Smalltown Man

Porträt Nick Cave lebt heute im sehr, sehr beschaulichen Brighton. Seine Songs sind zum Glück nicht so
Smalltown Man

Foto: Anne-Christine Poujoulat / AFP / Getty

Donnerstagvormittag in einem kleinen Restaurant in Brighton. Nick Cave trägt erwartungsgemäß einen stilvollen Anzug, seine Gesichtsfarbe ist dagegen unerwartet frisch. Cave war bekennender Kosmopolit, hat viele Jahre abwechselnd in Berlin, London und São Paulo gelebt. Seit zehn Jahren ist er nun der bekannteste Einwohner des britischen Küstenkurorts. Rockkönig Cave, wie ihn die Lokalpresse beharrlich nennt, fällt hier auf. Mir ist er einmal in einem Baumarkt begegnet, selbst da trug er Anzug und Hemd. Als ihm ein Journalist einmal nahelegte, sich am Wochenende in Jeans und Turnschuhen locker zu machen, war das das Ende des Gesprächs.

Brighton hat auf dem neuen Album Push The Sky Away Spuren hinterlassen. Das Coverfoto ist in Caves Schlafzimmer entstanden. Seine Frau, das Model Susie Bick, ist nackt darauf zu sehen. Ist nicht seine Idee gewesen, betont Cave. Vielmehr sei er zufällig hereingeplatzt, als seine Frau für eine französische Zeitschrift fotografiert wurde: „Ich hatte wesentlich mehr Skrupel das Bild zu veröffentlichen als sie.“ Selbst wäre er ja nie auf die Idee gekommen, nach Brighton zu ziehen. Auch das sei die Idee seiner Frau gewesen. Frühere Aufenthalte in der Stadt habe er in extrem schlechter Erinnerung. „Nach Brighton bin ich nur zum Entzug gegangen“, sagt er trocken. „Alles, was ich mit dem Ort verband, war drei Tage lang in einem Hotelzimmer alles auszuschwitzen.“

Brighton ist aber auch in die Songtexte eingeflossen. Die Jubilee Street ist eine biedere Einkaufstraße mit Friseurkettenfiliale, Bibliothek und Tesco-Supermarkt, doch irgendwie hat sie im gleichnamigen Song dann doch ihren Platz gefunden neben den klassischen Cave-Themen: Gewalt, Sex, Katastrophen.

Was das Weltende betrifft, kann Cave noch immer keiner das Wasser reichen. Er sieht Anzeichen an den unmöglichsten Orten. „Das Schreiben von SMS ist doch in gewisser Weise apokalyptisch“, sinniert er, als ich ihn auf den Titel der ersten Single „We No Who U R“ anspreche. „Es ist ein Akt der Reduktion. Vielleicht wird der letzte Text, der jemals auf dieser Erde verfasst wird, eine SMS mit dem Wort ‚bye‘ sein.“

Cave wehrt sich allerdings vehement gegen das Klischee vom lasterhaften Bohemien, aus dem ein glücklicher Familienvater geworden ist. Der Nick Cave von damals ist in dieser Erzählung ein Junkie, der gegenüber Interviewpartnern und Publikum zu Gewaltausbrüchen neigte und innerhalb von zehn Tagen zwei Kinder auf zwei unterschiedlichen Kontinenten zeugte. Der geläuterte Nick Cave von heute wäre dann der Elder Statesman, der Alkohol, Drogen und Zigaretten abgeschworen hat. Ein charmanter und geistreicher Interviewpartner, Universalgelehrter und Literat: Autor von neunzehn Alben, zwei Romanen, einem Vorwort für das Markusevangelium und zweier Filme: The Proposition (2005) und Lawless (2012).

Bisweilen hat allerdings auch er Mühe, die Gegenwart nicht schablonenhaft mit der Vergangenheit zu vergleichen. Push The Sky Away wurde in einem Haus in Frankreich aufgenommen. Es gibt ein Video von den Aufnahmen, schön sieht es dort aus. Dass die Band sich auf dieses Kommunen-Ding eingelassen hat, erstaunt ihn immer noch: „Ich hätte nicht gedacht, dass sich jemand in unserem Alter, mit unserer Sozialisation, freiwillig drei Wochen lang im Kollektiv an einem Ort verschanzt, den keiner verlassen kann. Tagsüber waren wir im Erdgeschoss, um aufzunehmen. Wenn wir am Abend fertig waren, sind wir die Treppe hoch und haben uns schlafen gelegt. Am anderen Morgen ging es wieder die Treppe runter und ohne Umwege zurück an die Aufnahmen. Das war heftig. Wie eine verdammte Entzugskur. Ein fröhlicher Entzug, falls es so etwas gibt.“ Er runzelt die Stirn.

