Im Westen Londons waren die Straßen dunkel und leer, als Analiza Guevarra im Februar 2019 auf einen großen weißen Wohnblock zulief. Bereits um kurz vor fünf stand sie an der Ecke, möglichst weit weg von den Straßenlaternen. „Ich bin da“, tippte sie in ihr Handy. Sekunden später die Antwort: „Ich komme, mit einer grünen Tasche. Bitte warten Sie auf mich.“ Kurz darauf trat eine Frau mit einer Reisetasche in der Hand aus einem der Gebäude. Guevarra winkte ihr. Die Frau keuchte, schlitterte die eisige Straße entlang, Guevarra packte sie an der Hand, forderte sie auf zu rennen, zum nächsten U-Bahnhof. „Sie blickte ständig zurück, als würde sie verfolgt“, erzählt Guevarra. „Aber i
Sklavin mitten in London
Armut Analiza Guevarra landete als Haushaltshilfe in England – heute rettet sie andere Frauen aus dieser brutalen Ausbeutung
r ich sagte zu ihr: ,Jetzt sind Sie in Sicherheit.‘“Die Frau hieß Gloria. Als philippinische Haushaltshilfe war sie von einer reichen Familie aus Katar nach London gebracht, ausgebeutet und misshandelt worden. Der Filipino Domestic Workers Association (FDWA) waren ihre verzweifelten Hilferufe auf einer Facebook-Pinnwand aufgefallen. Die kleine Selbsthilfeorganisation hat bereits Hunderte Frauen aus der Sklaverei gerettet, die hinter den verschlossenen Türen von Londons exklusivsten Vierteln vor sich geht. Arbeit in privaten Haushalten ist eine der gängigsten Formen moderner Sklaverei in Großbritannien. Betroffen sind Frauen aus Ländern wie den Philippinen und Indonesien. „Wo wir hinkommen, sind die Straßen voller teurer Autos und die Häuser kosten Millionen“, sagt Guevarra. „Aber drinnen werden Frauen wie Sklavinnen behandelt, und niemand weiß davon.“Guevarra eine kleine, zierliche Frau mit sanfter Stimme, ist eine der aktivsten Mitarbeiterinnen der FDWA. Sie verbringt ihre Tage damit, Online-Nachrichten von Frauen zu durchforsten, die ihren Arbeitgebern entkommen wollen. Glorias Rettung war die erste Aktion, die sie alleine durchgeführt hat. „Ich dachte, ich sollte vielleicht Angst haben, weil so etwas manchmal schiefgeht“, sagt sie lächelnd. „Aber ich war früher in der gleichen Lage. Ich wusste, dass ich die Einzige bin, die ihr hilft.“Schulbücher in der FischtüteDie FDWA arbeitet von einer Kirche aus, in die viele philippinische Haushaltshilfen zum Gottesdienst kommen. Als sie dort ein Foto ihrer vier Kinder auf den Philippinen hervorholt, erhellt ein wunderschönes Lächeln Guevarras Gesicht. Die Traurigkeit, die ihr leidgeplagtes Leben hinterlassen hat, ist auf den ersten Blick unsichtbar.Mit ihrem Bruder und ihrer Schwester wuchs sie in einer kleinen Stadt im Süden der Philippinen auf. „Alle um uns herum waren arm, aber wir waren noch ärmer.“ Ihre Mutter wollte, dass Guevarra die Schule mit einem Abschluss verlässt. Aber als sie fünf Jahre alt war, verließ die Mutter die Familie. Wie sie sich am Kleid der Mutter festklammerte, als die aus der Tür ging, weiß sie noch wie heute, es ist diese klare Erinnerung an das „Gefühl, zu wissen, dass wir verlassen werden“. Die folgenden Jahre waren schwer für Guevarra und ihre Geschwister. „Es ging nur ums Überleben; jeden Tag aufzuwachen und zu denken: ,Du musst irgendwie durch den Tag kommen.‘“Dann lernte sie ihren Mann kennen: „Er war nicht perfekt, aber ich hatte jemanden, dem ich vertrauen konnte“, erzählt Guevarra. „Er gab mir zum ersten Mal im Leben das Gefühl, nicht ganz allein zu sein.“ Beide waren erst 18, aber ihre Familien drängten zur Heirat. Für Gedanken, wie sie über die Runden kommen würden, war keine Zeit. „Mit 25 hatte ich vier Kinder. Wir hatten beide mehrere Jobs, aber das Geld reichte nie.“ Die Erinnerung an die Armut ihrer eigenen Kindheit verfolgte sie: „Ich weiß noch, wie ich eine Plastiktüte auswusch, in der meine Mutter Fisch vom Markt geholt hatte, weil ich nichts anderes hatte, um meine Bücher in die Schule zu tragen. Ich schämte mich sehr, hatte Angst, dass es meinen Kindern genauso gehen würde.