder laufen könnte, hat die Führung in Erbil wohl in der Überzeugung bestärkt, dass die kriegerische Rhetorik in den kommenden Wochen wieder versiegt.
Luftraum gesperrt
Unter wachsendem innenpolitischen Druck geraten, hat Premier al-Abadi angekündigt, er werde keine Verhandlungen führen. Mit welchen konkreten Maßnahmen Bagdad auf eine für die Kurden positive Abstimmung zu reagieren gedenkt, will er nicht sagen. Noch nicht. Iraks Zentralregierung hat die Kurden aufgefordert, bis Ende der Woche die Kontrolle über die Flughäfen Erbil und Sulaimaniyya zu übergeben, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass neben Grenzübergängen zum restlichen Irak auch der Luftraum über dem kurdischen Norden gesperrt werden könnte.
Aus kurdischer Sicht ist die Abstimmung ein historischer Meilenstein in einem jahrhundertealten Streben nach Unabhängigkeit. Politische Autonomie besitzt die Region seit 2003, aber die Kurdenführer haben Bagdad wiederholt vorgeworfen, Abkommen zur Aufteilung von Öl und Öl-Gewinnen nicht einzuhalten. Im Gegenzug warf Bagdad Erbil Verletzungen der nach der Amtsenthebung Saddam Husseins eingeführten Verfassung vor.
Als die Wahlstationen am 25. September schlossen, hatten mehr als 80 Prozent der registrierten Wähler ihre Stimme bei dem Referendum abgegeben, das vielen zu weit geht, weil damit dem Ziel des kurdischen Nordens im Irak, die Sache der Kurden in der gesamten Region voranzubringen, nicht gedient wird.
Shia-Milizen in Stellung
In Kirkuk, einer multi-ethnischen Öl-Stadt rund hundert Kilometer südlich von Erbil, waren die Straßen in den kurdischen Vierteln am Wahltag voller Menschen, viele von ihnen festlich und traditionell gekleidet. „Das hier ist besser als ein islamischer Feiertag“, meinte der 62-jährige Schmied Abdul Kareem Kakarash. „Es ist der beste Tag meines Lebens.“ Die 40jährige Mala Rasul Mamish fügte hinzu: „Ich hoffe, dass der Westen dies als einen historischen Tag wahrnimmt und nicht nur als politisches Projekt einer Partei. Es ist viel mehr als das. So viel von unserem Blut wurde vergossen, weil wir Kurden sind. Die irakische Regierung hat uns Dinge angetan, die nicht einmal Ungläubige tun würden.“
Kirkuk ist seit Jahrhunderten zwischen Kurden, Arabern und Türken umkämpft. Für die nächsten Monate zeichnet sich hier ein Krisenherd ab. Nur wenige Kilometer südlich der Stadt haben Teheran und Bagdad ergebene Shia-Milizen einen Stützpunkt.
„Sie sind sehr weit entfernt“, erklärte ein Soldat der kurdischen Peschmerga-Streitkräfte am letzten Straßenkontrollpunkt in Kirkuk Richtung Süden. „Wir werden sie nicht hier herein lassen.“ Am Montag seien kurz nach Mittag in der Stadt Tuz Churmatu bei einem Zusammenstoß mit Shia-Milizen ein Fahrer der Peschmerga durch Schüsse getötet und ein Soldat verwundet worden, berichtete Major Kamal Abdullah, Chef der Peschmerga in Kirkuk.
In der Stadt sagt der 51-jährige Hasiba Abdullah, der ein Wahllokal in einem der kurdischen Viertel beaufsichtigt hat: „Für alle hier ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Wir wollen die kurdische Flagge über allen unseren Städten und Dörfern wehen sehen. Alle werden dazugehören. Wir sind bereit, allen Streit beiseite zu legen und unseren Platz in der internationalen Gemeinschaft einzunehmen. Wir wollen unsere Fahne bei den Vereinten Nationen sehen.“
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