„Vergessen Sie den fröhlichen Entzug, ich sehe schon die Überschrift vor mir. Es war einfach nur eine intensive Erfahrung.“ Hat er keine Erfahrung mit dieser Lebensform? Er hebt ungläubig eine Augenbraue: „Wollen Sie mich verarschen?“ Dann muss er lachen: „Früher gab es definitiv Zeiten, in denen ich nicht in der Lage war, das Studio zu verlassen. Mein damaliger Produzent Tony Cohen ist einmal verschwunden. Wir dachten, er wäre fortgegangen und hätte sich einen Schuss oder eine Überdosis verpasst. Er kam einfach nicht wieder. Und dann kletterte er nach zwei Tagen aus dem Belüftungsschacht. Er war hineingekrochen und bewusstlos geworden. Er krabbelte also aus dieser Röhre und fragte: ‚Wo waren wir stehen geblieben?‘“

Miley Cyrus auf der Luma

Die Situation im Studio habe schon den „umherwandernden, atmosphärischen Sound“ von Push The Sky Away inspiriert. Darin unterscheidet sich das Album sowohl vom aufwühlenden Garage-Rock des Vorgängers Dig Lazarus Dig!!! als auch vom intensiven Lärm von Caves Nebenprojekt Grinderman. Es war ihm wichtig, „sich von der gitarrenlastigen Musik und dem klassischen Nick-Cave-Balladen-Stil abzuwenden, um etwas mehr Luft und Licht hereinzulassen.“

Die Deluxe-Ausgabe des Albums enthält eine Kopie seines Notizbuchs. Cave holt das Original hervor. „Seitenweise absolute Scheiße“, seufzt er und blättert: „Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße, scheiße. Und hier und da kristallisiert sich dann der erste Funke einer Idee heraus.“

Die Notizen geben auch einen Einblick in die Entstehung besonders komplexer Songs. „Higgs Boson Blues“ etwa ist eine Phantasmagorie apokalpytischer Bilder, neben der Entdeckung des subatomaren Teilchens im Large Hadron Collider treten auch Robert Johnson, die Ermordung von Martin Luther King und Miley Cyrus auf. Das Disney-Sternchen treibt am Ende des Songs in einem Pool – offensichtlich ist sie das jüngste Opfer in einer ganzen Reihe von Frauen, die in Caves Liedern ein böses Ende nehmen. „Nun, ich wüsste nicht, dass sie mit dem Gesicht nach unten treibt“, sagt er stirnrunzelnd. „Vielleicht liegt sie ja auf einer Luftmatratze. Was noch niederschmetternder wäre, wenn man bedenkt, wie alles um sie herum auseinanderbricht. Ich habe nichts gegen Miley Cyrus. Dazu kam es nur, weil ich mit meinen Kindern bei Madame Tussauds war, wo sie ihre Wachsfigur umarmten. Im nächsten Raum stand Elizabeth Taylor als Cleopatra, und meine Kinder betatschten Miley Cyrus. Als ich zu ihnen sagte: Hey, hier kommt Elizabeth Taylor, fragten sie nur: ‚Wer?‘ Das hat einen Eindruck bei mir hinterlassen, und deshalb treibt sie jetzt im Pool.“

Über Drehbücher hat Nick Cave einmal gesagt, sie seien das bessere Medium für Gewaltdarstellungen. Heute ist er sich da nicht mehr so sicher. Er ist nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch Drehbücher schreiben will. Einerseits habe er „gute Freunde“ in Hollywood, und die Verfilmung seines Romans Der Tod des Bunny Munro soll nach wie vor „im Gespräch“ sein. Andererseits sei Drehbuchschreiben für ihn ein Knochenjob.

„Klar kann ich das machen!“

Als Außenstehender kann man Nick Cave nur beneiden: Seine Kreativität scheint unerschöpflich, die Hochachtung der Kritiker ist ihm gewiss. Und doch, sagt er, jage ihm die Aussicht auf die Bühne zu gehen auch nach 30 Jahren Konzerterfahrung immer noch eine „verfluchte Angst“ ein. Mit jedem neuen Album kehre die Angst zurück, er könne nun bloßgestellt werden, die Leute könnten nun merken, er sei nie besonders gut gewesen und fehl am Platz.

Ein Teil von ihm würde sich gerne in den Ruhestand begeben. „Das wäre doch der ultimative Akt künstlerischer Integrität. Ich wünschte, ich könnte in Rente gehen und einfach nur glücklich sein: Mit meinem Leben, den Menschen, die ich liebe, und dem Nichtstun. Aber noch habe ich nicht das Gefühl, auf der Zielgeraden angekommen zu sein. Was vermutlich jeder von sich sagt, der immer weitermacht, während alle anderen längst denken: Ach, würde er nur aufhören.“

Noch ist Nick Caves Output jedenfalls uferloser denn je. Seit seinem 50. Geburtstag hat er vier Alben aufgenommen (zwei mit den Bad Seeds, zwei mit Grinderman), sieben Film-Soundtracks komponiert und eingespielt, einen Roman und einen Lyrikband veröffentlicht sowie ein Drehbuch geschrieben. „Ich lasse mich zu leicht mitreißen. Wenn mich jemand fragt, ob ich etwas machen will, antworte ich: Oh ja! Das kann ich machen. Klar kann ich das machen! Sicher!‘ Und eine Woche später denke ich: Jetzt hab ich den Mist an der Backe! Das ist für mich ein Problem und für die Leute, mit denen ich arbeite, auch. Ich sage Dinge zu, die ich nicht zusagen sollte.“

Er grinst. „Meine Karriere als Drehbuchautor ist dank diesem Interview vermutlich vorbei. Wahrscheinlich hab ich jetzt jede Menge Zeit. Gibt es irgendetwas zu tun? Ich würde auch Theater machen. Standup.“

Push the Sky Away Nick Cave & The Bad Seeds Bad Seed Ltd. (Rough Trade)

Alexis Petridis ist Musikkritiker des Guardian

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 8/13 vom 21.02.20013

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Übersetzung: Holger Hutt
Geschrieben von

Alexis Petridis | The Guardian

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