“ Wie für viele Frauen auf den Philippinen war der Gang ins Ausland weniger eine freie Entscheidung als vielmehr ein Zwang. „Auf den Philippinen gibt es nichts. Alle Frauen in meiner Nachbarschaft müssen irgendwann weggehen.“ Die Mehrheit der heute mindestens 53 Millionen Hausangestellten weltweit sind Frauen wie Guevarra: Sie migrieren aus armen in reichere Länder und arbeiten in privaten Haushalten. Auf den Philippinen leben fast 17 Prozent der Menschen in Armut. Überweisungen aus dem Ausland, 33,2 Milliarden US-Dollar, standen 2020 für knapp zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes. Laut UN gehören Haushaltsangestellte zu den gefährdetsten Gruppen von Arbeitskräften, wenn es um Missbrauch, Menschenhandel und Ausbeutung geht.„Wir hatten alle die Geschichten über schreckliche Dinge gehört, die passieren, und ich wusste, dass ich ein Risiko eingehe“, sagt Guevarra. „Aber ich musste gehen – für meine Kinder. Ich plante, für drei Jahre wegzubleiben und genug Geld zu verdienen, um sie durch die Schule zu bringen und unsere Schulden abzubezahlen.“ Über eine Vermittlungsagentur bekam sie einen Job in Katar. Ihre eigenen Kinder – damals zwölf, zehn, acht und sechs Jahre alt – zurückzulassen, war traumatisierend. Am Tag der Abreise wartete sie, bis die Kinder in der Schule waren. „Ich musste immerzu daran denken, wie ich mich an meine Mutter geklammert hatte“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Daher habe ich mich nicht einmal verabschiedet.“Im November 2015 kam sie nach einem langen, anstrengenden Flug in Doha an. „Ich dachte, sie würden mir mein Zimmer zeigen oder etwas zu essen geben. Aber meine neue Arbeitgeberin sagte: ,Stell deine Tasche hin und fang an zu arbeiten!‘ Es war mitten in der Nacht, aber sie ließ mich sofort die Böden sauber machen.“Die Kinder spuckten sie anVier Hausangestellte arbeiteten in dem großen Haus, es gab acht Kinder, darunter einjährige Zwillinge und ein Dreijähriges. Damals galt noch das – mittlerweile reformierte – Kafala-System: Für ausländische Arbeitskräfte war es illegal, ohne Genehmigung ihres Arbeitgebers den Job zu wechseln oder das Land zu verlassen. Die Familie erwartete, dass die Haushaltshilfen 14 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiteten. Die Hausherrin schrie sie an, weil sei angeblich nicht genug arbeiteten, forderte die Kinder auf, sie zu beleidigen, anzuspucken oder an den Haaren zu ziehen. „Als wären wir keine Menschen.“Im Juli 2017 teilte die Familie Guevarra mit, sie werde wegen der medizinischen Versorgung von einem der Kinder nach Großbritannien reisen – und Guevarra werde mitkommen. „Ich wollte nicht nach Großbritannien, aber ich hatte keine Wahl.“ Die Familie beantragte für sie ein 600 Dollar teures Übersee-Hausangestellten-Visum, das ausländischen Familien erlaubt, für bis zu sechs Monate ihre Hausangestellten mitzubringen – Dienstmädchen, Chauffeure, Kinderfrauen. Vor der Erteilung sollen die Angestellten ein Gespräch in einem britischen Konsulat führen und ein weiteres nach Ankunft in Großbritannein mit der Einwanderungsbehörde. Beides gab es für Guevarra nicht: „In der britischen Botschaft in Doha war mein Arbeitgeber dabei und sie gaben ihm einfach das Visum. In Großbritannien legte er nur meinen Pass vor. Niemand sagte mir, dass ich ein Recht auf einen Mindestlohn und andere Arbeitnehmerrechte habe oder im Fall von Missbrauch Hilfe bekommen kann.“Ihr Leben in London war die Hölle. Als einzige Haushaltshilfe musste sie jeden Tag von fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachts arbeiten, schlief nur drei, vier Stunden – auf dem Boden des Kinderzimmers, wo die Kinder sie ständig weckten. Sie bekam nicht genug zu essen, musste stehlen. Ihr wurde nicht der volle Lohn bezahlt, für 18 bis 20 Stunden, sieben Tage die Woche über zwei Monate hinweg bekam sie 800 Euro. Das Schlimmste aber sei die Isolation gewesen. Sie durfte die Wohnung nicht allein verlassen und mit niemandem sprechen, vor allem nicht mit anderen Frauen von den Philippinen. Ihre Arbeitgeberin ließ all ihre Wut an Guevarra aus. „Die Arbeit – acht Kinder, der ganze Haushalt – war nicht allein zu schaffen.“ Aus verbalen wurden körperliche Übergriffe, sie schlug ihr ins Gesicht, einmal warf sie sie auf den Boden und trat ihr mehrmals in den Bauch. „Das war der Moment, in dem ich wusste, ich muss gehen“, sagt Guevarra, die schon als Kind oft genug geschlagen worden war, um zu wissen, dass es nur schlimmer werden würde. „Ich hatte Angst, dass sie mich eines Tages umbringt.“Die Familie war gerade umgezogen, aber ein libanesisches Paar aus dem alten Wohnblock hatte ihre Not bemerkt und Hilfe angeboten. An einem sehr frühen Morgen im September 2017 schlich sie sich mit einer Tasche aus der Wohnung und schaffte es dorthin. Das Paar gab ihr Arbeit. Schnell zeigte sich: Ihre neuen Arbeitgeber misshandelten sie zwar nicht, erwarteten aber, dass sie unablässig und für weniger Geld arbeitete als abgesprochen; ihre Bewegungsfreiheit schränkten auch sie ein. Immerhin durfte sie zur Kirche gehen – so fand sie zur FDWA. „Ich hatte im Internet recherchiert, wo sich Philippinen zum Gottesdienst treffen. Sobald ich durch die Tür trat, hieß es: ,Jetzt bist du in guten Händen. Du bist keine Sklavin mehr.‘ Ich heulte drauflos. Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren fühlte ich mich wieder frei.“Die FDWA vermittelte eine Unterkunft und begleitete sie zur Polizei. Mittlerweile ist sie als Opfer moderner Sklaverei anerkannt, aber zugleich im Dschungel des Aufenthaltsrechts gefangen. Sie versucht, ein Bleiberecht zu bekommen, damit sie arbeiten und die 4.700 Euro verdienen kann, die ihre Familie auf den Philippinen noch an Schulden hat. „Wenn ich jetzt zurückkehre, bin ich gezwungen, wieder in die Golfregion zu gehen. Ich habe Angst, dass mir das Gleiche wieder passiert.“ Dass sie ihr eigenes Schicksal nicht in der Hand hat, motiviert sie umso mehr, sich für andere einzusetzen. „Die FDWA hat mein Leben gerettet. Jetzt möchte ich andere retten.“Jährlich befreit die kleine Gruppe von Ehrenamtlichen laut Guevarra mehr als hundert Haushaltsangestellte in London aus ihrer misslichen Lage. „Man sieht schreckliche Dinge. Eine Frau hatte ein ganzes Jahr lang das Haus nicht verlassen“, erzählt sie. „Eine bekam Covid-19 und wurde einfach in ein Zimmer gesteckt und dort gelassen.“ Laut FDWA haben Ausbeutung und Misshandlung während der Pandemie zugenommen: Kranke wurden auf der Straße oder vor Krankenhäusern sich selbst überlassen; Gewalt und Lohndumping wurden extremer. Vor allem erschwerte die Pandemie es, Betroffene zu erreichen.Guevarra und ihre Mitstreiterinnen suchen gezielt an Orten, an denen viele Frauen mit den von ihnen betreuten Kindern anzutreffen sind, etwa im Park. „Wenn man es selbst durchgemacht hat, ist es relativ einfach zu erkennen, welche Frauen Hilfe brauchen“, sagt Guevarra. Dann stecken die Helferinnen Zettel mit der Telefonnummer ihrer Organisation zu oder setzen sich neben die Kinderfrauen auf die Parkbank und flüstern ihnen zu, dass sie nicht allein sind. Guevarra übernimmt zudem eine der schwierigsten Aufgaben der kleinen Organisation, sie kümmert sich um Krankheitsfälle. „Ich saß bei zwei Frauen am Bett, die an Krebs gestorben sind; weit weg von ihren Familien“, schildert sie. „Sie sind mit so viel Hoffnung weggegangen, und jetzt kehren sie als Asche zu ihren Kindern zurück. Ich habe ihre Hand gehalten, damit sie nicht allein sterben.“Ihre eigenen Kinder hat Guevarra seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Wenn sie nach Hause zurückkehrt, wird sie deren Kindheit verpasst haben. Was sie dennoch weitermachen lässt? „Unsere Arbeitgeber meinten, sie könnten uns wie Tiere behandeln. Durch die FDWA fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Dieses Gefühl möchte ich auch anderen geben.“Placeholder infobox-1